Vier Wochen später
»Die Leinwand ist wirklich beeindruckend!«
Guillaume konnte Paul nur zustimmen. Der neue Film- und Veranstaltungssaal in der Wohnhalle des ehemaligen Vicomte-Hauses besaß tatsächlich imposantes Format. In den vier Wochen seit der gescheiterten Ausrufung eines eigenständigen Fürstentums war eine Menge passiert. Dass sich die Adelsfamilie nahezu völlig aus dem Lagunenstädtchen zurückgezogen hatte und nun noch ihre letzten Geschäfte abgewickelt wurden, hatte enorme Veränderungen nach sich gezogen.
Heute würde hier der erste Filmabend für die Einwohner von Port Grimaud stattfinden, unterstützt von der Gemeinde in Gestalt von Bürgermeister Venturino, gefördert von Henri Vicomte, der als Einziger der Familie noch vor Ort war, und veranstaltet von den »Unverbesserlichen«. Zum ersten Mal hatten sie ihren Namen öffentlich benutzt und auf die Flyer gedruckt, mit denen sie für ihr Event warben.
Die Vicomtes hatten das Haus fürs Erste gegen Zahlung einer nicht offiziell genannten Gebühr durch die Gemeinde Grimaud der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Henri hatte sich von seiner Schwester das Wohnrecht in einem kleinen, davon abgetrennten Teil zusichern lassen. Er war das einzige Mitglied der Familie, das noch etwas in Port Grimaud zu halten schien. In Zukunft, so die Pläne, sollten hier neben dem Film- und Veranstaltungssaal auch eine Bibliothek sowie eine kleine Galerie entstehen, im Garten war ein für alle zugänglicher Park geplant. Inzwischen wehte auf dem Turm des Anwesens auch nicht mehr die grün-weiße Vicomte-Flagge, sondern eine Trikolore von ansehnlicher Größe.
Es hätte alles nicht besser laufen können, dachte sich Guillaume, der zufrieden das emsige Treiben im Haus beobachtete. Dass er hier einmal ein und aus gehen würde, wie es ihm gefiel, war eine Ironie der Geschichte, die ihm jedes Mal ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.
Während Quenot sich um den Blumenschmuck im Saal kümmerte, spazierte Guillaume durch die Räume, ließ die Helfer herein und zeigte ihnen, wo was hinzubringen war. Zudem hatte er den Einbau des mächtigen Beamers überwacht, der nun von der Decke hing. Nur eins bedauerte er sehr: dass die Vicomtes das alles nicht sehen konnten.
»Hey, salut , ihr zwei!« Jacky kam gerade zur Tür herein, gefolgt von ihrem Vater. Sie winkte ihnen fröhlich zu.
»Salut , Jacqueline, bonjour, Monsieur le Maire !« Lipaire ging den beiden entgegen und begrüßte Jacky mit drei gehauchten Küsschen, ihrem Vater streckte er die Hand entgegen.
»Bonjour , Monsieur Lipaire!«
Guillaume nahm erstaunt zur Kenntnis, dass sich Venturino inzwischen seinen Namen gemerkt hatte.
»Eine große Geste für die Bevölkerung, Herr Bürgermeister. Respekt.«
»Danke. Daran war meine liebe Jacky allerdings nicht ganz unschuldig«, erklärte er und legte den Arm um seine Tochter. Die grinste breit. »Ich denke, ich werde mir hier auch eine kleine Dependance einrichten, ein Büro vor Ort quasi, um als Vertreter der Gemeinde und der République Française stets nah an meinen Bürgerinnen und Bürgern zu sein. Dieser direkte Kontakt war mir schon immer sehr wichtig. Und in einer Demokratie ist Zugänglichkeit sowieso unerlässlich.«
»Eine hervorragende Idee«, gab Lipaire zurück.
