Pauls Wohnung in der Sozialsiedlung von Gassin, jenem spektakulären Dorf auf einer Bergkuppe oberhalb von Port Grimaud, war klein, gemütlich und, das musste Guillaume zugeben, deutlich geschmackvoller eingerichtet als seine eigene. Wenn man es genau betrachtete, war sie tatsächlich im engeren Sinne eingerichtet, während seine gardien -Bude einfach nach und nach mit zweckmäßigen Möbeln befüllt worden war. Bilder oder andere Dekorationsobjekte suchte man bei Lipaire vergeblich. Zweckmäßig war ihm aber allemal lieber als der fast schon zwanghafte Hang des Belgiers zur Begrünung und Verschönerung seines Lebensumfeldes: Überall standen Blumen herum, was bei einem Gärtner ja noch einigermaßen naheliegend war, aber der ganze Krimskrams – Kerzenständer, Etageren oder Glasschalen mit irgendwelchen Kugeln darin – ergab für ihn überhaupt keinen Sinn, außer dass sich darin der Staub fing. Obwohl in dieser akribisch aufgeräumten Wohnung kein einziges Staubkörnchen zu erblicken war.
»Toll, wirklich ganz toll, was du aus diesen paar Quadratmetern gemacht hast. Du hast einfach ein Händchen fürs Schöne!« Jacqueline blickte sich anerkennend um, was der Belgier mit einer wegwischenden Handbewegung quittierte: »Ach, das bisschen …«
Delphine schüttelte den Kopf. »Stell dein Licht nicht immer so unter den Scheffel. Wir könnten stattdessen auch in Guillaumes Rumpelkammer sein.«
»Jetzt mach aber mal halblang.« Lipaire hob drohend seinen Zeigefinger. »Immerhin war mein Domizil für viele unserer Treffen gut genug.«
»Ja, aber nur, weil Paul so weit weg wohnt«, stimmte Lizzy mit ein.
»Ich finde, Jacqueline hat recht, es ist … wunderhübsch hier.« Karims Wangen leuchteten.
Guillaume verdrehte die Augen. Der Junge lernte es wohl nie, wie man sich bei Frauen interessant machte. Dann versuchte er, das Gespräch auf den eigentlichen Grund ihres Hierseins zu lenken. »Hast du den Beamer organisiert?«
Der Belgier nickte.
»Aber dafür ist die Wohnung schon ein bisschen zu klein, oder?«, gab Karim zu bedenken.
Quenot schüttelte den Kopf. »Nein, das Ding ist samt Leinwand im Gemeinschaftssaal installiert. Brauchen wir … also, die anderen hier, für den Bingoabend.«
Guillaume klatschte in die Hände. »Worauf warten wir dann noch? On y va! «
Zur Bestätigung gab Louis Quinze, der inzwischen fast wieder zu seiner natürlichen Fellfarbe mit den schwarz-weißen Flecken zurückgekehrt war, ein Bellen von sich, und sie verließen die Wohnung.
Der Gemeinschaftssaal von Nouveau Gassin war nicht gerade das Schmuckstück der um einen zentralen Platz errichteten Wohnanlage, wenngleich Guillaume es respektabel fand, dass der Architekt Gilbert Roudeau überhaupt einen solchen Ort für die Bewohner in die Siedlung integriert hatte.
Laut Paul wurde der rege angenommen, wenn auch Bingoabende wohl eher ein Vergnügen für die Älteren darstellten. Die bisherigen Besucher störten sich vermutlich auch nicht an der Pfarrsaal-Atmosphäre samt schlichten Resopaltischen und Linoleumboden.
Gegenüber der Eingangstür befand sich eine Reihe großer Fenster, die alle offen standen. Ein altes Männchen mit eingefallenen Wangen und grauer Haut schlurfte von dort aus auf sie zu.
»Antoine, der Hausmeister«, stellte Paul ihn vor.
»Bonsoir , Kleiner«, erwiderte das Männchen und drückte Paul einen Schlüssel in die Hand. »Hab euch extra noch gelüftet, vorher war wieder der Yogakurs mit den alten Damen drin. Danach herrscht immer dicke Luft.«
Sie lächelten freundlich, nur Lizzy zog kritisch die Brauen zusammen.
»Mach alles aus, wenn du gehst, ja?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schlurfte der hagere Mann davon. »Und sperr ab, nicht dass wir wieder besoffene Jugendliche drin haben morgen früh.«
Quenot reckte den Daumen nach oben.
»Geht aber recht locker zu bei euch«, kommentierte Guillaume.
