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Der stämmige Willi Kuttnik hatte seine Bestimmung im Betriebswerk Rummelsburg gefunden und erwies sich hier als genau der richtige Mann. Er wurde zum Haustechniker ernannt. So kam er im Werk viel herum und konnte mal hier beim Kollegen einen witzigen Spruch ablassen und dort dem Kollegen einen Gefallen tun. Er wusste ja, wie man knapp gewordene Sachen organisierte.

»Mensch, Kutti! Da bin ick dir ja wirklich wat schuldig.«

»Nee, is’ jut, lass ma«, war dann immer seine Antwort. »Hast zwar keene Haare uffm Kopp, aber dafür jetzt ’n Kamm inna Tasche.« Und da Kuttnik sich ohnehin immer gerne und lange reden hörte, hatte er bereits auch schon eine Vielzahl an Kontakten im Werk geknüpft. Er nutzte jede Gelegenheit, um einen möglichen Verdacht aufzuschnappen und ihn sich zu merken. Meist ging er dann für eine Weile allein am Fuße des großen Wasserturms entlang, wo er unbeobachtet war, nahm seinen Monteurkasten von der Schulter und holte das kleine Notizbuch aus der Brusttasche seiner Latzhose. Hier notierte er Auffälliges und Auffällige im Werk, wie z. B.

macht oft sexuelle Bemerkungen //geht unerlaubte Wege im Werk//erweckt instinktiv Verdacht

Kuttnik stand heute schon früher am Turm. Er schrieb schnell fertig, steckte den Bleistiftstummel ins Buch und beides wieder ordentlich in die Brusttasche. In wenigen Stunden begann die Nachtschicht und er wollte den Weichenwart Golzow treffen, um ihm ein Gespräch aufzudrängen und ihn genau zu studieren.

Die Fahne hoch! Die Reihen dicht geschlossen! Das johlende Grölen der zwölf hohen SA-Männerstimmen drang durch das hintere Vereinszimmer der winzigen Kneipe Zum Schultheiss , Querweg 25, nahe den Gutland-Lauben. Eine Kneipe, die aus Zeit und Raum gefallen schien und in der es schwül nach Bier roch. Nach der schmissigen SA-Hymne wollte nun der GOBH, der Gebietsregionale Oberbefehlshaber, Ernst Klappenstedt, das Wort ergreifen. Doch genau in dem Moment, als er versuchte, vor dem versammelten SA-Dutzend das Wort zu ergreifen, quetschte sich noch schnell die Kellnerin durch die Flügeltüren und balancierte auf ihrem großen Tablett die frisch bestellten Biere. Sie hieß Renate Bangel und hatte einen stämmigen Körper, der im schlichten Rock und enger Bluse steckte. Sie schwitzte von der Arbeit, doch hielt ihre Wasserwelle der Schwüle im Raum stand.

»Hier! Nachschub, Jungs!«, rief Renate kumpelhaft in die Runde. »Lasst’s euch jutjehen, meine Hasen!«

»Reni! Du bist’n wahrer Schatz. Hast immer was zu trinken für uns!«, flirtete sie Golzow an und tat es dabei so laut, dass es jeder hier zwischen den holzvertäfelten Wänden mitbekam. Selbstbewusst hob er den Humpen.

»Männer! Ein Hoch auf unsere Reni! Bier schmeckt doch immer besser, wenn’s eine Frau einem bringt. Ich sage hoch, hoch, hoch

Schon beim zweiten »Hoch« jaulte der Rest der Chorknaben mit. Renate Bangel blickte verlegen in die Runde und verließ mit leerem Tablett unter dem Arm das Hinterzimmer durch die beiden Flügeltüren. Golzow blickte ihren bestrumpften Waden nach und trank seinen Schluck wie ein dürstender Fuchs. Er trank gerne Bier und meist sehr viel, doch trank er nie mehr als zwei Bier vor der Nachtschicht. Das musste reichten, da war er eisern.

GOBH Klappenstedt nahm dann den zweiten Anlauf.

»Männer! Diener des Führers! Kameraden! Ich halte hier eine dringende Depesche der Sicherheitspolizei im Reichskriminalamt zu meinen Händen. Geheimsache. Der Kenntnisstand: Die Polizei ermittelt nun im Zuge der Frauenmorde nach einem Mann im Umfeld. Demnächst soll es auch Aktionen mit verdeckten Kriminalermittlern in S-Bahnzügen geben. Der Befehl an uns Kameraden: Weitere Achtsamkeit. Unsere strebsamen Frauen aus den Betrieben der Reichshauptstadt im Wirkungskreis beschützen und betreuen. Soll heißen: Begleitdienst bis nach Hause!«

»Bis wohin ist nach Hause?«, fragte ein vollschlanker SA-Mann vorlaut vom Tischende dazwischen. »Sollen wa se och ins Bette bringen und Gute Nacht wünschen?«

»Genau, Männer!«, kam ihm Ogorzow mit lockerem Spruch zuvor. »Sich die Stuten packen und tief hinab in die Schlucht bringen, hinab zur Quelle und zum Wasser. Dabei sollen sie sich an unseren dicken Riemen festhalten!«

Die Lachsalve der Sturmbanntenöre explodierte.

