Lederschuhe, Nadelstreifen und das kurze blonde Haar mit frischer Pomade gescheitelt. So stand Peter Schenk, Johanna Schenks Zwillingsbruder, vor der Volksbadeanstalt Schöneberg . Nach einem ausgiebigen Wannenbad in einer der schäbigen Badekabinen ging er nun zum benachbarten Kottler’s Restaurant zum Schwabenwirt , um auf seine Verabredung zu warten. Dort setzte er sich in das Künstlerzimmer , das ihm neben dem Wappenzimmer und dem Ritterzimmer noch am angenehmsten vorkam. Hier herrschte gedämpftes Licht, das spärlich durch die flaschengrünen Mosaikscheiben in den Innenraum drang. Im Hintergrund schnulzte – etwas leiernd – Wilhelm Strienz Heimat, deine Sterne . Ansonsten war das ganze Interieur hier für ihn eher feindselig. Hätten Hitler und Göring ein Lokal nach ihrem Geschmack eingerichtet, es würde mit Sicherheit so aussehen, Eichenfurnier und Heldenromantik, soweit das Auge reichte. Überall vollgestopfte Regale mit verstaubten Bierhumpen. Die Decke voller Geweihlampen und naiver Bauernmalerei: dickliche Mannsbilder in rustikaler Tracht, die entweder wanderten, Holz sägten oder sich gegenseitig zuprosteten. Und selbstverständlich durfte auch das Gemälde des Führers nicht fehlen, das wie ein Madonnenbild zentral und pompös hier über dem Kamin hing.
»Der Herr hat schon gewählt?«, fragte ein erwartungsvoll dreinblickender Kellner im Trachtensakko und mit Dreifachkinn, der plötzlich neben ihm stand.
»Bringen Sie mir doch bitte einen Römer-Wein!«, antwortete Peter verdutzt und konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen, da der Mann auf ihn den Eindruck machte, als sei er gerade wie Fallobst von der Decke hinabgefallen.
»Sehr gern. Der Herr wünscht zu speisen? Ich kann Ihnen heute das Kassler empfehlen.«
»Sicher später! Vielen Dank! Ich warte noch auf meine Verabredung.«
Wie auf Stichwort betrat nun ein stattlicher Mann mit Hut, Mantel und Postmappe unterm Arm den stickigen Lokalraum. Er brachte frische Novemberluft mit rein, was die Luft drinnen immens verbesserte. Es war Herrmann Bohr, Mitte dreißig und damit deutlich älter als Peter. Ein schneidiger Mann mit der Figur eines heldischen Olympiakämpfers: trainierter Körper, die Schultern eines Gladiators und ein scharfgeschnittenes Gesicht.
»So ein Schmuddelwetter! Ich grüße dich, Peter. Schön, dass wir uns sehen. Und so schick heute, der junge Herr. Steh mal auf und dreh dich mal! Siehst ja blendend aus.« Peter folgte seiner Aufforderung prompt und fühlte sich von ihm geschmeichelt. Es war vergnüglich, wie sie da fröhlich um den Tisch herumstanden. Selbst der Trachtenkellner, der noch den Getränkewunsch des neuen Gastes abwartete, grinste mit roten Apfelwangen.
»Bringen Sie mir doch gleich ein großes Bier, bitte!«, bestellte Bohr.
»Sehr wohl, der Herr«, verabschiedete sich der Kellner bis auf Weiteres.
Bohr hing Mantel und Hut an den geschwungenen Garderobenständer und setzte sich. Im Kleidungsstil standen sich Peter und er in nichts nach, selbst der Scheitel lag auf der gleichen Seite. Bohr arbeitete im neuen Reichssicherheitshauptamt, kurz RSHA. Prinz-Albrecht-Straße 8, Berlin SW 11. Er war dort Diätar. Ein Buchhalter, ein Tabellentiger, ein Erbsenzähler, nichts Bedeutendes. Zwar musste man dafür in der NSDAP sein, doch war er ja nur ein unbedeutender Beamter mit regelmäßigem Einkommen.
»Ich kann die Käsespätzle empfehlen, Peter. Und zum Nachtisch teilen wir uns was Süßes.«
»Du bist oft hier, Herrmann?«
»Was heißt oft? So ein Schuppen ist bestimmt ein sicherer Ort. Wie heißt es so schön: Unter der Laterne ist es immer am dunkelsten. Du darfst dich übrigens heute von mir eingeladen fühlen.«
Peter lächelte und wechselte in den Flüsterton.