»Ja, so ist das hier. Früher gab’s auch Filmabende.« Pauls Stimmte hallte in dem Raum wider. »Bud-Spencer-Streifen und so. Da kamen auch manchmal Leute aus dem alten Dorf zum Zuschauen.«
Guillaume rümpfte die Nase. »Verstehe, Hochkultur.«
Der Belgier zuckte die Achseln.
»Wo ist eigentlich Delphine abgeblieben?«
Alle schauten sich suchend um, da stieß die Gesuchte die große Schwingtür auch schon mit dem Hinterteil auf, wobei sie zwei Körbe und ein Tablett balancierte. »Geht schon, bemüht euch nicht«, sagte sie, worauf alle auf sie zustürmten und »Lass dir doch helfen« oder »Das kann ich doch nehmen« riefen.
»Was hast du denn da Feines mitgebracht?«, wollte Guillaume wissen.
»Na, im Kino muss man doch ein bisschen was knabbern, oder?«
»Ein bisschen was?« Mit großen Augen betrachtete Jacqueline das mitgebrachte Essen, eine Best-of-Auswahl der beliebtesten Kino-Snacks mit Popcorn, Nachos samt verschiedenen Dips, Lipaires Lieblingschips mit Geschmacksrichtung Poulet Rôti sowie diverse Nüsschen und getrocknete Früchte.
»Paul, könntest du draußen die Getränke holen, die hab ich nicht mehr geschafft.« Damit stellte Delphine ächzend ihre Speisen auf einem der Tische ab.
Als er die verschiedenen Sorten Softdrinks, die Bierdosen und zwei Flaschen Rosé samt Plastikbechern abgestellt hatte, griffen alle zu und nahmen dann an einem der Tische Platz.
Jacqueline hatte inzwischen ihren Laptop an den Beamer angeschlossen. »Ich habe hier eine Auswahl der wichtigsten Filme zu unserem Thema zusammengestellt.« Sie hielt ein paar DVDs hoch. »Womit sollen wir anfangen? Ich hätte zum Beispiel Über den Dächern von Nizza , Der große Eisenbahnraub , Rififi …«
»Den kenn ich, der ist toll«, kommentierte Delphine, während Lizzy hinzufügte: »Ich hab mal den Regisseur kennengelernt, der war auch nicht verkehrt.«
Jacqueline fuhr ungerührt mit ihrer Aufzählung fort: »Topkapi, Ocean’s Twelve , The Italian Job , dann eine Folge aus der Fantomas -Reihe, wo Louis de Funès …«
»Das schaffen wir doch niemals alles an einem Abend«, gab Guillaume zu bedenken.
»Schon klar. Ich würd immer an die entsprechenden Stellen springen, die uns als Inspiration dienen könnten.« Damit löschte sie das Licht und legte den ersten Film ins Laufwerk, auf Delphines Wunsch Rififi .
Darin bohrte sich eine Diebesbande eine halbe Stunde lang durch die Decke eines Juweliergeschäfts. Guillaume hatte keine Ahnung, wie ihnen solch eine Präzisionsarbeit jemals gelingen sollte, noch dazu, wo der Tresor ja im Obergeschoss stand. Er zweifelte bereits den Sinn des ganzen Abends an. Doch Karim jubelte: »Cool, so was müssen wir unbedingt auch machen. Tolle Wahl, Jacky. Wie geht der Film denn aus?«
»Sie sterben alle«, antwortete die junge Frau kleinlaut.
»Vielleicht doch lieber einen anderen Streifen«, schlug Paul vor.
So legte Jacqueline eine DVD nach der anderen ein, sie sahen, wie akribisch die darin agierenden Banden ihre Coups vorbereiteten, wie sie Besitzer von Tresorschlüsseln auskundschafteten, beobachteten gebannt, wie in The Italian Job der Boden unter einem Tresor weggesprengt wurde, worauf dieser mehrere Stockwerke nach unten in ein Kellergeschoss mit direktem Zugang zu den Kanälen von Venedig krachte, was Paul mit den Worten »So wär’s natürlich auch gegangen« kommentierte. Einmal brachen sie ab, als bei Ocean’s Twelve ein ganzes Haus angehoben wurde, eine Aktion, die sie aufgrund des unüberschaubaren Aufwands für sich von vornherein ausschlossen. Als Jacqueline nach der Einbruch-Szene in einen Palast in Istanbul den Film Topkapi anhielt, ertönten hinter ihnen plötzlich protestierende Stimmen: »He, wir wollen wissen, wie’s weitergeht! Lass mal laufen, Mädchen!«
Erschrocken drehten sie sich um – und sahen, dass sich inzwischen ein gutes Dutzend Menschen zu ihnen gesellt hatte. Einer von ihnen telefonierte gerade: »Ja, Valérie, wenn ich es dir doch sage: Heute ist Filmabend, wie früher. Komm auch. Und bring Jacques und die anderen mit.«
»Aber …« Guillaumes Einwand wurde von Paul sofort abgewürgt: »Toll, damals war immer super Stimmung.«
Delphine schnappte sich die Snackplatte und ging damit zu den Neuankömmlingen, was die mit großem Hallo begrüßten.