Der Bürgermeister überschlug sich seit dem Rückzug der Vicomtes geradezu mit Lobeshymnen auf die Republik und ließ, wo er nur konnte, die Demokratie hochleben. Vor einem Monat hatte er noch ganz andere Töne angeschlagen, was ihm Guillaume aber nicht nachtrug: Man musste Menschen die Möglichkeit zugestehen, sich neuen Gegebenheiten anzupassen, fand er. »Vielen Dank. Es wäre sicher auch im Sinne des Erbauers, Gilbert Roudeau, gewesen.«
»Was für einen Film gibt’s heute eigentlich?«, wollte Venturino wissen.
Guillaume lächelte. »Ich habe für unsere Premiere einen ganz besonderen ausgesucht, Herr Bürgermeister.«
»Ja? Welchen denn?«
»Die dummen Streiche der Reichen.«
»Kenne ich nicht.«
»Ich schon«, sagte Jacky. »Da spielt Louis de Funès einen geldgierigen Adligen, der mit allerlei Tricks versucht …«
»Ach, das wird sicher lustig«, unterbrach sie ihr Vater. »Sagen Sie, Monsieur Lipaire, haben Sie Monsieur Vicomte heute schon gesehen?«
»Henri? Der war vorhin noch da oben.« Quenot, der das Gespräch aus einigem Abstand mitverfolgt hatte, zeigte auf eine der Türen, die von der Galerie im ersten Stock abgingen.
»Ah, dann werde ich es dort versuchen, wir haben nämlich ein paar Dinge zu besprechen«, erklärte er. Dann wandte er sich an seine Tochter. »Fährst du danach wieder mit mir zurück nach Grimaud Village , ma puce ?«
Jacky schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin ja zum Helfen hier. Wir müssen noch alles aufbauen. Und außerdem kommt nachher auch noch Karim.«
Guillaume bemerkte, dass sich Venturinos Lächeln für einen Moment eintrübte, doch als seine Tochter wortlos einen mahnenden Zeigefinger erhob, winkte er schließlich mit einem gekünstelten Lächeln ab.
Oben auf der Galerie öffnete sich jetzt eine Tür, aus der Henri Vicomte trat. Als er den Bürgermeister sah, kam er eilig die Treppe hinunter. Sie begrüßten sich, und Vicomte nahm Venturino vertraulich zur Seite. Sie sahen sich konspirativ um, bevor sie ihr Gespräch begannen.
Guillaumes Neugier wurde sofort angestachelt. Er nahm sein Handy heraus, tat, als schreibe er eine Nachricht, und näherte sich den beiden heimlich ein Stück.
»Ich verlasse mich auf dich, Pierre! Die Hafenrechte sind der wichtigste Punkt im ganzen Portfolio. Wenn du jetzt einen Rückzieher machst, gibt’s Ärger, klar?«, zischte Henri gerade.
Die Hafenrechte? Lipaire wurde hellhörig. Er erinnerte sich wieder an das Dokument, das der Bürgermeister bei ihrem Besuch in seinem Büro so schnell hatte verschwinden lassen.
»Klar, klar«, murmelte Venturino, wies dann aber mit einer Kopfbewegung auf Lipaire.
Merde! Na ja, er würde in den nächsten Tagen schon noch rausbekommen, welche Heimlichkeiten die beiden Männer da verhandelten. Jetzt ging es aber erst einmal um den bevorstehenden Filmabend.
»Oh, da kommt ja schon dein Herzbube!«, sagte er zu Jacky und deutete auf das Wassertaxi, mit dem Karim auf den Anlegesteg vor der Villa zufuhr. Wo sonst die Passagiere saßen, waren jetzt Stühle gestapelt, die der Pfarrer, der sich ebenfalls auf dem Boot befand, aus seinem Fundus zur Verfügung gestellt hatte.
Als Karim angelegt hatte, lief er sofort zu Jacqueline, und die beiden küssten sich so innig, als hätten sie sich Monate nicht gesehen.
