Peter Schenk war da, wo er nie sein wollte. Er war kaserniert; in Bromberg an der Brahe. Mit kurzgeschorenem Haar und Uniform saß er hier nun seine Zeit im Schreibbüro der Stammkompanie ab, einer plumpen Baracke am Rande des Kasernengeländes. Sein Überdruss am Kasernenleben hatte allerdings schon jetzt seinen Höhepunkt erreicht. Gestern, vorgestern, morgen, übermorgen, bis in alle Ewigkeiten ging es nur stundenlang rechtsum, linksum und dann hieß es wieder warten, warten, warten. Schon auf der Fahrt hierher hatte er unnötige Lebenszeit abgesessen. In der Montur brauchbaren Soldatenmaterials fuhr er acht Stunden und fünfzehn Minuten mit zwölf anderen wie in einem Gefangenentransport unter der Plane eines Mercedes 3000L Diesel. Und was er sich da von den anderen Milchgesichtern anhören musste, reichte ihm bereits: Dummheit ist Trumpf oder Ein Soldat muss noch im Schlaf jemanden erschießen können oder Eine Armee ist immer so gut wie ihr blödester Armleuchter . Peter Schenk wusste schon jetzt nicht mehr, was er eigentlich war, aber die Bezeichnung Armleuchter kam dem Ganzen schon recht nahe. Er war jetzt ein Gefreiter, der eine Uniform mit Rangabzeichen trug und hatte das Gefühl, sie brenne wie ein glühendes Folterinstrument auf seinem Körper – so abstoßend empfand er sie. Während der beschwerlichen Fahrt sah er viele zerstörte Häuser und niedergebrannte Dörfer durch die Planenschlitze des Lasters. Die schockierenden Spuren eines sinnlosen Krieges, der bereits in der ersten Sekunde viel zu lange dauerte. Menschenströme zogen im Gegenverkehr vorbei. Unendliche Trecks, in denen erschöpfte Frauen und Kinder saßen. Wo allerdings ihre Reise endete, war nicht auszumachen, kannten sie selbst wohl am wenigsten den Bestimmungsort am Ende. Peters Ende hieß nun ausgerechnet Bromberg, das ehemalige polnische Bydgoszcz.
Eigentlich war es ihr Ende und es blieb ihr nur eins: den Schmerz so zu behandeln, als wäre er nicht da. Abends zu Bett gehen, morgens aufstehen, tagein, tagaus – so lauteten Eva Schillers persönliche Durchhalteparolen nach dem schrecklichen Ereignis, als sie Simon mitnahmen und ihr wegnahmen. Nun saß sie im Amt und hämmerte wütend die Drucktypen auf irgendein unwichtiges Normformular. Wozu nach Hause gehen, wenn einen niemand mehr dort erwartete, außer Einsamkeit und bleierne Eintönigkeit? Nichts war mehr wichtig, sie war verloren in einem Zwischenreich der Erinnerungen, einem Ort, in dem sich alles wie im Film mit surrealen Szenen und Handlungssträngen bewegte. Darin war Simon zurückgekehrt und sie kam von der Arbeit, ging ins kleine Zimmer und sah, dass er auf dem Bett seine Zeitungen las. Dann sagte sie: »Da bist du ja endlich wieder, tu mir das nie mehr an, dich einfach so mitnehmen zu lassen, wo warst du denn?« Er hätte eine simple Erklärung, seine Verhaftung wäre ein großer Irrtum gewesen und alles wäre gut. Sie klammerte sich an diese Hoffnung, wider aller Vernunft. Doch stand der wirkliche Filmtitel längst fest: Ohne Simon endete die Welt, auch wenn jeder irgendwen in diesem Krieg irgendwann verlieren würde.
Chefin Hartmann war ebenfalls noch im Büro und wollte sich auf den Heimweg machen. Mit der Handtasche in der Faust stakste sie aus der Bürotür, knipste mit dem Drehlichtschalter das Licht aus und verschloss die Tür. Sie kam sich vor, als wäre sie in ein fremdes Zimmer geplatzt und wunderte sich in erster Linie über den trostlosen Eindruck ihrer Sekretärin.