»Zum Wohl, Kameraden!«, hob Golzow seinen Bierhumpen. »In Weib und Bier liegt die Kraft, die uns Männern Freude schafft!«

»So is’ es, Kamerad Golzow. Darauf ein Hoch , hoch, hoch

Luise Adler wollte heute auch Hertha Golzow besuchen, lag die Wohnung der Golzows ja ebenfalls in der Dorotheastraße und war nur einen Katzensprung vom Kindergarten entfernt. Sauber und ordentlich war es hier und es roch nach Putzmittel. Und während über dem Sofa ein großes Bild von Adolf Hitler im Goldrahmen hing, lag auf dem Tisch die Tafel Sarotti-Schokolade Vollmilch in ihrer Goldfolie.

Adler saß neben Hertha Golzow auf dem ziemlich neuen Sofa und es war nur sie, die die ganze Zeit redete. Sie berichtete von den Vergewaltigungen und den Morden an Frauen und dass die Polizei ihren Mann ins Visier nehmen müsse. Allmählich wusste sie aber nicht mehr so recht, wie sie weitermachen sollte mit dieser Frau. Schweigend, wie ein Stein, saß sie da und ihr kleiner Robert und seine Schwester spielten auf dem Teppich.

»Macht euch jetzt bettfertig, Kinder!«

»Nun, Frau Golzow, wie gesagt, es ist Blut bei den Opfern gefunden worden und wir haben da ein paar Anhaltspunkte und Verdächtige – und Ihr Mann ist aufgrund seines Postens im Werk, seiner Dienstkleidung und wegen der eher seltenen Blutgruppe einer von vielen. Vielleicht können Sie mir mehr über ihn erzählen.«

Hertha Golzow saß weiter regungslos da und schwieg minutenlang. Gerade der Mord der Untermieterin von Ärztin Ebauer ließ Hertha Golzow vor Schreck erstarren. Das Ganze war plötzlich so nah und erst am Sonntag war sie doch noch dort gewesen. Aber dass man nun ihren Paul als Triebtäter und Mörder verdächtigte, nahm ihr fast den Atem.

»Überlegen Sie ruhig ein wenig«, warf Adler ein und gab ihr Zeit.

Hertha Golzow überlegte nicht, sondern setzte ein Mosaik in ihrem Kopf zusammen. Es musste ja was sein, sonst wäre diese Kommissarin nicht hier, dachte sie. Ja, er war oft brutal. Ja, noch nach Tagen sah man ihre Blessuren, die er ihr zufügte und die sie gut zu verstecken wusste. Und ja, er hatte auch seine guten Seiten – aber sie dachte auch an das Blut am Diensthemd, an sein herablassendes Gerede und an seine Übergriffe, die sie jahrelang über sich ergehen lassen musste. Das passte alles ins Bild. Aber Paul ein Mörder? Niemals. Und selbst wenn er es am Ende war, was käme dann auf sie zu? Er war zu wichtig für sie, nicht nur, weil er das Geld regelmäßig nach Hause brachte, sondern weil allein sein Dasein dafür sorgte, dass alles so ruhig und einträchtig blieb, wie es war. Und was würden die Leute über sie sagen? »Da ist die Frau vom Mörder!«, würden sie sagen und alle mit dem Finger auf sie zeigen. »Und da ist der Sohn vom Mörder!« Ihr war schon ganz schwindelig von dem wilden Gedankenkarussell und sie verlor auf einmal die Selbstbeherrschung. Ein starker Weinkrampf überwältigte sie und Adler legte die Hand an ihre Schulter.

»Gewalt von Seiten der Männer schränkt Frauen immer ein. Sie will uns einschüchtern. Möchten Sie mir etwas über Ihren Mann erzählen, Frau Golzow?«

»Wissen Sie, …«, schluchzte Hertha Golzow und schluckte ihre Tränen herunter. »Wissen Sie, es ist so …« Sie stoppte und konnte nicht sprechen, obwohl hier endlich der Moment gewesen wäre, alles auszuplaudern, was sie belastete. Jedoch war sie längst zu einer professionellen Lügnerin geworden. Keine konnte besser gute Miene zum bösen Spiel machen, keine besser die Maskerade des Überlebens tragen, als sie. »Wissen Sie, Paul weiß viel, kann viel. Das mit dem Tripper hat ihn sehr mitgenommen. Er ist oft sehr zornig, weil er seit Jahren schon da unten ziemlich zugerichtet ist. Ich glaube, er wäre überhaupt nicht in der Lage, eine Frau zu schänden oder hätte gar die Kraft, sie zu töten. Glauben Sie mir, Frau Kommissarin. Paul ist vieles, aber kein Mörder. Er will nur manchmal seinem Ärger Luft machen, um ein glückliches Leben zu führen.«

»Wollen wir das nicht alle, Frau Golzow?«, entgegnete ihr Adler und ahnte, dass sie es hier mit dem Pakt einer Geisel und ihrem Geiselnehmer zu tun hatte. Denn die Lösung, um im Leben ohne Sorgen, aber auch ohne jegliche Ansprüche zurechtzukommen, schien bei Hertha Golzow die Gefügigkeit und nicht der Widerstand gewesen zu sein.