»Eigentlich müsste ich dich einladen bei all dem, was du für mich und die Bewegung getan hast. Du begleitest mich doch beim Treffen nächste Woche, oder? Ich gebe Mittwoch meinen Abschied in der Runde. Du weißt ja! Bromberg!«
Peter hatte vor einigen Wochen den Musterungsbescheid des Wehrbezirkskommandos erhalten. Nachdem der Amtsarzt nur bei der Größe Beanstandungen hatte, wurde Peter befohlen, seinen Wehrdienst im 3. Bataillon der Standarte Germania in Bromberg Folge zu leisten. Nun gab es kein Zurück mehr, musste auch er bald für Führer, Volk und Vaterland bereitstehen.
»Ich hab’s nicht vergessen«, sprach Bohr. »Mittwoch, NSV-Kindergarten, Dorotheastraße. Wieso eigentlich an so einem skurrilen Ort?«
»Meine Zwillingsschwester macht da ihr Pflichtjahr. Der ideale Unterschlupf für solche konspirativen Treffen wie die unseren. Hast du alles dabei?«
Bohr übergab ihm die schlichte Postmappe.
»Hier! Nächste Fuhre: Brandschutzpläne vom Nazi-Block im Reichspolizeiamt«, sprach er. »Mit genauen Positionen der unbewachten Notausgänge. Ich bin jetzt mit dem Hausmeister per Du und schulde ihm einen Kasten Bier.«
Peter schob schnell die Mappe unter den Po und setzte sich drauf.
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll?«
»Doch nicht dafür, es ist ja für eine gute Sache.«
»Seit gestern haben wir endlich das Knallzeug. Knapp vier Kilo Hexogen mit gigantischer Detonationswirkung. Spezialsprengstoff nach englischem Vorbild. Ein echtes Teufelszeug von WASAG-Chemie . Cornelius hat es durch Beziehungen beschafft.« Kurz nachdem er es sagte, atmete er tief. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich diese braune Pest verabscheue, die sich nun auch über die ganze Welt gießt. Das große Morden hat längst begonnen. Selbst meine Eltern spielen ihnen nun in die Hände und bald haben sie auch mich am Wickel – im öden Bromberg.«
»Ich kann dich verstehen«, sprach Bohr verständnisvoll mit einer frischen Salem -Zigarette im Mundwinkel. »Aber es wäre unmöglich, sich zu verstecken. Die Stadt ist voller Denunzianten.«
»Ich kann mich doch nicht für die niedrigen Instinkte einer Parteiclique opfern, irgendwann durchlöchert, verbrannt oder zerfetzt vom Kanonenrohr eines Panzers. Es muss etwas getan werden. Unsere Aktion wird der erste Warnschuss sein. Das Ding muss gezündet werden und dann werden wir als Helden in die Geschichte eingehen.«
Herrmann Bohr legte seine warme Hand sanft auf Peters kühlere.
»Das wäre purer Landesverrat und ein niederträchtiges Verbrechen, bedenke das! Es würde auch Unschuldige treffen, und vielleicht werden wir so schneller als Landesverräter unter dem Fallbeil landen, als uns lieb ist.«
Beide hielten lange Augenkontakt und schwiegen ebenso lange. Peter war sehr berührt von seinen Worten, hatte alles bei ihm immer mehrere Seiten.
Er hatte das Gefühl, dass dieser Herrmann nicht nur intelligent war, sondern aus ihm blickte auch seine verzweifelte Seele.
»So, die Herren!«, platzte der Kellner dazwischen. »Ein großes Helles und der Wein. Haben die Herrschaften denn schon die Speisen ausgewählt?«
Im Pfarrhaus des Weidenhofs in Heiligensee verriet die große mächtige Uhr auf dem Büfettschrank, dass es für Mittagessen schon viel zu spät war.