Der Pfarrer ging an Land, grüßte Lipaire und flüsterte ihm zu: »Eine Hochzeit wäre auch mal was Schönes. Da wäre die Kirche vielleicht mal wieder voll. Dann bräuchte ich allerdings meine Stühle wieder.«
Das junge Paar blickte sich verlegen an. »Also Hochzeit …«, begann Jacky, worauf Karim fortfuhr: »… ist vielleicht noch ein bisschen früh, oder? Wobei …«
»Bringt ihn mir mal nicht auf dumme Gedanken«, sagte die junge Frau und drohte grinsend mit dem Zeigefinger.
»Wer heiratet?« Guillaume hatte Delphine gar nicht kommen gehört. Sie würde das Catering für den Abend übernehmen – ein neuer Geschäftszweig, den sie zusätzlich zum Handyverkauf aufziehen wollte, auch wenn das in ihrer kleinen Küche daheim einiges an Improvisationstalent erforderte.
»Niemand, meine Liebe. Fürs Erste jedenfalls«, erklärte Lipaire und grüßte sie mit drei Küsschen.
»Gott sei Dank!«, erwiderte Delphine und machte ein ernstes Gesicht. Dann nahm sie Jacqueline beiseite: »Überleg dir das gut, Mädchen, hörst du? Am Anfang, da sind sie noch nett und lesen dir jeden Wunsch von den Augen ab. Aber schon bald lassen sie sich gehen und fangen an rumzukommandieren!«
Jacky grinste und gab ihrem Freund demonstrativ einen
Kuss auf die Wange. »Das würdest du dich doch nicht trauen, oder?«
Der junge Mann zuckte verlegen mit den Schultern.
»Na, meine Liebe, da muss ich aber widersprechen«, protestierte Guillaume. »Manche Menschen halten sich ja auch im fortgeschrittenen Alter wirklich gut.«
Delphine lächelte milde. »Du hast natürlich recht, Guillaume. Madame Lizzy lässt sich nicht unterkriegen. Von nichts und niemandem.«
»Aber ich meinte doch …«
»Wer spricht hier von mir?« Das Trippeln von vier kleinen Füßen auf dem Fliesenboden und das Geräusch von Stöckelschuhen kündigte die Ankunft von Lizzy Schindler an. Sie kam winkend auf sie zu, im Schlepptau einen schneeweißen Pudel, der Lipaire deutlich kleiner vorkam als Louis Quinze.
»Hallo, ihr Lieben! Ich kann nicht lange helfen, weil ich den Karl gleich aus der Reha abholen muss. Ein bisserl schade, da bin ich meinen Mercedes wohl wieder los.«
»Seid ihr denn jetzt … zusammen, du und Karl?«, fragte Jacqueline.
»Fürs Erste jedenfalls. Karl weiß aber, dass er keinen Alleinanspruch hat. Er will sich wohl sogar was kaufen im Ort, gibt ja einiges, was jetzt wieder auf dem Markt ist, und die Preise sind auch wieder einigermaßen normal geworden. Wir haben später noch zwei Besichtigungen mit einer Maklerin. Könnte ich Louis währenddessen vielleicht ein bisschen bei euch lassen?«
»Klar«, sagte Delphine nickend und blickte auf den Hund. »Aber sag mal, wieso ist er denn so weiß geworden, der kleine Louis?«
»Ist er das? Keine Ahnung. Hauptsache, ihm geht’s gut, meinem Louis Seize.«
»Seize?«, fragte Lipaire verwundert, und auch die anderen sahen Lizzy fragend an. »Was ist denn mit Louis Quinze passiert?«
Die alte Dame lächelte und winkte ab. »Seid mir nicht bös, aber der hatte wirklich nur das Eine im Kopf, das hat gar nicht recht zu mir gepasst.«
Sie warfen sich vielsagende Blicke zu.
»Es geht ihm gut, keine Angst, er ist nur … woanders. Aber jetzt mal was anderes: Wie weit seid ihr denn mit den Vorbereitungen?«
»Na, was haben wir denn da für einen süßen kleinen Hund! Neu?« Henri Vicomte stand auf einmal hinter ihnen.
