Freitag, 29. November 1940
Zwei Tage später folgte die nächste große Besprechung im Sitzungssaal des Kriminalamtes mit bekannter Besetzung: Lüdke als Vorsitzender und circa ein Dutzend rauchender Köpfe. Kuttnik saß am Protokoll, Görnitz seinem Diener Schiller gegenüber, Adler neben Hartmann und Zach wieder neben Kuttnik. Nur Polizeichef Arthur Nebe fehlte diesmal und ließ sich aus Termingründen entschuldigen.
Lüdke wollte es immer noch nicht fassen. Angesäuert stach er kräftig die Reißzwecken in die Winkel des vom Erkennungsdienst angefertigten Schwarzweißfotos.
»Die dritte Tote, das gleiche Schema. Renate Bangel, 45 Jahre alt, Kriegswitwe, Tresenkraft in der Gastwirtschaft Zum Schultheiss . Gartenkolonie Gutland Zwo. Misshandelt, vergewaltigt, getötet.« Er schwieg andächtig, um das Dargestellte bewusst wirken zu lassen. Was das Foto abbildete, war unsäglich würdelos: Im Schneeregen lehnte die Tote mit starren Augen, die ihr noch niemand geschlossen hatte, an einem verrosteten Maschendrahtzaun am Wegesrand der Kolonie. Ihr Kopf war zur Seite gesackt, ihre Zunge hing ihr aus dem Mund, der Rock war hochgezogen bis zu den Strumpfhaltern, der Schlüpfer hing in ihren Kniekehlen.
»Ich würde da nachts nicht mehr rumlaufen, ohne meine Knarre in die Hand zu nehmen«, sprach Lüdke.
Doch sollte es noch schlimmer kommen. Ohne Ankündigung fixierte Lüdke ein zweites Foto. Es war eine Detailaufnahme aus der Rechtsmedizin. Ein Brustbild der Bangel, das sofort Entrüstung auslöste. Sogar die erfahrensten Kollegen wandten sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ab. Lüdke brach sein Schweigen.
»Die Lage der Bangel lässt nicht auf einen Kampf schließen. Die Spurensicherung versuchte, Fußabdrücke um sie herum zu finden und mit Gips abzunehmen, doch kam man durch den Schneeregen zu keinem Ergebnis. Sie muss von der Attacke völlig überrascht worden sein. Ich erspare uns, darüber zu spekulieren, ob der Täter sie im Blutrausch bei lebendigem Leibe quälte oder sich erst danach an ihren Brüsten austobte.«
Was man sah, glich einer Inquisition. Der Peiniger hatte ihr in einem Zug die Kehle durchtrennt und ihr die Brustwarzen samt Warzenhof mit chirurgischer Genauigkeit amputiert. Ein widerwärtiger Anblick, doch war es wieder Görnitz, der dem Schrecken keinen Raum gab. Mit seiner bissigen Art fuhr er Lüdke in die Parade.
»Och, Lüdke! Mir kommen gleich die Tränen! Wir sind doch hier bei der Kripo und haben uns an Bilder wie diese doch gewöhnt, oder nicht? Was Sie uns hier vorführen, ist tragisch, sehr tragisch sogar. Doch leider zeigen Sie uns nur einen Ausschnitt der Wahrheit. Ich zeige Ihnen mal die Ganze.«
Görnitz langte in eine Akte, die vor ihm lag und hing ebenfalls eine Fotografie an die Korkwand. Zu erkennen waren schummrige Umrisse, vieles war verschwommen, doch erkannte man hier einen Toten: Ein Mann mit Hut und feinem Mantel, der auf dem Bürgersteig einer dunklen Wohnstraße lag. Sein Kopf lehnte seitlich auf seinem Arm und sein Gesicht war deutlich zu erkennen. Es war das Gesicht von Herrmann Bohr. Diätar, Peters Romeo und U-Boot im Widerstand.
Zach, der das Gesicht sofort erkannte, stockte der Atem. Er konnte es fast nicht glauben, dass es wirklich Bohr war und hatte so seine Zweifel, ob es sich hier um Wahrheit, Zufall oder schmieriges Bauerntheater, frei nach der Regie von Görnitz, handelte, der selbstverständlich gleich alle über die prekären Umstände des Fotos unterrichtete.
