Samstag, 23. November 1940, Mitternacht

Das Blaulicht spiegelte sich im Schleier des Nieselregens. Es kam hier in letzter Zeit schon öfter zu Übergriffen auf Frauen, doch was ihn nun erwarten würde, gehörte ohne Zweifel in die Abteilung Mord.

Nachdem Kriminalassistent Oscar Zach aus dem schwarzen Mercedes-Benz der Fahrbereitschaft der Reichspolizei gestiegen war, stand er müde, ausgelaugt und noch mit reichlich Promille im Blut irgendwo im Nirgendwo zwischen Berlin-Karlshorst und Betriebsbahnhof Rummelsburg. Sofort war sein Mantel mit Feuchtigkeit überzogen und noch nie hatte er so wenig Lust auf seinen Dienst verspürt wie heute Nacht. Es quälte ihn ein Hämmern in den Schläfen und in seinem Mund gor der Mix aus Bier, Schnaps und vielen gerauchten Zigaretten in der Stammkneipe. Wie ferngesteuert lief er nun über den Schotterboden Richtung Bahndamm. Dabei glitt sein Blick über die benachbarte Laubenkolonie, die in der Finsternis wie eine gigantische Totenstadt erschien.

»750 Volt uff der Anlage!«, stellte sich ein Schupo mit blauer Uniform ihm in den Weg. »Hier kommt keener weiter, det is’ lebensjefährlich!«

Zach zündete sich mit zitternder Hand eine Filterlose an, pulte sich den Rest Tabak von der Zunge und hielt dem Beamten seine Polizeimarke vor die Nase. Mit dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe begleitete dieser ihn zum Tatort entlang der Schienen vorbei an einer ruhenden S-Bahn. In ihrer berlintypischen Aufmachung lag sie da, wie eine schlafende Riesin, rubinrot bis zur Bauchmitte, ocker bis übers Dach, innen Notbeleuchtung, außen Standlicht. Es war die Nachfolgebahn, die nicht weiter kam, da die Tote breitbeinig, mit blutigem Schritt und zertrümmertem Schädel mitten auf den Schienen lag. Um sie herum war großes Kino: Scheinwerfer standen, trotz Verdunkelungsverordnung, auf hochgekurbelten Lichtstativen, Kamera-Blitze der Spurensicherung explodierten so laut wie Handgranaten und lichteten die Leiche aus jedem Winkel ab.

Als Zach schließlich den Tatort erreichte, begab er sich zu der ihm vertrauten Runde aus dem Reichspolizeiamt. Diese bestand aus dem jungen büroblassen Kriminalsekretär Hans Klaussner, der Direktorin Grete Hartmann, ihres Zeichens Leiterin der Weiblichen Kriminalpolizei sowie dem korpulenten Kriminalrat Wilhelm Lüdke, Chef und Urgestein der Inspektion M1 zur Aufklärung von Sittlichkeitsverbrechen.

»Mensch, Zach, wie sehen Sie denn aus? Etwa wieder gesoffen? Wir wollten schon ohne Sie anfangen!«, motzte der ihn gleich an. Der missgelaunte Lüdke konnte sich etwas Besseres vorstellen, als mitten in der Nacht im unbehaglichen Regen herumzustehen. Und auch Klaussner, sein Sekretär, bemühte sich, den Lagebericht kurz zu halten.

»Bei der Ermordeten handelt es sich um die dreiundzwanzigjährige Karin Borchert«, begann er und entfaltete zwei schlabbrige Papiere wie museale Fundstücke. »Nach Angaben ihres Belegschaftsausweises, den wir in ihrer Handtasche fanden, war sie Fabrikarbeiterin im Turbinenwerk Borsig und wohnte drüben in der Gartenkolonie Gutland Zwo. Das zweite Dokument ist ein Feldbrief ihres Ehemannes. Er ist zurzeit Bomberpilot in Frankreich, daher ist davon auszugehen, dass sie allein in der Laube lebt. Sie wurde hier auf dem Nachhauseweg aus der fahrenden S-Bahn auf die Schienen gestoßen. Vorher muss sie während der Fahrt mit heftigen Stößen vergewaltigt worden sein. Der Gerichtsmediziner entdeckte entsprechende Verletzungen und nahm Proben des Scheidensekrets. Dabei fand er neben Sperma auffälligerweise zwei Blutgruppen. Zum einen AB , also ihre eigene, sowie 0, Rhesus negativ , was im Fachjargon auch als Universalblut bezeichnet wird.«

»Gibt es jemanden, der etwas mitbekommen hat?«, fiel Lüdke ihm ungeduldig ins Wort. Doch Klaussner antwortete ihm nicht direkt, sondern winkte gleich zwei Bahnbedienstete zu sich, die aus der Dunkelheit hervortraten. Sie hatten die Leiche zuerst am Tatort entdeckt: Anton Jahnke, Triebwerkfahrer, der den Folgewagen bei voller Fahrt zum Stehen gebracht hatte, als sich der regungslose Frauenkörper vor ihm auftat, sowie Paul Golzow, Weichenwart im Stellwerksdienst im Betriebsbahnhof Rummelsburg, gleich hier in der Nähe.