»Essen gibst Du uns und Getränke, Leben und Zukunft sind Deine Geschenke. Wir danken Dir für diese Fülle, in Deiner Liebe und aller Hülle. Amen .«
Traditionell wurde nach dem Tischgebet die Mahlzeit im Kreise der Familie im Esszimmer immer schweigend eingenommen, auch wenn Peter heute fehlte. Nach Rouladen mit Rotkohl folgte nun der Nachtisch. Götterspeise, Typ Waldmeister – genauso undurchsichtig wie die ganze Situation hier. Johanna löffelte hastig ihre Portion und ließ den abgeleckten Löffel ins Schälchen scheppern. Trotzig stützte sie sofort den Kopf auf die Tischplatte und tat dies bewusst, um das ganze Getue rund um feine Manieren und gute Sitten im Raum zu brechen. Sie hatte das Gefühl, als säße eine Zeitbombe zwischen ihren Rippen. Jedoch mit allem sofort herauszuplatzen und die Karten auf den Tisch zu legen, hätte bei ihrem Vater in die Sackgasse geführt, das wusste sie. Sie begann, sich schrittweise zur Wahrheit vorzutasten.
»Übrigens, Vater! Ich lese gerade ein gutes Buch von Immanuel Kant. Nach allem, was ich kürzlich in Berlin von gut informierten Kreisen über den Weidenhof gehört habe, bin ich mir mittlerweile sicher, dass dich Kant niemals interessiert hat.«
»Aha, aha«, entgegnete er sofort. »Kant also, gut informierte Kreise, in Berlin also.«
»Kant thematisierte damals die Menschenwürde und beschrieb, dass die Grundregel das Anerkennen der Gleichwertigkeit aller Menschen ist – egal, ob sie alt, krank, gequält oder nutzlos sind. Denn der Mensch werde ohne sein Zutun geboren und nur er darf frei bestimmen, wie sein Leben verläuft.«
Ihr Vater bemühte sich jetzt noch nicht einmal, sich zu rechtfertigen, sondern reagierte, wie man es von ihm gewohnt war, selbstherrlich und rechthaberisch.
»Menschenwürde, Gleichwertigkeit, Achtung vor dem Anderen. Soso. Hat dich dieser Cornelius jetzt dazu gebracht, dass du dich mit der Philosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts beschäftigst? Ich vergaß, dass dein Bekannter zwanzig Jahre länger auf der Welt ist. Lass dir von ihm ruhig die Welt erklären! Die meisten älteren Männer mögen ja die Rolle des Weisen.«
Johanna wusste, dass seine Standfestigkeit immer dann zu wackeln begann, wenn er anfing, mit spitzen Bemerkungen um sich zu werfen. Jedoch war sie mittlerweile immun gegen dieses Gehabe und provozierte ihn weiter.
»Kant sah Menschenwürde immer dann verletzt, wenn der Mensch als Mittel zum Zweck benutzt wird. So wie du es hier tust. Die Kinder hier im Weidenhof sind unter dem Deckmantel eurer Fürsorge der Willkür ausgeliefert.«
»Johanna, es reicht jetzt!«, zischte ihre Mutter dazwischen, während ihr Vater schwieg und sie unablässig weiterredete.
»Das Ziel eurer perfiden Fürsorge ist am Ende der Tod der Kinder. Ihr wollt euch unauffällig vom Ballast entledigen. Deshalb die schlechten Zustände in den Schlafsälen, deshalb der Nahrungsentzug, deshalb spricht Frida ständig von Spritzen. Was zahlt man dir dafür, Vater?«
»Was bildest du dir eigentlich ein?«, herrschte ihre Mutter sie erneut an. »Wie redest du eigentlich mit uns? Du behandelst uns ja wie Verbrecher! Das haben wir nicht verdient, oder Alfred? Nicht? Das haben wir nicht verdient!«
Er antwortete auch darauf nicht, sondern zog nur seinen vollen Löffel aus dem Götterspeisenschälchen, um sich das glibberige Zeug in den Mund zu stecken. Nach vernehmlichen Schlucken sprach er redegewandt, aber mit gelangweilter Stimme.