»Entzückend, oder? Wir sehen hier Herrmann Bohr, einen treuen V-Mann. Staatsbediensteter unseres Hauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße. Was wir hier ebenfalls sehen, Herrschaften, ist Opfer Nummer vier in unserer Angriffsreihe der Staatsfeinde. Aufgespürt in selbiger Nacht von wachen Mitarbeitern der Geheimen Staatspolizei. Identifiziert in Karlshorst vor der Eckkneipe in der Treskowallee, Ecke Dorotheastraße. Heimtückisch ermordet durch mehrere Pistolenschüsse in den Rücken. Ich werde dazu eine Akte für den Reichsführer SS anlegen. Ein eindeutig gegen unser Reich gerichteter Vorgang.«
Lüdkes Nerven lagen ohnehin schon blank, doch machte es ihn regelrecht wütend, dass Görnitz den undurchschaubaren Fall wieder und wieder als politischen Angriff auf Staat und Führer hinstellen wollte – mit allen Tricks, koste es, was es wolle. Er wurde laut, schlug auf den Tisch und sprach aus, was viele insgeheim dachten.
»Was soll das denn hier! Das reicht mir endlich! Wieso weiß ich als Leiter des Verfahrens von dem hier nichts? Wir sind doch hier kein Gemischtwarenladen der Gestapo, wo man einfach mal ’ne Leiche auf die Straße legt, um mit dem politischen Finger auf den Fall zu zeigen. Erstens: Wir hatten etliche weibliche Gewaltopfer in den letzten Monaten. Drei Frauen starben auf übelste Weise. Tatwerkzeuge: Messer, steife Brechstange und steifer Penis; bisher aber keine Männer und keine Pistole. Zweitens: Das Motiv ist klar und die Verdachtsmomente werden immer deutlicher. Und drittens: Wir suchen einen Frauenmörder! Will das endlich in Ihren Kopf, Görnitz!«
»Oh, Lüdke!«, konterte der sofort und versuchte, ihn zu übertönen. »Sind Sie wirklich so naiv und unterschätzen das? Begreifen Sie es doch endlich! Da massakriert nicht ein Einziger ein paar bedeutungslose Weiber, das Ganze hat System! Ein innerer, staatszersetzender Angriff von einer Gruppe Halbmenschen!«
Lüdke platzte die Hutschnur.
»Wir sind hier bei der Kripo und ermitteln professionell an einer Summe von Gewaltverbrechen an Frauen der Umgebung. Bei uns leitet ein Erkennungsdienst kriminaltechnische Ermittlungen. Er sichtet, sichert und dokumentiert haarfein Indizien. Ob Fotos, Fußabdrücke der Spurensicherung oder Obduktion der Opfer durch die Gerichtsmedizin. Wir nehmen diese Indizien ernst, werten sie aus und gehen diesen nach. Habe ich mich klar ausgedrückt!« Lüdke war hochrot und ließ sich nach seinem Wutanfall auf den Stuhl fallen. Er nahm den Zigarrenstummel aus dem Aschenbecher, zog daran und stieß den Rauch wie eine Lokomotive aus.
»Lüdke! Seien wir doch ehrlich zueinander«, sprach Görnitz. »So mal von Mann zu Mann. Aus ihrem groß angekündigten Experiment Quadriga scheint ja eher eine schlappe Luftnummer geworden zu sein. Seit Tagen suchen Sie den Fuchs von Karlshorst, und es ist nichts dabei herausgekommen, außer dass immer mehr Menschen sterben. Allesamt bedeutsame Mitglieder unseres Volkskörpers: Eine Rüstungsarbeiterin, eine Krankenschwester, ein Staatsbeamter sowie eine Hausärztin …«
»… Frau Dr. Ebauer hat Suizid begangen«, unterbrach ihn Lüdke. »Das ist etwas ganz anderes und hat wenig mit dem Mörder zu tun, sondern ist eine tragische Randerscheinung. Kollegin Adler und Klaussner können bezeugen, dass die Frau verzweifelt war. Sie wollte nicht weiterleben und sah keinen Ausweg aus ihrer Situation.«
»Randerscheinungen. Schön, wie auch immer«, sprach Görnitz. »Doch ist es nicht sonderbar, Lüdke? Ausgerechnet dort und ausgerechnet im direkten Zusammenhang mit dem Mord an ihrer Untermieterin oder soll ich eher sagen: Ihrer Bettnachbarin?«
»Wat’n für ’ne Bettnachbarin?«, tuschelte Kuttnik leise in die Runde.