»Heil Hitler! Guten Abend, Frau Schiller. Kurt-Eugen Görnitz. Ich bin der Vorgesetzte Ihres Sohnes. Würden Sie mich bitte hereinlassen?«

General Görnitz stand mit Aktenordner unterm Arm vor der geöffneten Tür und gewährte sich Zutritt. Er schritt direkt ins Wohnzimmer, wo sein Befehlsempfänger und ihr Sohn, Harald Schiller, am Tisch saß.

»Ach, das ist also Ihr altes Zuhause, Schiller? Dunkel, aber sicher gemütlich!«

»Heil Hitler, Herr Obergruppenführer! Jawohl!«

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er und streckte der Dame des Hauses seine Hand in aalglatter Manier entgegen. »Ich bin der verantwortliche Chef der Sicherheitspolizei im Amt. Wir sind uns da noch nicht begegnet, da ich noch keine Veranlassung sah, mich in den unteren Gefilden der Weiblichen aufzuhalten.«

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Eva Schiller.

»Zunächst danke ich Ihnen, dass Sie mich in Ihre Wohnung gelassen haben. Bitte verzeihen Sie mir mein rüdes Eindringen in Ihren Alltag.«

»Aber ich bitte Sie. Nehmen Sie doch Platz.«

Er legte seine Mütze mit dem Reichsadler auf den Tisch und den Aktenordner daneben.

»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«, fragte sie und machte ihm eine frische Porzellantasse aus der Vitrine zurecht.

»Sehr gern und kann ich vielleicht auf eins Ihrer delikaten Leberwurstschnittchen hoffen? Ihr Sohn erzählt mir immer, wie gut die sind. Ich liebe Leberwurst.«

Sie reichte ihm den Teller, auf dem sich einige der bereits vertrockneten Häppchen nach oben gebogen hatten. »Frau Schiller, auch wenn ich über Ihre Aufgabe im Amt Bescheid weiß, entzieht es sich natürlich völlig meiner Kenntnis, ob Sie wissen, wer oder was ich bin? Sind Sie sich meiner Existenz bewusst?« »Ja, ich denke schon.« Sie warf einen Blick auf ihren Sohn und dann wieder auf Görnitz, der sie übertrieben lobte. »Das ist gut! Sehr gut, sogar! Dann wissen Sie sicher auch, welche Aufgaben ich zu erledigen habe?« Er stopfte sich ein weiteres Leberwurstquadrat hinein und sprach mit vollem Mund weiter. »Erzählen Sie mir, was Sie über mich gehört haben?« »Mein Sohn berichtete mir irgendwann, dass Sie Staatsfeinde aufspüren.« Görnitz lächelte. »Ihr Sohn hätte es nicht schöner ausdrücken können, nicht wahr?«

Aus dem eher ungezwungenen Plausch wurde plötzlich ein Verhör. »Wissen Sie, Frau Schiller, ich habe sehr viele Akten über diese Gegend und auch über Sie studiert. Und ich hätte da ein paar Fragen, Frau Schiller. Wenn Sie mir bei deren Beantwortung helfen wollen, kann meine Abteilung die Akte über dieses Haus, diese Straße, diese Gegend und Sie schließen.« Er nahm den Aktenordner und zog aus der Brusttasche seiner Uniformjacke einen großen schwarzen Füllfederhalter mit der Gravur Eigentum der Wehrmacht hervor. »Nach meinen Unterlagen ist der Verbleib aller Juden aus dieser Gegend geklärt – mit Ausnahme eines gewissen Dr. Simon Blumberg. Sie kannten ihn. Irgendwann schien er plötzlich vom Erdboden verschwunden zu sein. Und das lässt nur zwei Schlüsse zu. Entweder ist ihm die Flucht gelungen oder jemand hält ihn äußerst erfolgreich versteckt. Ist Ihnen eventuell über den Verbleib Blumbergs etwas zu Ohren gekommen, Frau Schiller?«

Eva Schiller antwortete nicht. Ihr Puls erhöhte sich heftig. Sie ließ sich aber nichts anmerken, auch nicht, als er weiterredete. »Wie ich hörte, waren Sie direkt nach dem Tod Ihres Mannes vor einigen Jahren bei Blumberg in Behandlung? Er unternahm regelmäßig Hausbesuche, er war oft bei Ihnen und Sie kamen sich näher.«

»Das sind alles Gerüchte«, umschiffte sie seine Unterstellungen. »Ach, ich liebe Gerüchte! Tatsachen können ja so irreführend sein, während Gerüchte, ob falsch oder richtig, einem oft die Augen öffnen. Also, Frau Schiller. Sprechen Sie frei heraus. Mich interessiert, was Sie dazu sagen.«

»In der Nachbarschaft sagt man, Dr. Blumberg ließ sich nicht aufhalten und er soll nach London ins Exil geflüchtet sein«, log sie. »Die anderen sprechen also von Flucht, Frau Schiller?«

Es war der alte Ehrenvorsitzende Edwin Schurrle, der im Stuhlkreis des Volkskindergartens die Eingangsworte für heute sprach. Das machte er immer. Schurrle war ehemaliger Rechtsanwalt und Verteidiger der Roten Hilfe , die 1929 gegründet wurde und damals in Berlins Untergrund Menschen vertrat, die wegen politischer Gesinnung inhaftiert wurden.

