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Samstag, 30. November 1940

Jeder, der schon einmal in der Führerkabine einer S-Bahn saß, konnte spüren, welch gigantische Verantwortung da auf den Schultern eines Bahnlenkers lastet. Ganze 400 Tonnen mit hoher Geschwindigkeit voranzutreiben, den mit Menschentrauben gefüllten Koloss Richtung Bahnhof zu manövrieren und laufruhig zum Halten zu bringen, erfordert ein Höchstmaß an Präzision.

Der S-Bahner Anton Jahnke war ein Profi durch und durch. Er liebte diesen Job, da er ihm Unabhängigkeit und Verlässlichkeit versprach. Aus eigener Kraft hatte es Jahnke vom Aushilfsschaffner zum Triebwagenschaffner gebracht. Mit jedem der 412 Kilometer langen Gleise der Stadt war er vertraut und er konnte alle 114 S-Bahnhöfe Berlins im Schlaf aufsagen. Auch war er ein absoluter Meister darin, seine ET-165 am Kopf des Bahnhofs millimetergenau vor dem Schild mit dem weißen H zum Stillstand bringen. Und auch wenn hier, am S-Bahnhof Betriebsbahnhof Rummelsburg, zu seinem Ärger schon viele vorher aus dem Wagen sprangen, ließ er den Menschen im Zischen und Pusten seiner Mühle genügend Zeit zum Aussteigen und wartete geduldig auf den Abfahrauftrag zur Freigabe der Weiterfahrt. Hinter der vieltürmigen Stadtsilhouette sah man gerade die Sonne untergehen. Jahnke erschrak aber, als jemand an sein beschlagenes Seitenfenster klopfte. Er erkannte die Person in den trüben Umrissen sofort. Es war Paul Golzow, dienstbereit und in kompletter Reichsbahnmontur mit Uniform, Mantel, Schirmmütze – alles verziert mit vielen bunten Knöpfchen und Abzeichen.

»Ach, der Weichenwart!«, klappte Jahnke die Scheibe herunter. »Na? Gehste zum Nachtdienst?«

»Klar, Wochenendschicht. Spiel’ heute Laternenmännchen und kontrolliere, ob überall noch die Signallampen intakt sind.«

»Haste mal wieder was über den Typen gehört, der hier die Frolleins abmurkst?«, fragte ihn Jahnke. »Man erzählt sich, dass er jetzt drei aufm Gewissen hat. Sonst hört man ja nichts. Könnte wetten, dass der hier in der Nähe wohnt und wieder auftaucht. Na ja, ’n Mörder steckt doch irgendwie immer in uns Männern. Wie sie gestern sagten, wollen sie nun auch Kriminaler auf den Bahnhöfen abstellen.«

»Ich halte es eher für was, das der englische Geheimdienst angezettelt hat. Die Heimatfront aufweichen. Aber ich werde auch mal die Augen offen halten.«

Die Bahnhofsvorsteherin vor dem Stationshäuschen pfiff in ihre Trillerpfeife und hielt die grüne Signalkelle in die Luft. Golzow gab Jahnke Handzeichen, als wolle er den Zug durch Wedeln anschieben.

»Nun gib schon Gas und mach, dass du vom Acker kommst, Großer!«

»Muss weiter, man sieht sich«, verabschiedete sich Jahnke zum Schluss salutierend aus seiner Kabine. Dann trat er ordentlich aufs Pedal, schob den rechten Schalthebel am Fenster auf SERIE und zog den Totmannschalter auf dem Führerstandpult kräftig nach oben, um die Bahn mit hohem Schnarren in Bewegung zu setzen. Bei der Anfahrt war es immer wichtig, zuerst auf eine hohe Fahrstufe aufzuschalten, um die zur Anfahrt benötigte Zugkraft zu erreichen.

Golzow ließ alles an sich vorbeirauschen. Er liebte diesen Wechsel der Tonhöhen der auftreibenden Maschine von ganz tief auf sehr hoch. Es klang immer, als ob die Bahn von deprimiert und schlecht gelaunt auf friedlich und freundlich wechselte. Ein Wechsel, den er zu gut von sich selbst kannte.

Golzow blickte erst in die Ferne auf die Schornsteine des Kraftwerks Klingenberg, danach auf die Zeiger der Bahnhofsuhr und bemerkte, dass er spät dran war. Schließlich musste er noch zum Werksgebäude, um seinen Dienstbeginn mit der Stechuhr zu registrieren. Nachts nahm er in diesem Fall immer seine berühmte Abkürzung, ging verbotener Weise über das südliche S-Bahn-Gleis. Irgendwann hatte er es mit einem Dietrich geschafft, die Tore zu öffnen, was bis heute keinem aufgefallen war. Um diese Tageszeit jedoch ging er immer brav den vorgeschriebenen Weg zur Arbeit, waren doch noch zu viele Menschen unterwegs. Der reguläre Weg verlief durch einen dunklen, heruntergekommenen Tunnel und dann über eine Fußgängerbrücke, die sich über die Gleisharfen erstreckte. Unerwartet und plötzlich überkam Golzow ein Schmerz zwischen den Beinen. Er hielt sich an der Wand fest, während die Fußgänger an ihm vorbeiliefen.