»Mögen deine Berliner Kreise gut informiert sein, aber spürst nicht auch du etwas Menschliches zutiefst in dir, das dich zwingt, für Hilflose da zu sein?«
»Sicher, Vater, aber das ist keine Antwort auf das alles hier!«
»In Würde leben zu dürfen, ist ein Wunsch jedes Menschenkindes«, erwiderte er. »In Würde zu sterben aber auch. Doch dazu muss man sich ja seiner Würde erst bewusst sein, Johanna. Aber unsere Kinder hier sind sich ihrer eigenen Würde nicht bewusst. Sie können nicht frei bestimmen, wie ihr Leben verlaufen wird. Es sind Unrettbare, Verlorene, die mit schweren Behinderungen niemals ein normales Leben führen können, sondern lebenslänglich ein hoffnungsloses Dasein fristen müssen.«
»Dann ist das Experimentieren und die Tötung Hilfloser also ein Akt der Barmherzigkeit für dich?«, hakte sie nach.
»Wenn man es so betrachtet, sogar ein segensreicher.«
Johanna verlieh ihrem Zorn nun deutlich Ausdruck.
»Vater, das geht zu weit! Was du machst, ist Gott spielen.«
»Johanna! Sei nicht scheinheilig! So ist das Gesetz und der Wunsch des Führers Adolf Hitler. Und nach allem Leid wird der Tod nicht nur für unsere Kinder die Erlösung sein. Es wird für die Volksgemeinschaft eine Erlösung sein, erwachsen aus der Kraft des Mitleids. Erlösung von der riesigen Last an Arbeitskraft, Geduld und Vermögen.«
Betr: Fleckfieber, Weidenhof, Heiligensee
Sehr geehrter Herr Schenk!
Leider waren die jungen Bewohner in einem so miesen Zustand, daß viele nach der Behandlung verstarben. Der Rest war so jämmerlich, daß er nicht verwertbar war. Ich bitte um Überlassung von Bewohnern, die sich in einem normalen Zustand befinden, damit die Versuche an Material erfolgen, das unseren Soldaten annähernd entspricht.
Gez. Reichsgesundheitsführer
In dem in die Jahre gekommenen Arztzimmer der Dorotheastraße sah man durch die Fenster, dass es draußen langsam dunkel wurde. Dr. Ebauer ging wieder zum Schreibtisch, zu Hertha Golzow – junge Mutter von zwei Kindern und Ehefrau von Paul Golzow, Weichenwart im Betriebsbahnhof Rummelsburg. Mit ihrer blassen Haut sowie dem dunklen speckigen Haar saß sie da und wirkte abgespannt und kraftlos. Ihr kleiner Sohn, der einjährige Robert, saß auf ihrem Schoß, blubberte in Kleinkindsprache vor sich hin und hielt seine Tippco-Spielzeuglokomotive in den tapsigen Händen. Ingrid, ihre neunjährige Tochter, lag auf der Behandlungsliege, die in der Ecke des Raumes stand. Ingrid war nur in Unterwäsche und durfte sich nun wieder aufrichten, nachdem sie Tante Doktor intensiv an Hals, Rücken und untenrum mit Lupe und Stirnreflektor untersucht hatte.
»Kannst dich wieder anziehen, Schatz!«
Dabei blieb Ingrid stumm und verhielt sich, als wäre sie durchsichtig.
»So, Frau Golzow. Ich gebe Ihnen hier eine Povidon-Iod-Lösung zur Behandlung der Schürfwunden mit. Die Blutergüsse bei Ingrid gehen sicher schnell weg, wenn Sie sie mit kalten, nicht zu feuchten Wickeln kühlen.«
»Mach ich. Ist sonst noch was, Frau Doktor?«
»Nun, Frau Golzow, können wir ehrlich zueinander sprechen?«
»Können wir, Frau Doktor. Sicher. Können wir!«
»Ich meine alleine!«
»Ja, sonst immer gern, nur jetzt ist es halt schlecht. Hab ja die Kinder dabei!«
»Einen Moment bitte!«
Ebauer lief zur Tür, die einen Spalt offen stand.
»Marianne? Kommst du bitte mal!«
Eiligen Schrittes kam Marianne lächelnd durch die Tür.
»Was gibt es denn?«
Hedwig musste nichts sagen und brauchte nur mit den Augen zu rollen, damit Marianne sofort Bescheid wusste und auf der Stelle reagierte.
»Na, Kinder? Wollt ihr mal kurz mitkommen? Ich brauche dringend fleißige Hände in der Küche. Tante Doktor will mal mit Mutti alleine reden.«
Mit dem Kleinen auf dem Arm und Ingrid an der Hand, schloss Marianne eilig die Tür und verschwand mit den Kindern, während Ebauer sich auf die Schreibtischkante setzte.