Er begrüßte die Männer und Frauen mit unterschiedlicher Herkunft, weltanschaulicher Prägung und Motivation. Neben den politischen saßen hier auch religiös motivierte Mitglieder, die sich kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten als Gruppe formierten.

»Ich beginne unsere Runde mit einem leidvollen Abschied und einem herzlichen Willkommen«, sprach Schurrle. »Unser lieber Peter wird uns verlassen. Der Krieg holt ihn, aber er hat mir versprochen, dass er dort, wo er sein wird, nicht Asche hinterlassen wird, sondern unsere Flamme weiter am Brennen hält.«

Peter Schenk saß da und blickte ernst. Alles lastete schwer auf seinem Gewissen, deshalb nickte er nur höflich und Schurrle fuhr fort.

»Es konnte aber ein guter Ersatz gefunden werden. Es ist ein Mann, der für uns viel riskiert, indem er uns mit Informationen aus den engsten Kreisen der Herrschenden versorgt. Wir begrüßen dich, Herrmann Bohr!«

Bohr blickte alle im Kreis mit wachen Augen an und nickte freundlich. Johanna nickte ihm nicht zurück, war schlecht gelaunt und auf Krawall gebürstet. Sie hatte viele Gründe: Ihr Bruder Peter würde bald weg sein, kaserniert in Bromberg, ihre Eltern erwiesen sich als Förderer von Auslese und Euthanasie, die Lage in der Stadt spitzte sich immer mehr zu und dann war da ja noch Christian, der hier neben ihr saß und dem sie verheimlichen musste, dass ihn die Kripo fast zum Mörder erklärt hätte. Und Peters Freund, dieser Bohr, missfiel ihr ebenfalls, wurde sie aus ihm überhaupt nicht richtig schlau. Ein Nazi-Angestellter im Stuhlkreis des Widerstands, das konnte nicht gutgehen. Auch wie er hier gleich als Erster wichtigtuerisch wie ein Streber seine Hand hob, um sich mitzuteilen, regte sie auf.

»Ich möchte gleich einen Denkanstoß in die Runde geben, der vielleicht unser aller Leben retten kann und möchte mich deutlich zu den Plänen am 15. Dezember äußern, dem geplanten Anschlag am Werderschen Markt bei der Sipo in Block D.«

Während Peter ihn vom Nebenplatz her anschwärmte, zeigte sich Johanna auf der gegenüberliegenden Seite des Kreises weiter genervt. Unbemerkt dessen führte Bohr seine Weisheiten weiter aus.

»Es mag jetzt und im Augenblick sicher ein triumphierendes Machtgefühl für uns alle sein, aber geben wir uns nicht einer Täuschung hin? Hat diese Art von Widerstand eine Chance, wenn wir einen Anschlag auf das Polizeiamt, auf Unschuldige, unternehmen?«

Peter, der ohnehin momentan mit den eigenen Ansichten haderte, unterstützte ihn sofort.

»Ich muss Herrmann recht geben. Wir haben doch alle diese Kriegsscheiße satt. Wir erleben genug Irrsinn und Blutvergießen und verschwenden ein erhebliches Maß unserer Nerven und unseres Verstandes. Wollen wir wirklich noch mehr Irrsinn anzetteln, indem wir eine Bombe hochgehen lassen? Ich jedenfalls kann das Vorgehen unserer Bewegung nicht mehr vor meinem Gewissen rechtfertigen.«

Raunen bis Zustimmung bei vielen im Kreis. Johanna, sonst eher mit Sanftheit in der Stimme, redete über das Gebrabbel hinweg.

»Das ist doch Irrsinn, was ihr hier behauptet. Wenn ein kranker Patient zum Arzt geht, will er auch nicht hören, dass er eine lebensbedrohliche Krankheit hat, aber der Arzt muss ihn darauf aufmerksam machen und ihn heilen, auch wenn die Medizin für ihn bitter ist. Es spricht nichts gegen die Notwendigkeit einer Revolte. Wir sind nicht der Terror – das System ist der Terror. NEUANFANG bezeugt, wie falsch es ist, was Millionen andere tun. Zerreißen wir endlich den Mantel der Gleichgültigkeit, den sie um unser Herz gelegt haben, Freunde!«

Diese platten Formeln waren für Herrmann Bohr nichts weiter als kitschige Flugblattsprüche in schiefer Schrift.

»Du willst Konfrontation gegen die Macht?«, sprach er direkt zu ihr. »Tut mir leid, aber die wittern doch, was hier gespielt wird. Deshalb sollten wir das Ganze abblasen. Terroranschläge, Sprengstoff, man wird kurzen Prozess mit uns machen und uns alle an den Galgen hängen. Oder welche Reaktion erwartet ihr?«

Johanna fragte sich immer mehr, was Bohr eigentlich mit solchen Ansichten hier suchte? Cornelius spürte ihre Aufgeregtheit, wollte ihr helfen und provozierte Bohr, indem er gleich persönlich wurde.