»Gut, dass Sie das fragen, Kamerad Kuttnik!«, reagierte Görnitz auf seinen Zwischenruf. »Mir stellen sich nämlich tausend Fragen. Und die entscheidendste ist: Was haben Sie als gemischte Suppentruppe hier eigentlich bisher erreicht?«
Es war nun Zach, der sich traute, den Kleinkrieg der Instanzen zu entschärfen und vom derzeitigen Stand der Ermittlungen zu berichten. Doch fiel er Chef Lüdke eigentlich damit noch mehr in den Rücken und machte es schlimmer. Er sprach von den vielen Verdachtsmomenten, die aus seiner Sicht ganz klar für Christian Cornelius als Täter sprachen und berichtete von Viktoria Cornelius, die ihm in ihrer Wohnung von dem moralischen Verfall ihres Ehemannes erzählt hatte.
»Meiner Ansicht nach spricht alles für diesen Cornelius«, sagte er irgendwann. »Er ist halt ein Eigenbrötler, der in der Laubenkolonie wohnt und dort ein recht sonderbares Außenseiterleben mit junger Geliebter führt. Ich glaube, dass sein Handeln politisch motiviert ist. Man weiß ja nicht, was die da aushecken.«
»Sehen Sie, Lüdke! Sehen Sie!«, zischte es aus Görnitz heraus. »Da haben Sie es. Und das kommt aus dem Mund Ihres angeblich besten Mannes! Ausgezeichnet, Zach! Danke! Das reicht! Hängen wir den Typen!«
»Gestatten Sie ein paar Ergänzungen dazu, meine Herren?!«, drängelte sich eine Frauenstimme dazwischen, die man im Sitzungssaal zum ersten Mal so kraftvoll hörte. Auf diese Weise gelang es Luise Adler, dass sich alle zu ihr drehten und hörten, was sie zu sagen hatte.
Es war heute Nacht am Bahnhof Berlin-Wannsee Gleis 17. Da hatte sich Simon Blumberg noch vor dem breitschultrigen Patrouillendienst aufgebäumt und etwas zu sagen gewagt. Das war, als er mit den vielen anderen von der Sammellagerstelle hier ankam. Da weigerte er sich mit Händen und Füßen, in diesen Viehwaggon zu steigen, doch die Wachen kannten kein Erbarmen. Ihre Schläge prasselten auf ihn ein, sodass er irgendwann nicht mehr wusste, ob er auf dem Kopf oder auf den Füßen stand. Er fühlte etwas Nasses auf dem Gesicht. Es waren Tränen, aber nicht vor Schmerzen, sondern vor ohnmächtiger Wut. Sie schlugen ihm mehrmals ins Gesicht und prügelten ihn in diesen stinkenden Waggon eines unendlich langen Güterzuges. Hier saß er nun auf den schmutzigen Holzlatten, war seit Sonnenaufgang unterwegs und war irgendwo in Richtung Nirgendwo. Um überleben zu können, muss man durch die Hölle gehen, dachte er. Und in der Hölle ist es hart, es stinkt und man wird schmutzig. Auch das kann man aushalten, wie der Mensch so vieles aushalten kann. Hier drinnen gab es nichts. Keinen Eimer, kein Wasser, nur die Eiseskälte und das Stroh, das durchmischt war mit den Fäkalien der anderen. Überall war der Gestank von Jauche, nur waren hier keine lebendigen Tiere eingepfercht, sondern Menschen. Niemand hier wollte mehr über etwas reden oder etwas sagen. Man war einfach stumm vor Angst. Das rhythmische Scheppern der Räder auf den Gleisen wollte nicht enden.
»Musst du etwa alleine verreisen? Hast du denn keine Frau?«, fragte ihn ein junges fremdes Mädchen mit großen, runden Augen, kräftigem Zopf und einer roten Strickpuppe unter dem Arm.