»Bei Ihrer Tochter ist glücklicherweise nichts gebrochen. Sie ist äußerlich mit ein paar blauen Flecken davongekommen.«
»Da bin ich aber beruhigt, Frau Doktor. Ich konnte ja kein Auge zumachen. Wenn Sie nur wüssten!«
»Was ich weiß, Frau Golzow, ist, dass Sie mit Ingrid bereits dreimal mit ähnlichen Geschichten hier waren.« Sie drehte die Patientenkartei. »Und zweimal, nämlich im August und Ende September, beklagten sie selbst Schürfwunden an der Schläfe. Ich diagnostizierte damals eine Gehirnerschütterung.«
»Tja, Kinder halt, Frau Doktor. Stehen immer im Weg und dann passiert’s. Bin halt wieder über Ingrid gestolpert.«
»Ach ja? Gestolpert?«
Hertha Golzow schaute stumm mit einem von Furcht betäubten Gesicht ins Nichts. Dr. Ebauer schwieg ebenfalls und nahm einen kleinen Spiegel vom Schreibtisch.
Langsam schritt sie um ihre Patientin und stellte sich hinter sie. Schließlich drückte sie ihr den Spiegel in die Hand und öffnete vorsichtig von hinten die Knöpfe ihrer Bluse, legte Nacken, Hals und Schulter frei. Beide Frauen wussten, was da zum Vorschein trat: rot-violette Würgemale, Schwellungen, Prellungen und Blutergüsse. Ein Kalender körperlicher Misshandlungen, Jahr um Jahr, Monat für Monat, tagein, tagaus. Keine einzige Verletzung, die wegen eines Sturzes oder eines tollpatschigen Haushaltsunfalls zustande kam. Das da wurde regelmäßig durch neue Prügelattacken und neue Schläge ergänzt. Wer das getan hatte, hatte unendliche Kraft und eine einzige Sprache: die Sprache der Gewalt. Hertha Golzow wusste, wer derjenige war, beschaute im Spiegel ihre vielen Wunden und begann bitterlich zu weinen.
»Es ist nur ab und zu. Er sorgt für mich. Er sorgt für die Kinder und kennt sich in allem so gut aus.« Im Spiegelbild sah sie über ihrem Kopf das Gesicht der Ärztin, die ihr mit weicher Stimme gut zuredete.
»Wir müssen sofort etwas tun! Wer permanent misshandelt wird, akzeptiert früher oder später auch Misshandlungen anderer. Eine endlose Spirale der Gewalt, Frau Golzow!«
Alles, was mit Kampf und Blut zusammenhängt, ist ausschließlich Sache des Mannes. Die Frau, die in dieses Getriebe gerät, wird dadurch nicht veredelt, sondern es wird die Frau schänden.
Adolf Hitler, 1940
Im Kriminalamt öffnete man nun die Fenster. Kriminalrat Lüdke hatte die Sitzung nun offiziell beendet. Der kühle Wind, der hineinströmte, verjagte den dichten Qualm. Man kam irgendwann zum Ende und wollte alsbald mit den Aktionen loslegen. Kollege Kuttnik sollte morgen früh den Dienst im Werk antreten, Zach und Adler sollten miteinander warm werden und ihre Ermittlungen beginnen. Nebe wollte sich um Verstärkung bei der Schutzpolizei kümmern und Görnitz wollte sich, wie so oft, aus allem heraushalten. Es blieb aber dabei: Nachrichtensperre, kein Wort an die Öffentlichkeit über diese Morde, Befehl von ganz oben. Lüdke war von der Geheimniskrämerei immer noch nicht überzeugt. Keine Minute durfte seiner Ansicht nach mehr vergeudet werden, ging es doch um Menschenleben.
Die Mitarbeiter verteilten sich hier und da im Saal, der sich mit Gelächter und lockeren Gesprächen füllte.
»Charmant und aufreizend sollen wir da erscheinen, Leute. Endlich kannste mal feine Strümpfe tragen, Ejon!«, so der eine Kollege zum anderen.
»Wolfi, du und Frauenklamotten? Pass bloß auf, sonst heiratet dich noch jemand vom Bahnsteig weg!«, so der andere Kollege zum einen.