»Du stellst viele Fragen, Herrmann«, sprach er. »Aber, sag mir, was tust du als Beschäftigter und Nutznießer des Nazistaates eigentlich? Was tust du gegen diese Diktatur, die Kriege anzettelt und die eigenen Landsleute unterdrückt, verfolgt und deportiert? Was tust du gegen dieses Regime, das systematische Vernichtung betreibt und in dem Konzentrationslager entstehen? Kannst du das widerstandslos über dich ergehen lassen?«

Bohr glaubte nicht, was er da hörte. Es waren Argumente aus der untersten Schublade. Die Diskussion geriet nun zum Streit.

»Schaut ihn euch an! Da faselt ein alter Zwölfender, der Zyklon B erfindet und sich mit seiner Unterschrift dafür stark macht, dass das Gift zur Massenvernichtung gegen Juden, gegen Andersdenkende, gegen Schwule und Lesben und gegen die eigenen Landsleute eingesetzt wird. Da nennt sich ein Mann aus der Vergangenheit Widerstand und will die Zukunft mit Gift zurechtbiegen. Und seine kleine naive Mädchenfreundin hier will mit Dynamit das Regime besiegen und nimmt dabei unser aller Leben und das Leben Unschuldiger in Kauf. Glaubt ihr wirklich, ihr seid so anders als die, die ihr bekämpfen wollt? Ihr seid mit derartigen Vorhaben auch nichts weiter als Mörder.«

»Hör auf!«, schrie Johanna wie ein beleidigtes Kind und bäumte sich vor dem größeren Bohr auf. »Bist du für uns oder gegen uns?« Sie zeigte zur Tür. »Los, raus hier! Wir können hier keine Nazis gebrauchen!«

Bohr verließ den Kreis, kehrte allen den Rücken zu und zischte warnende Worte zu Johanna.

»Du verstehst es nicht! Sieh es doch als Warnung, Mädel. Es wird nicht einmal eine halbe Stunde dauern, bis deine Träume einer besseren Welt platzen werden. Sie stehen bereits auf der Straße und werden uns alle hoppnehmen, ganz einfach. Ich weiß, wovon ich spreche.« Er ging zielstrebig und schnellen Schrittes durch die Tür, die er laut und kräftig zuschmiss. Alle anderen auf den Stühlen blickten zu Cornelius und starrten ihn an. Wacher als zuvor sah der wiederum zu Johanna. Es bestand Gefahr, sie mussten sich hier sofort auflösen und Bohr aufhalten.

»Geht alle durch den Hinterausgang nach Hause und verstreut euch! Ich versuche, Bohr aufzuhalten.«

Willi Kuttnik war im Umkleidebereich in Haus III des Betriebsgeländes Rummelsburg. Er stand auf der hohen Leiter und hatte mit geschickten Handgriffen dafür gesorgt, dass seine Fehleranalyse lange Zeit in Anspruch nehmen würde. Von der Leiter aus hatte er einen guten Überblick und konnte durch die großen Fenster hinaus auf das gesamte Betriebsgelände blicken – weit bis zu den S-Bahnschienen und noch viel weiter über das endlose Kleingartengebiet. Damit seine Spionage nicht auffiel, klopfte er ab und zu mit einem winzigen Schraubenzieher prüfend auf den großen Lampenkasten.

»Hol dir da oben mal bloß keenen Schlach, Kutti!«, sprach unten Werner Rappitzke, der kräftige Schlosser, der mit seinem Hinterteil schlaumeierisch am Waschbeckenrand lehnte und den letzten Tropfen Muckefuck aus seinem Becher schlürfte. »Nich’, dass de dir eene einfängst!«

»Weeste, Werna«, warf Kuttnik ihm von der obersten Sprosse wieder zurück, »da is’ eene eenzje kleene Schraube und die macht mia dit Leben zur Hölle. Ick brauch hier noch!«

»Jut, ick muss wieda los, Kutti!«, sprach Rappitzke und schraubte den leeren Becher mit seiner großen ölverschmierten Handwerkerpranke auf die Flasche. »Ick muss heute Nacht nämlich noch die Achslager und die Ölleitungen kontrolliern und die Federspannschrauben festziehen.«

Nach diesen Details des Kollegen blieb Kuttnik nur noch, ihm gutes Gelingen zu wünschen.

»Werna. Bleib fleißig, ick wünsch dia wat!«

Rappitzke verschwand Richtung Treppenhaus und Kuttnik war unbeobachtet. Schnell holte er ein kleines Opernglas aus der Brusttasche und blickte durch die großen Fenster nach draußen. Der abnehmende Mond leuchtete heute hell am Himmel und überall waren die Konturen klar zu erkennen. Das war es also, dachte er bei sich, als er den Kopf wie einen Radar kreisen ließ. Das Jagdrevier des Täters, das Areal, in dem der Mörder in dunklen Nächten umherstreifte und seine Beute erlegte. Der Ort, an dem er sie überfiel, auf sie einschlug, einstach, sie vergewaltigte und aus dem Zug warf – wo Frauen vor Schmerzen stöhnten, schrien, flehten, um Gnade baten und doch sterben mussten.