»’N Abend die Herrschaften«, knetete Jahnke seine Mütze mit beiden Händen, während Golzow mit hochgestrecktem Deutschen Gruß grüßte. Nichts Befremdliches in diesen Zeiten, doch klang es bei ihm aus voller Brust und voller Überzeugung.

Direktorin Hartmann musterte beide genau und wandte sich zuerst an Anton Jahnke, einen kernigen Hallodri mit großen Schultern und großer Berliner Schnauze.

»Herr Jahnke, wie fühlen Sie sich denn nach diesem schrecklichen Erlebnis?«

»Danke der Nachfrage, jeht so«, antwortete er. »Langsam schon Routine dat Janze. Hatte ja schon viele solcher Fälle, will man gar nich’ mehr alle zählen. Sind sonst aber immer nur Selbstmörder, die mir vor die Mühle springen, gerade wenn ich mit voller Kanne unterwegs bin. Die da lag ja schon tot auf der Strecke.«

»Die Frau lag also schon auf den Schienen?«, hakte Zach nach. »Kaum zu glauben! Sie hätten doch die Frau prompt überrollt!«

»Sicher, hät‘ ich, aber dafür gibt’s ja zum Glück meinen Totmann«, antwortete Jahnke.

Sofort mischte sich der Zweite, der Weichenwart Paul Golzow, ungefragt ein und gab eine fachmännische Erklärung wie aus dem Bedienerhandbuch.

»Der Totmannschalter befindet sich im Führerhaus. Durch diesen läuft der Antrieb nur so lange, wie der Bediener ihn betätigt. Lässt er los, stoppt das Fahrzeug sofort.«

»Jenau«, kommentierte Jahnke den Hinweis. »Wie es der Kollege sagt. Der Totmann macht, dass die Mühle stoppt und sofort alle in die Ecke kippen …«

»Heißt somit auch, Herrschaften …«, schlussfolgerte Lüdke, »… dass ein Triebwagenfahrer für uns als Täter nicht infrage kommt, weil er bei voller Fahrt nicht weggehen kann, da der Wagen sofort abbremsen würde.«

Sekretär Klaussner ergänzte. »Außerdem ist eine S-Bahn kein durchgängiger Zug, man müsste einen Vierkantschlüssel haben, um die Türen zwischen den Wagen öffnen und die gesamte Bahn durchlaufen zu können, das würde lange dauern.«

Lobheischend hob er dabei den Kopf, doch sein Chef lobte ihn auf seine Weise.

»Obwohl er sonst ein Armleuchter ist, sage ich nur: Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn«, sprach er abschätzig, um sich schließlich den Darstellungen des Weichenwarts zu widmen.

»Und Sie, Herr Golzow? Was können Sie uns denn Näheres zu den Umständen sagen?«

Rein äußerlich wäre man bei dem Mann nie auf den Beruf des Weichenwarts gekommen, wirkte er eher schmal als kräftig. Die stattliche Uniform und die große Schirmmütze samt Reichsadler vergrößerten seine Statur jedoch immens.

»Tja, am Abend war ich ab elf die ganze Zeit an der W-12er, der Weiche hinten auf der Strecke Richtung Frankfurt/Oder. Bei der rührt sich bei Regen immer nix und ich muss per Stange bedienen.«

»Und wann haben Sie die Leiche auf der Strecke bemerkt?«, hakte Lüdke nach.

»Tja, bemerkt, gute Frage. Gemerkt hab ich’s eigentlich erst, als die Bahn mittendrin stoppte. Hab dann Polizei alarmiert und dann musste ja alles schnell gehen, Pendelverkehr, eingleisiger Betrieb, Zugmeldeverfahren …«

»Vielen Dank an der Stelle, das reicht!«, unterbrach ihn Lüdke eilig, bevor es ins Belanglose abglitt. »Wir werden uns sicher noch mal bei Ihnen melden.«

Die beiden wurden wieder in die Dunkelheit zurückgeschickt und Lüdke erteilte mit seinem Zeigefinger reihum Aufträge.

»Klaussner, Sie fahren mich jetzt nach Hause! Und Sie, Zach, sind morgen gefälligst wieder nüchtern und begeben sich am Vormittag mal in diese Laubenkolonie. Schauen Sie sich mal bei der Borchert ein wenig um! Morgen Mittag um eins dann alle zur Sitzung! Große Andacht mit den großen Tieren. Kollegin Hartmann! Wir hatten ja schon über weitere Schritte der Ermittlung gesprochen. Die Vorfälle häufen sich und nun haben wir mit Karin Borchert unsere erste Tote. Es gibt keine Zeit mehr zu verlieren, wir müssen Quadriga einleiten. Dazu gilt es, die Kriminalassistentin zu akquirieren. Wir müssen sämtliche Kräfte mobilisieren und dafür Sorge tragen, dass die großen Tiere die geheime Nachrichtensperre über die Fälle im Gebiet aufheben. Die Öffentlichkeit muss informiert werden, damit das Morden gestoppt wird!«