Zach und Adler machten sich einander bekannt, lehnten locker an der Wand und plauderten.
»Wie ich merkte, durften Sie bereits an den Vorschusslorbeeren naschen«, sprach er. »Bisher gab es, nach meiner Kenntnis zumindest, noch keine Kommissarin bei der Weiblichen ?«
»Sie meinen meine Beförderung? Da ist die Tinte ja noch gar nicht richtig trocken.«
»Neid ist zwar kein Gefühl, das mich leitet, nichtsdestotrotz möchte ich Ihnen meinen Respekt für Ihren Mut aussprechen. Wenn man sich so etwas traut, muss mehr dahinterstecken als der nächste Schritt auf der Karriereleiter.«
Adler war froh, dass Zach so dachte. Er schien ihr auf den ersten Blick ein ehrlicher Mensch zu sein und konnte sich gepflegt ausdrücken. Nicht so eine Großschnauze, so ein Icke-dette-kieke-mal-Bulle, der jede billige Pointe auf Kosten anderer machte.
»Ich muss mich noch daran gewöhnen, mit Kommissarin angesprochen zu werden, aber die Aufgabe wird sicher leichter, wenn ich mit erfahrenen Kollegen wie mit Ihnen zusammenarbeite.« Sie bemerkte, wie Zach sie dabei ansah. Was sagte die Chefin? Er brauchte viel Lob. »Ich habe schon so viel Gutes über Sie gehört«, lobte sie ihn erneut. »Schauen wir mal, ob ich mich im Haifischbecken über Wasser halten kann. Sie müssen mir unbedingt erzählen, was Sie alles schon im Fall herausgefunden haben!«
Auch Zach fand ihre Art irgendwie originell.
Plötzlich unterbrach sie Adjutant Schiller mit angespannter Brust und knallenden Hacken.
»Kamerad Zach! Darf ich Sie bitten, mir zu folgen! Der Obergruppenführer möchte Sie sprechen!«
»Ich komme sofort!«
»So, so? Ka-me-rad Zach, also?«, stellte Adler scharfzüngig fest.
»Ich muss mich entschuldigen«, sprach er. »Obergruppenführer Görnitz will mich sprechen und Sie müssen zugeben, dass sein Dienstgrad noch ein paar Treppchen höher ist als Ihrer. Aber wie wäre es, wenn wir uns morgen gleich um zwölf zum Mittag hier im Restaurant am Werderschen Markt treffen? Die haben eine gute Suppe und gutes Bier.«
»Gut, abgemacht, Kamerad Zach. Morgen Mittag also.«
Nachdem er in Schillers Begleitung verschwunden war, kamen Lüdke und Hartmann auf sie zu. Lüdke brummte freundlich und umklammerte ihre schlanke Hand mit seinen fleischigen Fingern.
»Ich wollte mich noch einmal bei Ihnen bedanken, dass Sie sich so schnell bereiterklärt haben, diese Aufgabe zu übernehmen. Ich mag ja Frauen, die sich was zutrauen und ordentlich anpacken können, wenn es sein muss.« Dabei hielt er ihre Hand länger als nötig.
Kriminalassistent Zach stand indes schon bei Görnitz, der ihn mit kräftigem Männerhanddruck und stechendem Blick über den grünen Klee lobte.
»Ich wollte mich noch einmal bei Ihnen bedanken, dass Sie sich bereiterklärt haben, diese gefährliche Aufgabe anzutreten. Ich mag Typen, die sich was trauen und zupacken.«
»Ich danke Ihnen, Obergruppenführer und bin stolz, dass Sie mich so sehen«, antwortete Zach höflich wie ein Diener.
»Wir sollten bei Ihnen mal ganz schnell dafür sorgen, dass Ihre hervorragende Arbeit die entsprechende Anerkennung erhält. Wir verstehen uns doch, Zach! Die Zukunft gehört Ihnen!«
»Sicher, Herr Obergruppenführer«, antwortete Zach, obwohl er ihn keineswegs verstand.
»Sie kommen morgen zu mir!«
Er rief seinen Adjutanten.
»Schiller!«
»Jawohl, Herr Obergruppenführer!«
»Zugehört! Zach nimmt an der Tafelrunde teil. Dann sind wir morgen zu viert, verstanden.«
»Jawohl, Herr Obergruppenführer!«