Auf einmal erblickte Kuttnik in der Ferne einen hellen Punkt. Es war eine Person, ein Mann, der sich wie ein Fuchs durch die Nacht bewegte und routiniert vom hohen S-Bahnsteig des Betriebsbahnhofes Rummelsburg hinab auf die Gleise sprang. Zwar stürzte er zwischendurch, stellte sich aber schnell wieder auf die Beine. Er rannte im schnellen Lauf quer über die Schienenstrecken und gewährte sich mühelos Zugang durch die Tore der Zäune, die die Regionalgleise von Ferngleisen trennten. Er war schnell und Kuttnik hatte Mühe, ihn weiter mit dem Fernglas zu verfolgen, doch erkannte er, je näher der Mann kam, dass er eine SA- Uniform trug und gezielt den Eingang ansteuerte. Es war kein anderer als Weichenwart Golzow, der hier zwanzig Minuten verspätet zum Nachtdienst erschien.

»N’ Abend, was machst’n da oben?«, rief Golzow bei seiner Ankunft dem unbekannten Kollegen auf der Leiter zu. Kuttnik antwortete zuerst nicht, sondern stieg mit seiner behäbigen Art die knarzenden Sprossen hinab, um sich persönlich vorzustellen.

»Ick globe, wia kennen uns noch nich’. Willi Kuttnik. Kannst mich Kutti nennen. Ick bin der neue Elektriker.«

»Ich bin Paul. Bin hier im Stellwerksdienst Weichenwärter.«

Nach ein paar weiteren scherzhaften Floskeln streckte Kuttnik ihm die Hand hin, die dieser nicht erwidern wollte. Kuttnik erkannte schnell, dass es sich nicht um eine Unhöflichkeit von ihm handelte, sondern dass Golzows Hände schmutzig und blutig waren.

»Kann dir leider nich’ die Hand geben. Gerade gestürzt, Abkürzung über die Schienen. Sturmabend. Spät dran halt.«

Kuttnik musterte ihn von der Seite und sah, dass auch das Hemd und die Hosenbeine seiner SA-Tracht abgewetzt, schmutzig und voller Blutflecken waren. Scheinbar hatte er sich beim Sturz auf die Schienen Verletzungen an den Händen zugefügt und das Blut an Hosentaschen und Hosenschlitz abgewischt.

»Brauchste vielleicht ’n Pflaster, Kolleje?«, fragte ihn Kuttnik.

»Nee, lass mal! Meine Hertha kriegt das wieder raus. Soda hilft da, sagt sie. Da können die Frauen wirklich mal was besser.«

Golzow zog sich das Hemd über den Kopf, ohne es aufzuknöpfen, stellte sich mit freiem Oberkörper vor das Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. Im Rauschen und Dampfen des Wassers griff er zur kleinen hölzernen Nagelbürste und zum großen Stück Kernseife, um sich Hände und Arme gründlich wie ein Chirurg nach der Operation einzuseifen.

Kuttnik kramte fadenscheinig im Werkzeugkoffer herum und suchte in seinen Gedanken nach einem Thema, um die Unterhaltung weiter am Laufen zu halten, da fiel ihm plötzlich das ledernde Halfter mit dem Messer an Golzows Gürtel auf.

»Sag mal! Wozu braucht ihr eigentlich so’n Spielzeug bei der SA?«

»Ach, weißt du, mit so einem Spielzeug kann man viele praktische Dinge tun, Kollege. Man kann Wurst schneiden, man kann auch Brot schneiden und man kann Bierflaschen öffnen.« Dann drehte er den Wasserhahn fest zu und trocknete sich ab. Kuttniks Gesicht verriet nichts von dem, was er gerade über das Gesagte dachte. Was er jedoch plötzlich erblickte, irritierte ihn enorm. Berichtete der Weichenwart doch gerade eben noch, dass er gestürzt war, entdeckte er an dessen sauberen Händen und Armen weder Verletzungen noch Kratzer. Er blickte zur Sicherheit noch einmal in den Ausguss des Waschbeckens, um sich davon zu überzeugen, wie sich dort langsam das blutschmutzige Seifenwasser im Strudel drehte und abfloss.

»Ach«, warf Golzow ihm im Gehen noch hinterher. »Und dann gibt es bestimmt noch die eine oder andere Gelegenheit, bei denen der Gebrauch außerhalb der Küche geschieht. Aber da brauchst du dir keine Sorgen machen, Kollege. Bei mir sind das höchstens drei Gelegenheiten im Jahr, maximal.«

Görnitz machte sich hier und dort Notizen auf seinen Papieren, sammelte alle zusammen und heftete sie zurück in den Aktenordner.

