Karim und Lipaire saßen auf der kniehohen Brüstung der Brücke, die über den Wassergraben vor dem bewachten Hauptportal von Port Grimaud führte. Es war kurz nach Mittag, und die Sonne hatte die Steine angenehm aufgeheizt. Zuvor waren sie beim einzigen Bäcker des Ortes gewesen, der in einer winzigen Backstube fantastisches Brot und köstliche Kuchen machte, und hatten sich altbackenes Baguette geholt, das sie nun ins Wasser warfen. An dieser Stelle standen immer die größten Meeräschen und Doraden und warteten auf die Snackreste oder zur Hälfte gegessene Eiswaffeln.
Immer, wenn Karim und Guillaume etwas wirklich Ernstes zu besprechen hatten, kamen sie hierher. Heute hatten sie sich nach langer Zeit wieder einmal an diesem Ort verabredet, denn Karim, den Lipaire immer noch als eine Art Ziehsohn betrachtete, hatte am Telefon außergewöhnlich niedergeschlagen gewirkt.
Hinter ihnen wurde das Portal gerade mit Girlanden und Vicomte-Wappen für den Tag des feierlichen Festakts geschmückt, außerdem fuhren ständig Transporter mit Lautsprecherboxen, Bühnenelementen, Stühlen und Tischen für den Marktplatz vorbei.
Zwei Tage waren vergangen seit ihrem gnadenlos missglückten Einbruch ins Musée du Patrimoine in Grimaud und dem anschießenden »Verhör« durch Museumsleiter und Bürgermeister.
Karim warf energisch ein großes Stück Baguette in den Kanal, nicht ohne jedoch vorher noch beherzt davon abzubeißen. Dieses Weißbrot war sogar noch eine Wucht, wenn es ein oder zwei Tage alt war. »Werde ich also doch bei Paul anfangen müssen. Bei Gluthitze im Dreck wühlen und Unkraut jäten, ein Albtraum. Aber besser als arbeitslos. Von irgendwas müssen maman und ich schließlich leben.«
Diese Aussage versetzte Guillaume einen Stich ins Herz. Der Junge sorgte schon seit Jahren hingebungsvoll für seine Mutter, ohne je darüber zu klagen. Lipaires Kinder hingegen hatten den Kontakt zu ihm schon vor Jahren abgebrochen.
»Von Jacky habe ich auch nichts mehr gehört, seit ihr Vater ihr den Umgang mit mir verboten hat.«
»Mit uns allen, Karim.«
»Aber für euch ist es nicht so schlimm.«
»Auch wieder wahr.«
»Was meinst du denn, wie es bei dir weitergeht, Guillaume?«
Lipaire stieß hörbar die Luft aus. »Mal sehen, wie lange ich mit meinen Vermietungen und den paar letzten Aufträgen als Hausverwalter noch über die Runden komme.«
Karim nickte bedrückt.
»Wenn alle Stricke reißen, muss ich wohl zurück nach Deutschland, so hart das für mich auch werden wird.«
Karim riss die Augen auf. »Nach … Deutschland? Ich meine, spinnst du? Was wird dann aus mir, hm?«
Es rührte Guillaume, dass dem Jungen so viel an ihm lag. Er legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter und sagte leise: »Du hast dein Leben noch vor dir, Karim. Du bist jung, für dich gibt es so viele Möglichkeiten. Du musst sie nur nutzen. Ich hab dir beigebracht, was ich konnte. Aber ich …« Er verstummte, um das Unaussprechliche nicht auch noch in Worte fassen zu müssen.
»Du?«
»Na ja, vielleicht suche ich mir irgendwo ein betreutes Wohnen, die Damen dort freuen sich bestimmt über einen Zuwachs meines Kalibers.«
»Dein Zuhause ist doch hier, Guillaume!«
Lipaire seufzte.
Karim blickte ihn aus traurigen Augen an. »Wir haben es vielleicht auch nicht anders verdient.«
»Wahrscheinlich nicht. Weil wir einfach unverbesserlich blöde sind.« Lipaire schüttelte über seine eigene Dummheit den Kopf, als er auf einmal etwas Kaltes, Feuchtes an seiner Wade spürte. Er schaute nach unten und entdeckte Lizzys inzwischen ziemlich gescheckt wirkenden Pudel, der seine Schnauze an seinem Bein rieb. Dahinter stand, wie immer in schrillen Glitzerklamotten, Louis’ Frauchen.
»Na, Lizzy, geht’s gut?«
Die alte Dame zuckte die Achseln. »Besser als euch, wie’s aussieht.«
»Könnte kaum deprimierender sein.«
Lizzy schüttelte den Kopf. »Jetzt hört aber mal auf! Davon geht doch die Welt nicht unter.«
»Die Welt, die wir kennen und lieben, schon«, gab Lipaire zurück.
»Papperlapapp. Ich hab schon ganz andere Sachen erlebt. Das Leben geht weiter! Und meistens besser, als man denkt.«
»Wie denn? Wir stehen da wie begossene Pudel.«
Wie aufs Stichwort begann der Hund zu bellen.
»Sucht euch doch zwei nette, reiche Frauen.«
Die beiden Männer ließen die Köpfe hängen. »Wir sind einfach zu nichts zu gebrauchen«, murmelte Karim, während er dem Hund den Hals kraulte.
»Das ist mir zu traurig, hier. Da geh ich lieber, sonst brauch ich noch Antidepressiva …« Lizzy wurde vom Klingeln der Handys unterbrochen.
Mit gerunzelter Stirn blickten sie sich an.