»Mensch, Sie sehen mir ja gar nicht gut aus? Gehen Sie jetzt mal nach Hause! Sie haben doch längst Feierabend.«
Sie sah in Schillers Augen, die wie erloschene Vulkane waren – grau und unzugänglich, das Gesicht starr und ausgetrocknet.
»Wo brennt’s denn, Frau Schiller?«
Sie sah sie an und schwieg. Hartmann las es aus ihrem Gesicht.
»Au, das sieht mir irgendwie nach Trennungsschmerz aus? Gar nicht gut!«
Eva Schiller riss die große Schreibtischschublade auf, fischte eilig ihre Handtasche heraus und suchte darin zwischen Kopfwehtabletten, Portemonnaie und Pfefferminzdrops ihr Taschentuch. Sie schluckte und schämte sich, auch weil ihre Chefin gleich beim ersten Schuss den richtigen Treffer gelandet hatte. Die wusste nichts von ihrem versteckten, geschweige denn verhafteten Simon. Und sie durfte davon auch nichts wissen. Das war Teil des perfiden Kuhhandels mit Görnitz. Und auch wenn sie diesen Pakt mit diesem braunen Teufel geschlossen hatte, war es wahrscheinlich ihr letztes Stück Hoffnung und Simons letzter Rest Lebensversicherung. Zum Glück war Grete Hartmann nicht die Person, die lange Geschichten und Details hören wollte. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch und blieb bei ihr, sah sie es als Pflicht, sie in diesem Moment nicht mit ihren Tränen allein zu lassen, sondern Trost zu spenden.
»Ich erzähle Ihnen ein Geheimnis, Frau Schiller. Sie werden lachen. Nächste Ostern sind es genau zehn Jahre, seitdem mein Mann von mir gegangen ist und ich alleine lebe. Er wollte sich damals nur schnell Brasilzigarren an der Ecke holen und dann riss unterwegs irgendetwas in seinem Körper. Keiner konnte sagen, ob es Herzversagen oder etwas anderes war, es spielte auch keine Rolle.« Hartmann holte ihre Raucherutensilien aus der Handtasche und steckte sich eine an, während sich Schiller langsam beruhigte, sich die Nase schnäuzte und ihrer Chefin weiter zuhörte.
»Ich wusste ja nur eins: Ich wusste, dass mein Mann ein toter Mann ist. Mehr war da nicht.« Sie stieß den Rauch aus und hielt kurz inne. »Und ich habe vorher auch nichts gemerkt. Ich hätte doch Anzeichen sehen und es verhindern können? Ich hatte doch Einfluss, ich kannte doch viele Menschen, ich hätte es merken können. Zwar hätte mich kein Richter verurteilt, aber ein Freispruch macht nicht frei von Schuld und Scham. Doch sollte ich so weiterleben? Ich konnte nichts Richtiges und nichts Falsches sagen oder machen, weil alles falsch an seinem Tod war. Alles. Niemand hat doch Einfluss auf den Tod, und deshalb habe ich irgendwann entschieden, mich eben nicht wie mit einem harten Panzer gegen ihn zu stemmen. An schweren Tagen muss man zwar den Kopf höher halten, um nicht unterzugehen, aber wenn man lebendig ist, muss man Tod und Verderben die Wange hinhalten. Es ist nämlich nicht die Sonne, die Schuld ist, weil sie untergeht, sondern es ist die Erde, die sich immer weiterdreht, Schiller. Wir gehören zu den Lebenden und was bleibt uns anderes übrig, als zu hoffen, zu handeln und uns einzumischen. Wir müssen weitermachen. Mehr können wir doch auf dieser Welt nicht tun.«
Zur gleichen Zeit sah man gegenüber in Block D noch Licht im Zimmer von Obergruppenführer Görnitz. Dieser saß hinter seinem protzigen Schreibtisch, zog an seiner Kippe und redete.