»Gut, ich denke, das sollte reichen. Dürfte ich, bevor ich gehe, mir noch eines Ihrer herrlichen Leberwurstschnittchen stibitzen?«

»Aber natürlich, greifen Sie zu.«

Görnitz schmatzte erst still mit geschlossenem Mund, dann laut, während er wieder zu reden begann.

»Frau Schiller, bevor ich gehe, eine Frage: Wissen Sie eigentlich, welchen Spitznamen man mir im Amt verpasst hat?«

»Verzeihung, aber so etwas interessiert mich bei der Arbeit nicht.«

»Aber wissen Sie es?«

»Nein, tut mir leid.«

»Schiller! Sagen Sie es ihr. Sagen Sie Ihrer Mutti, wie man mich nennt!«

Ihr Sohn Harald half ihr, auch wenn sie in dieser Situation von ihm keinerlei Unterstützung mehr erwarten konnte.

»Man nennt ihn Den Kammerjäger , Mutter.«

»Korrekt, Schiller! Kammerjäger. Ich jage Ungeziefer, Schädlinge oder werden wir doch direkter: Ich jage Widersacher, Staatsfeinde und Kakerlaken. Wollte man nämlich bestimmen, welche tierischen Attribute dem Juden eigen sind, dann wären es tatsächlich die der Kakerlake. Kakerlaken gehören zu den ältesten Tierarten auf der Erde und finden immer einen Weg. Durch jede Kloake und jede noch so kleine Ritze. Sie sind sehr bewegliche und hartnäckige Tiere. All die Jahre krochen und krabbelten sie zufrieden durch die Chefetagen deutscher Kaufhäuser, durch die Kinos, die Finanzwelt und das Pressewesen und nisteten sich in jedem Bereich unseres Lebens ein. Auch viele Ärzte waren unter ihnen. Sie verursachten immense Schäden und gehörten zu den unangenehmsten Plagegeistern im Deutschen Reich. Ab und zu findet man irgendwo noch Restbestände von ihnen, weil sie die Gutmütigkeit, zum Beispiel von älteren deutschen Sekretärinnen, missbrauchen. Meist in ihren Wohnungen, hinter ihren Wänden, unter und sogar in ihren Betten.«

Für Eva Schiller hätte hier schon Schluss sein können, doch Görnitz ließ nicht von ihr ab.

»Bedenken Sie nur, Frau Schiller, in was für einer Welt so eine Kakerlake lebt. In was für einer feindseligen Welt.«

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen?«

»Frau Schiller, wenn in diesem Augenblick eine Kakerlake hinter der Wand hervorkrabbeln würde, dann würden Sie doch zum Teppichklopfer greifen und versuchen sie zu vernichten?«

»Ich denke schon.«

»Und hat je eine Kakerlake Ihnen in Ihrem Leben etwas angetan, Frau Schiller?«

»Kakerlaken vermehren sich schnell und verbreiten Krankheiten, die das Immunsystem zerstören, wie ich hörte.«

»Ganz genau, Frau Schiller. Sie vermehren sich und zerstören das System. Ganz genau. Aber keine Kakerlake käme auf die Idee, Ihnen zu schaden. Sind Sie in Ihrem Leben auch nur an einem einzigen Tag wegen einer Kakerlake krank gewesen? Ich versichere Ihnen, dass jede von einer Kakerlake übertragene Krankheit ebenso gut von einem Marienkäfer übertragen werden könnte. Und ich nehme nicht an, dass Sie gegen Marienkäfer etwas hätten oder, Frau Schiller?«

»Nein.«

»Obwohl beides Insekten sind, richtig? Und mal abgesehen davon, dass der eine als Glücksbringer gilt und süße Punkte hat und die andere einen ekligen, schwarzen Körper: Sie mögen keine Kakerlaken, Frau Schiller, oder? Ohne genau zu wissen, warum. Sie wissen nur, dass Sie sich vor ihnen ekeln.«

»Ich weiß immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen?«

»Verehrte Frau Schiller, lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Was ist in diesen Zeiten des Krieges Ihre erste Pflicht? Ist es in dieser wichtigen Zeit nicht Ihre Pflicht, Ihr eigenes Leben zu retten?«

Görnitz ließ diese Frage lange im Raum stehen. Eva Schiller schwieg.

»Das war eine Frage, Frau Schiller! Was sehen Sie in diesen Zeiten als deutsche Sekretärin eines wichtigen Amtes als Ihre erste Pflicht an?«

»In erster Linie, mein Leben zu beschützen und meine Arbeit zu behalten.«

»Ganz richtig – und meine Pflicht gebietet es mir, dass wir nun Ihre Wohnung gründlich durchsuchen, bevor ich offiziell Ihren Namen und den von Dr. Blumberg von meiner Liste streichen kann. Und seien Sie versichert, sollte es hier Unregelmäßigkeiten geben, werden wir sie finden. Es sei denn, Sie haben mir etwas zu sagen, das eine große Durchsuchung erübrigt. Ich sollte vielleicht noch hinzufügen, dass jede Information, die mir die Ausübung meiner Pflichten erleichtert, nicht etwa Strafe nach sich zieht, ganz im Gegenteil: Sie wird belohnt. In Ihrem Fall, dass Sie Ihre langweilige Stellung bei der Weiblichen Kriminalpolizei behalten und wir Sie in keiner Weise mehr belästigen werden. Morgen geht’s dann wieder zur Arbeit und die Sache bleibt unter uns.«

»Mutter, mach kein Theater«, zischte ihr Sohn. »Sag was! Es hat keinen Sinn. Ich weiß es. Er weiß es. Alle wissen es!«

Hass versteinerte die Gesichter der beiden Männer.