»Moment, wenn wir alle drei gleichzeitig eine Nachricht bekommen, heißt das doch …«, begann Karim, und Guillaume vervollständigte: »… dass sich das Phantom meldet!«
Karim wollte das Telefon herausholen, doch Guillaume hielt seine Hand fest. »Das Phantom hat uns die letzten Male auch nichts gebracht.«
Der junge Mann blickte ihn ernst an. »Du hast recht.« Damit zog er seine Hand zurück.
»Hattet ihr nicht mal ein Motto, ihr, die Unverbesserlichen? Einer für alle und alle für einen?« , begann Lizzy, von ihrem Display abzulesen.
»Aber wir wollten doch nicht …«, begann Karim, aber die alte Dame ließ ihn nicht ausreden: »Ich bin eben neugierig. Ihr doch auch, oder?«
Sie grinsten und zogen nun auch ihre Mobiltelefone heraus.
Wo sind euer Optimismus und euer Kampfgeist geblieben? Ein Freund , ging die Nachricht weiter.
Guillaume schnalzte mit der Zunge. »Der hat leicht reden.«
»Man könnte fast meinen, er sitzt neben uns, so gut kann er unsere Gedanken erraten«, sagte Karim und blickte sich um.
»Oder sie!«, hörten sie da eine vertraute Stimme rufen. Delphine lief mit großen Schritten durchs Portal auf sie zu. »Was sagt man jetzt dazu?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und hielt ihr Telefon hoch.
Lizzy winkte ab. »Bloß nicht schon wieder irgendwelche Rätsel. Die kann ich schließlich auch noch machen, wenn ich in zehn, fünfzehn Jahren mal ins Altersheim ziehe.«
Da piepsten die Handys erneut.
Seid ihr nicht selbst schuld an der Situation? Und jetzt bedauert ihr euch. Wollt weglaufen wie Kinder, die im Supermarkt ein Glas Cornichons hinuntergeworfen haben? Ich hätte mir mehr von euch erwartet. Seid ihr nur Tagediebe, die den ganzen Tag auf der Brücke sitzen und Zeit vergeuden? Ein Denkmal wird man euch so nicht errichten, schade.
Lipaire zog die Brauen hoch. Die SMS hatte einen völlig anderen Ton als die bisherigen.
»Na toll, jetzt können wir uns auch noch beschimpfen lassen«, brummte Delphine.
Vom Parkplatz aus kam Paul mit ein paar Gartenutensilien angelaufen, vor dem Wärterhäuschen fuhr ein heller Motorroller vor.
Karim sprang auf. »Jacky!«
Sie hatten sich gerade vollzählig auf der Brücke versammelt, als sich das Phantom mit einer weiteren Botschaft an sie wandte: »Jacqueline und Karim, wollt ihr denn nicht, dass eure Kinder mal stolz auf euch sind?« , las Delphine von ihrem Display ab.
Die beiden liefen knallrot an. Quenot grinste, da fuhr Delphine fort: »Paul, willst du deinem nächsten Partner denn keine Heldengeschichte präsentieren ?«
Nun war es der Belgier, der irritiert dreinblickte.
»Lizzy, ein tolles Abenteuer mehr zieht sicher auch bei den Männern« , las Karim.
»Als ob ich das nötig hätte«, schimpfte die alte Dame.
»Über dich schreibt er auch noch was, Delphine.« Lipaire verlas laut den Rest der Nachricht: »Delphine, die Geschichte der Rettung von Port Grimaud wäre doch ein toller Filmstoff – mit Madame Dallarmé und dir in den Hauptrollen. «
Die Angesprochene machte große Augen.
»Nur zu dir ist ihm nichts eingefallen«, bemerkte Karim.
Guillaume zuckte enttäuscht die Achseln.
»Ich schreib ihm zurück«, erklärte Delphine. »Was haltet ihr von: Hilft ja nichts, wir kommen nicht weiter. «
Sie erntete einhelliges Nicken, also tippte sie die Antwort ein.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: »Aber ihr nennt euch doch DIE UNVERBESSERLICHEN!«
Jacqueline sprang auf. »Und wenn er … sie recht hat? Wer außer uns sollte das Unmögliche möglich machen?«
»Also, wenn das wirklich Stoff für eine Verfilmung wäre? Vielleicht könnte ich wirklich auch eine Rolle spielen«, stimmte Delphine ein.
»Ich wär auch dabei, falls ihr einen Fahrer oder so braucht«, meldete sich Karim.
»Na, und ich spiel mich selbst, was meint ihr?«, fragte Lizzy in die Runde.
Delphine grinste. »Wer sonst?«
»Dann werd ich auf meine alten Tage noch Filmdiva!«
»Und ich mach die Special Effects, okay?«, schlug der Belgier vor.
»Klar, Paul, das kriegen wir hin«, erklärte Jacky lachend.
»Hm, und ich?«, meldete sich Guillaume zerknirscht, der sich nun tatsächlich ein wenig übergangen fühlte.
»Du bist der Regisseur, wie in Wirklichkeit auch.« Jacky grinste ihn an.
Der Vorschlag gefiel ihm. »Ihr meint also, wir können es doch noch mal packen?«
»Nur wir!« Jacky ballte ihre rechte Hand zur Faust. »Zusammen. Einer für alle, alle für einen!«
Wieder kam eine Nachricht: So hört sich das schon besser an!
Jacqueline hatte Feuer gefangen. »Also, es gilt. Wie gehen wir vor?«
Sie blickte in leere Gesichter. Eine Minute sagte keiner etwas, dann murmelte Guillaume: »Das ist unser Problem. Wir haben keine Ahnung, wie man so einen Coup aufzieht.«
Jacqueline ließ nicht locker. »Ich hätte vielleicht eine Idee, wo wir uns Anregungen holen könnten.«
»Ach, und wo?«
»Was haltet ihr davon, wenn wir uns zusammen ein paar Filme ansehen?«