Lizzy zuckte die Achseln.
»Wird Zeit, dass er auch so ein hübsches Halsband bekommt wie seine Vorgänger, oder?«
Lizzy riss die Augen auf. »Stimmt, du warst das! Du hast mir damals den schönen Anhänger geschenkt. Ich hab mich seitdem immer gefragt, woher ich dich kenn.«
Die anderen sahen ihn stirnrunzelnd an.
»Ich bitte euch: Habt ihr nie gemerkt, dass der Hund mir die Informationen verschafft hat?«, fragte Henri Vicomte ungläubig in die Runde.
»Der Pudel war verwanzt?«, brachte es Paul auf den Punkt.
»Das vielleicht auch. Auf jeden Fall habe ich ihn mit einem Abhörmikrofon bestückt. Das war im Anhänger am Halsband.«
Sie sahen sich kopfschüttelnd an. Wie naiv sie doch gewesen waren!
»Was mich ja schon interessieren würde, ist, warum du dich so gegen deine Familie gestellt hast, um uns und unsere Sache zu unterstützen?«, fragte Guillaume.
»Ihr kennt doch meine Schwester, diesen Eisklotz, und ihre missratenen Kinder! Sie alle interessiert nur eins: sie selbst. Und mich hätten sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, wenn mein Vater irgendwann mal nicht mehr lebt. Mich als das ungeliebte Stiefkind hätte man verstoßen. Und mir wäre in Port Grimaud gar nichts mehr geblieben.« Er sah sich zu Venturino um. »Nicht mal mehr die … egal. Stimmt’s, Herr Bürgermeister?«
»Stimmt«, presste Jackys Vater mit verkniffenem Gesicht hervor. »Pardon , mein Telefon«, sagte er und zog sein Handy heraus. »Die Pompiers ? Na, wenn der Einsatzleiter der Feuerwehr anruft, muss ich wohl drangehen.«
Während sich die anderen weiter unterhielten, versuchte sich Guillaume mit einem Ohr auf das Telefonat des Gemeindechefs zu konzentrieren, wurde aber aus den Wortfetzen, die er mitbekam, nicht recht schlau.
»Tut mir leid, ich muss weg«, sagte der Bürgermeister sichtlich geschockt, nachdem er sein Gespräch beendet hatte. »Auf dem Gelände einer Gärtnerei ist auf einen anonymen Hinweis hin eine illegale Giftmülldeponie entdeckt worden. Katastrophenfall.«
»Eine Gärtnerei?«, kiekste Quenot.
»Ja, der ehemalige Betrieb der Gebrüder Martin.«
Karim riss die Augen auf. »Frères Martin ? Das ist doch deine, Paul!«
Quenots Lippen bebten, sein Gesicht wurde blass.
»Das hat also den armen Louis niedergestreckt«, murmelte Lizzy.
»Welchen von den zweien jetzt genau?«, wollte Lipaire wissen.
»Ach, ich komm ja selber schon durcheinander mit den Nummern von den Tierchen«, gab Lizzy zu.
Paul brachte nur noch ein heiseres Krächzen zustande. »Was passiert denn jetzt mit dem Gelände?«
Der Bürgermeister zuckte entschuldigend die Achseln. »Das wird auf jeden Fall bis auf Weiteres dichtgemacht.«
»Da hat dich aber einer mächtig übers Ohr gehauen«, legte Lizzy nach. »So ein Desaster!«
Alle standen wie versteinert da, die gute Laune von eben war verflogen.
»Wenn das so ist«, meldete sich da Henri Vicomte mit sonorer Stimme, »könnte ich ja meine Spezialtruppe darauf ansetzen.«
Sie sahen ihn verwirrt an.
»Welche Spezialtruppe denn?«, fragte Jacky mit gerunzelter Stirn.
»Na, die Unverbesserlichen, wen denn sonst?«