»Doch!«, antwortete Blumberg knapp, da er das Kind nicht ängstigen oder entmutigen wollte. »Ich schaue nur schon mal, wie es da so ist, wo wir hinfahren.«
»Vater sagt, dort, wo wir hinfahren, soll ein Baby mit einer Schlange spielen können«, sprudelte es aus ihr heraus. »Und endlich verreisen wir mal alle, sagt er. Tante Lilo und Onkel Ben sind mit dabei und auch Oma und Opa.«
»Das wird ganz sicher ein Abenteuer, Kleine!«, lächelte er sie an. Doch die Traurigkeit übermannte ihn und er hätte am liebsten vor dem Kind angefangen zu weinen.
»Weißt du, wie spät es ist?«, fragte sie ihn. Doch er konnte es ihr nicht sagen, man hatte ihm alles abgenommen: Die Uhr, den Hut, sogar das Foto von Eva, das sie ihm schnell noch zugesteckt hatte, rissen sie ihm aus der Jacke. Er dachte bei jedem Atemzug an sie. Auch sein letztes Geld hatte man ihm in der Sammelstelle abgeknüpft, seine letzten zwanzig Mark, vier Pfennig pro gefahrenen Kilometer. Und wenn sie richtig gerechnet hatten, und da war ja auf deutsche Organe hundertprozentig Verlass, dann sollte er nun 500 km von Berlin unterwegs sein. Das war die Entfernung Berlin-München oder Berlin-Kopenhagen oder Berlin-Amsterdam. Doch ging es nach Osten und wie die anderen im Waggon hatte auch Blumberg in diesem unklaren Augenblick noch keine klare Vorstellung davon, wo es genau hingehen sollte, geschweige denn, was geschehen würde. Nur so eine Ahnung und die war beängstigend. Und wenn diese Ahnung Wirklichkeit werden sollte, dann würde fortan alles möglich sein. Dann war das, was hier begann, das Ende der Menschlichkeit.
Adler referierte am Sitzungstisch vor Kollegen und Vorgesetzten.
»Bei Frau Golzow habe ich allerdings das Gefühl, als wäre sie mit dem Mann nicht verheiratet, sondern hätte einen Pakt mit einem Geiselnehmer geschlossen. Und um ein harmonisches Familienleben zu wahren, akzeptiert sie ihre missratene Situation gegen jeden Widerstand.« Dann kam sie zum Ende. »Das sind allerdings alles nur Verdachtsmomente bezüglich Cornelius und Golzow, meine Herren, nicht mehr und nicht weniger. Ich danke Ihnen!«
Adler lehnte sich zurück und schlug die Arme übereinander. Sie hatte alles erzählt, was sie wusste und vor versammelter Mannschaft ihre bisherigen Erkenntnisse ausführlich erörtert. Sie hatte von der Recherche der Blutgruppen berichtet und detailliert geschildert, wie die Frauen, Johanna Schenk und Hertha Golzow, zu ihren Männern standen. Nur eins hatte sie bewusst weggelassen und es mit keinem Wort erwähnt – nämlich das, was sie auf dem Schreibtisch der Johanna Schenk entdeckt hatte: Dieses Datum, diesen Plan mit dem Anschlag drüben im Block, wo Görnitz über sein Königreich herrschte und von wo aus er schaltete und waltete. Sie hatte ein Dutzend Gründe, warum sie es für sich behielt. Es reichte ihr schon, wie abstoßend er nun wieder auf ihren Vortrag reagierte.
»Setzen, Eins! Bravo! Ihr neues Ding entwickelt sich ja langsam zum psychologischen Ass, Hartmann.«
»Sicher ist das noch nicht der Weisheit letzter Schluss«, sagte die Chefin und nahm sie in Schutz. »Die Kommissarin konnte aber deutlich machen, dass wir im Zuge der Aktion Quadriga keinen der Herren als Täter mit klaren belastbaren Indizien verhaften können. Wir müssen daher weiter ermitteln und Samstagabend verdeckt auf der Linie fahnden.«
»Sicher, Hartmann, sicher«, konterte Görnitz. »Es grenzt jedoch schon an den Gipfel der Dreistigkeit, wie sich Ihr Ding dem Dilettantismus unterwirft und sentimentale Aussagen als Gegenstand der Erkenntnisse auslegt. Zu welchen Einsichten sollen uns denn die nichtssagenden Behauptungen führen? Was soll uns die ganze Gefühlsduselei denn bringen? Ich denke nichts, gar nichts, überhaupt nichts. Ich empfehle Ihrem Ding noch einmal ein Praktikum, um sich ein realistischeres Bild von der Polizeiarbeit zu verschaffen.« Dabei sprach er nur zu Hartmann, nie zu Adler und ignorierte sie, als wäre sie gar nicht im Raum. Adler hatte lange auf den Moment gewartet, bis Görnitz sie mit seinen langen Krakenarmen in den Würgegriff nehmen würde. Jetzt war es so weit und er machte es kurz und schmerzlos, wie er es wohl immer tat. Sofort kamen ihr die Worte ihrer Mutter in den Sinn. »Wieso bleibst du denn so still, Mädchen? Wieso lässt du das mit dir machen?« Ihre Pervitinkurve war noch auf einem guten Niveau und ihr Adrenalin schoss durch die Decke, es reichte. Wie auf einem glühenden Stuhl erhob sie sich und wollte nur eins: Sie wollte nie mehr Schwäche zeigen, schon gar nicht vor solchen testosterongeschwängerten Wachhunden, mit denen man nur eins machen konnte: Sie in ihre Schranken verweisen.