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Zach! Sterben ist nicht schwer – bisher haben es alle geschafft, sogar Herrmann Bohr. Nur zwei Kugeln in den Rücken aus Freund Schillers Dienstpistole und schon ein Problem weniger. Die ganze Angelegenheit rund um seine Homosexualität war zugegebenermaßen unangenehm. Bohr mischte Wahres mit Falschem und hat sich sein Gehirn bei diesen Pazifisten umkrempeln lassen. Menschen wie er sollten lieber sterben als denken.«
Zach blickte in die untertänigen Gesichter der Jasager, Klaussner und Schiller, die alles taten, um ihrem anthrazituniformierten Barbarenkönig zu schmeicheln.
»Er spielte nur stark und erhaben, große Klappe, nix dahinter«, frotzelte Klaussner. Auch der sonst wortarme Schiller verpestete mit Plattitüden die Luft.
»Bohr war Feind, kein Kamerad. Wer Verrat übt, tötet. Eher töte ich diese schwule Bazille als mein Volk.«
Wieder und wieder schüttelte Zach den Kopf und wagte es, dem gewissenlosen Unsinn zu widersprechen. Er hätte jedoch wissen müssen, dass er sich auf dünnes Eis begab.
»Ich habe dieses Gehabe hier echt satt. Es gibt doch schon genug Blutvergießen. Ich bin Polizist alter Schule und kann das unlautere Vorgehen und die ewigen Lügen hier nicht mehr ertragen.«
Görnitz schaute Zach nur mit einem verabscheuungswürdigen Blick ins Gesicht und befahl seinen beiden Lakaien, den Raum zu verlassen.
»Schiller! Klaussner! Ich glaube, Sie beide legen draußen mal ’ne Raucherpause ein. Wir müssen hier mal unter vier Augen sprechen!«
Zügig verließen sie den Raum und Görnitz zog seine Augenbraue derart hoch, dass seine Narbe am Auge immer länger wurde.
»Was fällt Ihnen eigentlich ein? Sagen Sie mal, sind Sie nicht mehr ganz bei Trost?«
»Obergruppenführer, ich denke, man sollte gemeinsam darüber nachdenken …«
»… Sie sollen hier nicht denken, Zach! Sie sollen hier liefern und meine Befehle ausführen! Fangen Sie endlich mal an, mit den Wölfen zu heulen! Ich biete Ihnen an, ob Sie es aus Einsicht oder Feigheit tun! Aber das hier können wir gleich mal abstellen! Denken Sie mal an Ihre Beförderung!«
»Ich habe keinerlei schauspielerische Begabung, Herr Obergruppenführer«, wagte Zach laut zu widersprechen. »Ich bin nicht in der Lage, Wolfsgeheul nachzumachen.«
»Das sollten Sie aber lernen!«, fiel er ihm ins Wort. »Ein Polizist politischer Prägung widerspricht nicht, sondern ist ein anpassungsfähiger Staatsdiener. Ich kann Ihnen nur raten, meine Worte ernst zu nehmen. Seien Sie nicht naiv, mein Bester! Auch Bohr wusste nicht, wohin er gehörte und tanzte auf zwei Hochzeiten. Und schauen Sie, was es dem Armen gebracht hat, überhaupt nichts. Ich hätte ihn genauso gut auf kleiner Flamme rösten können, bis er einen guten Braten abgegeben hätte, verlassen Sie sich drauf! Aber ich bin und war immer ein Mann großer Sachen. Haben wir uns verstanden, Staatsdiener Zach?! Und nun raus hier! Hauen Sie gefälligst ab und gehen Sie mir aus den Augen!«
Wo wäre aber die kleine Welt, wenn niemand die größere Welt betreuen wollte? Wie könnte die größere Welt bestehen, wenn niemand wäre, der die Sorgen um diese Welt zu seinem Lebensinhalt machen würde?
Adolf Hitler