Nun wurde es allerdings etwas schwieriger, jeweils nur die einschlägigen Stellen der Filme zu zeigen, doch Karim stellte sich zu Jacqueline und täuschte mal technische Probleme vor, mal spoilerte er »aus Versehen« den Schluss, sodass niemand mehr Lust hatte, weiterzuschauen.
»Das machst du gut«, flüsterte ihm die junge Frau ins Ohr.
»Ja, findest du?«
»Ja. Hast dich ganz schön gemacht, während ich weg war.«
Lipaire beobachtete die Szene genau und nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass Jacky bei dem Gespräch ihre Hand auf Karims Arm legte. Daher sah er großzügig darüber hinweg, dass das Publikum immer weiter anwuchs und die Leute nun damit begannen, die meist schon ziemlich in die Jahre gekommenen Filme kritisch zu kommentieren.
»Die müssten ein Täuschungsmanöver einbauen, ’ne hübsche Frau auf der Straße, die den Verkehr aufhält oder so«, lautete zum Beispiel ein Vorschlag, den Guillaume sich gedanklich notierte.
Als erneut die Tür aufging und ein Mann hereinkam, bemerkte Lipaire eine Veränderung bei seinem Freund Paul. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, spielte mit seinen Händen und blickte immer wieder zu dem Neuankömmling hinüber. »Kennst du den?«
»Ich? Wen? Ich kenn hier niemanden.« Pauls Antwort kam schnell und klang fahrig.
»Aha.«
»Was: aha?«
»Nichts. Bring ihm doch mal was zu trinken«, meinte Lipaire.
»Ich?«
»Wer sonst?«
Delphine beugte sich zu ihnen herüber. »Sieht gut aus.«
»Wer?«
»Was denkst du denn? Der, den du die ganze Zeit anstarrst.«
Obwohl sie ihn nun alle bearbeiteten, sich endlich zu ihm zu gesellen und ihm etwas zu trinken und zu essen zu bringen, ließ Paul sich nicht breitschlagen.
»Vielleicht sollten wir demnächst noch so einen Abend veranstalten«, schlug Guillaume vor. »Aber dann eher mit Liebesfilmen.«
»Ja, unbedingt wieder mehr Filmabende«, rief da einer der Zuseher. »Und jetzt hört auf mit dem Gequatsche, wir wollen weiterschauen.«
Es wurde eine lange Nacht, und einmal, als sie sich nicht entscheiden konnten, welchen Film sie als Nächstes abspielen sollten, kam aus dem Dunkel des inzwischen fast voll besetzten Saales der Vorschlag: »Kleiner Tipp: Wie wäre es mit Inside Man ? Das ist einer der besten und … inspirierendsten Filme dieser Art.«
Guillaume blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit, konnte aber niemanden erkennen. Dennoch war er sich sicher: Die Stimme kam ihm bekannt vor. »Wer hat das gerade gesagt?«, fragte er an Paul gewandt.
»Hast du nicht gehört: Ich kenn hier niemanden.«
»Aber du wohnst doch hier.«
»Trotzdem, dieses Nachbarschaftsding ist nicht so meins, weißt du doch.«
»Vielleicht sollte es das werden …« Bei diesen Worten blickte Guillaume wieder in Richtung des Mannes, der vorhin hereingekommen war und Paul so nervös gemacht hatte.
Den letzten Film, den Jacqueline dabeihatte, Bank Job , ließen sie schließlich bis zum Schluss durchlaufen. Alle freuten sich, dass darin in einer Bank eingebrochen wurde, in deren Schließfächern kompromittierende Fotos einer Adelsfamilie lagerten.
Als sie, müde und voller Eindrücke, die nun erst einmal sortiert werden mussten, gegen drei Uhr nachts den Filmabend beendeten, war der Saal noch immer zur Hälfte gefüllt.
»Nächste Woche wieder?«, fragte einer der Gäste im Hinausgehen.
Bevor Guillaume ihm erklären konnte, dass dies eine einmalige Sache gewesen war, antwortete Delphine: »Ja, das machen wir ab jetzt regelmäßig. Aber nächstes Mal bringen alle was zu essen und zu trinken mit, klar?«