»Herr Obergruppenführer, lassen Sie das! Ich bin kein Ding!«, redete sie wie mit einem verbalen Artilleriegeschoss auf ihn ein und erzeugte beklommenes Schlucken bei den Kollegen im Saal. Ihre Stimme überschlug sich wie bei einer Hitler-Parodie. »Ich habe überhaupt keine Probleme, Kritik anzunehmen, jedoch sollte eine Voraussetzung für diese Konferenz sein, dass Ihr Gegenüber auch recht haben könnte. Sonst können wir den Fall gleich einstellen. Was nicht hilft, sind persönliche Herabwürdigungen. Ich verbitte mir auf der Stelle, dass Sie mich weiter als Ding bezeichnen! Verstehen wir uns?!«
Keine Antwort, Totenstille im Raum und alle blickten auf ihn. Zwar sah man, wie sein Auge mit der Narbe leicht zuckte, doch verharrte der Rest seiner Mimik in tiefgekühltem Dauergrinsen und geriet zur pikierten Maske. Adler setzte sich wieder, sichtlich vom Ärger entledigt, griff zum Wasserglas und presste ihren Rücken fest in die Lehne. Görnitz atmete tief durch die Nasenlöcher und bevor er etwas darauf erwidern konnte, drängelte sich Willi Kuttnik dazwischen.
»Also, jestatten Se mir da mal ooch ’n Hinweis, Obergruppenführa. Ick finde, die Kollegin is’ uff der richtjen Fährte. Wenn ick noch erzähle, watt ick so wees, würde dit ’n größeret Bild erjeben.«
Hartmann und Lüdke waren die Einzigen, die Kuttniks Kalkül begriffen: Er wollte Schlimmeres von Adler abwenden. Sofort spielten sie mit und erreichten so, dass Görnitz nicht weiter zu Wort kam.
»Ach Herr Kuttnik, wie interessant!«, sagte Hartmann lauter als nötig. »Erzählen Sie doch mal!«
»Ja, berichten Sie uns!«, fügte Lüdke hinzu. »Was machen die Entwicklungen im Betriebswerk? Ich hörte, der Weichenwart Golzow verhält sich da ebenfalls ziemlich eigenartig.«
Kuttnik griff zum Notizbuch, das zwischen seinen Wurstfingern noch kleiner wirkte, als es ohnehin schon war und berichtete gewürzt mit witzigen Anekdötchen über seine Arbeit in Rummelsburg, seine rasante Beliebtheit unter den Werkskollegen und erzählte über Golzow. Er sprach über dessen SA-Zugehörigkeit, beschrieb dessen unkonventionellen Arbeitsweg durch Zäune sowie das kuriose Erlebnis der Nacht, als sich dieser im Waschraum die blutigen Hände blitzblank wusch.
»Und dit fand ick schon recht merkwürdich. Ick meene, erst wie ’ne Sau bluten und dann keene Spuren mehr? Da lief mir det eiskalt den Rücken herunter, eiskalt sag ick Ihnen.«
»Nein, wirklich?!«, fragte Hartmann begeistert. »Das schreit ja förmlich nach einer Fahndung auf der Linie, oder, Herr Kriminalrat?« Sie drehte sich zu Lüdke, der wieder das Kommando übernahm.