»Sie gewähren Feinden des deutschen Staates Schutz, ist das richtig?!«

»Ja.«

»Ich verstehe Sie so schlecht! Sie halten hinter dieser Wand, hinter dieser Tapete, Dr. Simon Blumberg versteckt, richtig?«

Dr. Hedwig Ebauer saß im weißen Nachthemd auf dem Bett ihres Schlafzimmers und las alles noch einmal, was sie geschrieben hatte.

Ihr Lieben!

Mir fällt es schwer, meine Gefühle über die Wichtigkeit dessen, was mir klar geworden ist, auszudrücken. Ich wollte Menschen helfen, doch habe ich wenig Beeindruckendes getan. Ich hatte Angst vor dem Urteil anderer. Angst schwächt und lähmt. Wenn man sie zulässt, wächst sie mehr und mehr, bis nichts mehr von einem übrig ist, außer einer leeren Hülle. Kann denn Liebe Sünde sein? Ist sie nicht der schönste Funke im Leben? So habe ich doch allen Grund, mich meinem Schicksal hinzugeben und euch Adieu zu sagen. Gleich bin ich wieder bei meinem Schatz .

Von allen Sünden, die der Sünderin vorgehalten werden, ist der Tod die geringste Anschuldigung. Lebt ihr alle wohl. Hedwig

Zweimal faltete sie das edle Büttenpapier und steckte es entschlossen in das Kuvert, das sie auf dem Nachttisch platzierte. Unten im Haus drehte sich die Schallplatte und spielte das letzte Stück. Ein junger Dirigent namens Herbert von Karajan dirigierte das Orchester, das er später für den Rest seines Lebens dirigieren sollte, die Berliner Philharmoniker. Lacrimosa , was so viel wie tränenvoll bedeutet. Es war ein Requiem, eine Totenmesse, Mozarts letztes Stück. Ein ergreifender Eindruck, den das Genie der Welt an seinem Ende hinterließ. Der letzte Eindruck, den Hedwig Ebauer zurücklassen wollte, sollte ein bescheidener sein, ohne großes Requiem. Wie eine Schlafende wollte sie zufrieden im Bett zurückbleiben. Das war wichtig, wenn man ihren toten Körper hier nachher finden würde. Deshalb hatte sie sich vom grotesken Schick, der schrägen Schminke und dem langen Abendkleid befreit und wirkte in ihrer weißen Nachtwäsche wie eine Frau, die nur noch eins wollte, nämlich für den Himmel bereit sein. Sie hatte alle Vorkehrungen getroffen, die man als erfahrene Ärztin treffen konnte. Sie wusste genau um die Dosierung und Kombinationen der Medikamente, mit denen man den Übergang in den Tod erreichte.

Lacrimosa dies illa. Qua resurget ex favilla. Judicandus homo reus.

Tränenvoller Tag, an dem aus der Asche ein Schuldiger aufersteht, um verurteilt zu werden .

Der Tod war für sie immer eine Versuchung gewesen – jetzt schien sie ihr ganz nah zu sein. Zuerst brauchte man Codein. Ein paar Tropfen wirkten bereits, jedoch war man erst bei 40 ml auf der sicheren Seite. Es machte schnell abhängig, doch spielte das jetzt keine Rolle mehr. Gerade die Halluzinationen und Gedächtnisstörungen waren für den gleitenden Übergang perfekt. Doch war es für einen geregelten Suizid zu unsicher. Erst in Kombination mit einem guten Hypnotikum machte alles wirklich Sinn.

Huic ergo parce, Deus.

Lass deine Engel schweben, Gott .

Hedwig Ebauer glaubte an die Empfehlungen der Allgemeinmedizin. Die schlug Bromide oder Kaliumchlorid vor. Der leichteste, leiseste und absolut sicherste Weg, sich von der Welt zu verabschieden. Ihr Atem wurde flacher, ihre Muskeln wurden schlaffer und ihre Augen reagierten nur noch schwach, bis sie sich schlossen.

Die letzten Sekunden vergingen und sie war fast da. Nichts war größer, nichts war stärker und erhabener, als dieser letzte Moment.

Pie Jesu Domine, Dona eis requiem.

Jesus, Herr du mild und weich, Lass sie ruhn in deinem Reich .

Amen

Die Vorsehung hat der Frau die Sorgen um diese ihre ureigenste Welt zugewiesen, aus der sich dann erst die Welt des Mannes bilden und aufbauen kann. Diese beiden Welten stehen sich daher nie entgegen. Sie ergänzen sich gegenseitig, sie gehören fest zusammen, wie eine Ehe auch nur aus einem Mann und Frau bestehen kann.

Adolf Hitler