»Der Kriminaldauerdienst unserer Einheit startet morgen Abend. Kommissarin Adler als Lockvogel und alle Herren in Bluse und Rock von Größe 44 bis 58.« Während die meisten Männer im Saal eher mit gespielter Freude als mit echtem Tatendrang jubilierten, legte Lüdke noch eine frotzelnde Schippe drauf. »Nur keine Sorge, Kollegen. Natürlich habe ich Ihnen auch Glitzerschmuck und schöne Seidenstrümpfe besorgt. Treffpunkt, Ausgabe und Anprobe ist bei Alfred Fleischhauer vom Wehrmachtsbekleidungsamt im Stationshäuschen B im Bahnhof Ostkreuz. Weitere Instruktionen vor Ort. An dieser Stelle auch noch die wichtige Dienstanweisung, nicht nur das Gesicht, sondern auch die Arme und Beine kräftig zu rasieren. Damit erkläre ich die Sitzung für beendet! Vielen Dank!«
Die schmuckvollen Berliner Treppenhäuser in der piekfeinen Gegend von Schöneberg verströmten schon immer Atmosphäre. So auch hier in der Motzstraße 41, im Wohnhaus des aufrichtigen Bürgertums und von Viktoria Cornelius sowie ihrer Nachbarin, Waltraud Irmscher. Hier gab es sie noch: die bunten Bleifenster, die grafischen Bodenfliesen, die üppig verzierten Decken sowie die geschwungenen Geländer in jeder erdenklichen Ausgestaltung – auch wenn hier nicht alles hochwertig war, da die selten anmutenden Hölzer und der wertvolle Marmor mit Farbe und Pinsel geschickt imitiert wurden.
Waltraud Irmscher kramte vor der Haustür in der Handtasche nach ihrem Wohnungsschlüssel und war ziemlich angetrunken. Sie selbst hielt es für einen kleinen Schwips. Zwei, drei Absacker in der Angestelltenkantine des KaDeWe s mit zwei, drei netten Kollegen aus der Delikatessenabteilung. Besonders der mit dem dünnen Schnurrbärtchen hatte es ihr angetan und sie hatte dafür sorgen können, dass er sie Sonntag besuchen würde. Alles gegen diese unsägliche Einsamkeit und alles für ein paar schöne Stunden der Wärme und Zuneigung. Zwar war es nicht das Leben, das sie sich gewünscht hatte, aber wer konnte das in diesen Zeiten schon von seinem Leben behaupten.
»Guten Abend, Frau Irmscher«, grüßte sie Viktoria Cornelius mit einem Mal freundlich von hinten und erreichte den Treppenabsatz.
»Ach, Frau Cornelius. Guten Abend. Na? Feierabend?«, grüßte sie mit sektschwerer Zunge zurück und fand endlich ihren Schlüsselbund am Taschenboden. Trotz der freundlichen Art der Anderen gegenüber, wusste jede von beiden, dass die Sympathie lediglich gespielt war. Viktoria Cornelius verspürte eigentlich nichts als Abscheu. In ihren Augen war die Irmscher nichts weiter als ein verlottertes Frauenzimmer, ständig einen im Tee und mit regelmäßig wechselnden Männergeschichten. Waltraud Irmscher dagegen bemitleidete Viktoria Cornelius nur, war doch die Frau trotz reich bestückter Intelligenz mit ihrer Gesinnung nur eine arme Irre, gefangen im engmaschigen Käfig nationalsozialistischer Ansichten.
»Schön, dass ich Sie treffe, Frau Irmscher«, fiel sie gleich mit der Tür ins Haus. »Es ist mir ein wenig unangenehm, doch dürfte ich Sie um einen dringenden Gefallen bitten? So unter Nachbarinnen und ganz im Vertrauen? Es geht da um persönliche Dinge meines Mannes, die er neulich bei mir vergessen hatte. Auch seine Brieftasche gehört dazu. Wie ich ja weiß, fahren Sie ab und zu nach Gutland, um Ihrer Nichte Wäsche zu bringen? Wär es da für Sie möglich, wenn Sie für mich … für ihn …?«
»… aber warum denn nicht, Frau Cornelius«, erwiderte die Irmscher. »Nichts für ungut, das mache ich doch gerne für Herrn Cornelius. Wie heißt es so schön? Wer eine nette Nachbarin hat, der hat auch ein langes Leben.«