»Verdammte Scheiße!«

Sein Tripper meldete sich mit typischem Brennen in der Harnröhre. Das kam mehrmals am Tag vor. Es wurde in der Unterhose warm und feucht und er hatte das Gefühl, als ob seine Eichel anschwoll und zu platzen drohte. Davon kamen auch die Kopfschmerzen und die Wutausbrüche und das ganze Drum und Dran mit Hertha, dieser Kuh, die so unerträglich langweilig war. In schwierigen Stunden dachte er schon öfter darüber nach, sich seinen kranken, verkrüppelten Penis mit seinem Messer abzuschneiden, ihn einfach abzuhacken und dem Leid ein Ende zu setzen. Nur ein schneller Schnitt und es wäre vorbei. Es war der Ursprung allen Übels. Und er wusste ganz genau, wer ihn zum Unmenschen, zum Ungeheuer gemacht hatte, nämlich dieser Judenarzt, dieser Wichtigtuer, der ihn verdorben hatte. Und seine Nachfolgerin, diese arrogante Lesbenärztin, diese Hyäne, mit ihrer Freundin, dieser dicken Sau. Und dann Renate, dieses perverse Frettchen, die ihn auslachte, als sie ihm in die Hose griff. Er mochte sie, doch konnte er ihre Stimme nicht ertragen. Wie sie immer lachte, lachte, lachte. Alle waren schuld, alle hatten sie ihm seine Männlichkeit genommen und seinen Schwanz versaut, sodass es unten brannte und oben sein Gehirn zersetzte. Alle diese Weiber hatten ihm Schmerzen zugefügt. Er verabscheute sie, diese Geschöpfe. Sie waren sein Untergang.

Luise Adler saß nervös und fahrig am Frisiertisch ihres Zimmers in der Wohnung im Richardweg 3 in Neukölln, und begutachtete das ungeschminkte Gesicht im großen Spiegel. Eine blasse Maske mit abwärtsgebogenen Mundwinkeln und besorgtem Blick schaute sie da an. Sie hatte Angst vor der Aktion heute Nacht und schon jetzt spukten die wildesten und abscheulichsten Bilder in ihrem Kopf herum. Vor ihrem inneren Auge sah sie stets und ständig eine S-Bahntür aufgehen und einen Frauenkörper herausfliegen. Der Körper war ihr Körper. Bilder, die sich nicht verscheuchen ließen.

Während draußen die Kirchenglocken der Bethlehemkirche vom Richardplatz aus läuteten, modulierte drinnen im Radio die Ansagerin Irene Voss ausdrucksreich und biegsam ihre Stimme. »Werte Hörerinnen, werte Hörer! Wir begrüßen Sie zu unserer Sendung am Samstagabend ›Wir senden Frohsinn – wir spenden Freude‹. Sie hören nun Rudi Schuricke mit ›Für Eine Nacht Voller Seligkeit‹. Viel Vergnügen!«

Adler wusste, dass irgendwann der Moment kommen sollte, an dem das Gefühl der Angst sie wieder gängeln würde. Wieder war sie zur Sklavin ihrer eigenen Furcht geworden. Das wachsende Gefühl, abermals im falschen Leben zu stecken, wuchs. Sie konnte die dunklen Geister nicht bändigen, konnte nicht einschätzen, wann ihr die zahllosen Geröllbrocken der Selbstzweifel aus den Händen glitten, um in Richtung Abgrund zu rollen. Bisher lief doch alles gut, wie nach einer langen Krankheit. Nun zeigte das Pendel wieder extreme Ausschläge. Selbst das Pervitin wirkte nicht mehr, obwohl sie die Dosis verdreifacht hatte. Konnte sie sonst damit für Stunden kaltherzig und standfest bleiben, erwies sich das Zeug jetzt als völlig nutzlos.

Vor ihr, auf der Frisierkonsole, standen verschiedene Tiegel, Flacons und Fläschchen. »Appetitlicher Lockvogel!«, hatte Chefin Hartmann die klare Marschrichtung oder vielmehr die Schminkrichtung befohlen. Das war gar nicht so einfach, war es ganz und gar nicht ihre Richtung. Dennoch versuchte sie, was sie konnte und riss sich zusammen. Ihre Metamorphose begann.

Zuerst griff sie zum flachen Perlmuttdöschen mit dem weichen Gesichtspuder. Vorsichtig tupfte sie mit der Quaste ihr Gesicht ab und konnte so ihre ebenmäßige Haut noch schöner machen, obwohl Schönheit ja kein Verdienst war. In ihren Augen war Schönheit ein eher seltenes Phänomen. Die fiesesten Frauen der Welt waren wunderschön, wie Magda Goebbels zum Beispiel, während die vielen liebenswürdigen, wie die Schauspielerin Henny Porten, es nicht waren.

Nach dem Puder griff sie zum Rouge, das sie mit feinem Pinsel auf Schläfen und Wangenknochen verteilte, was das Gesicht kantiger machte.

Bei der ganzen Schminkerei handelte es sich ja auch nur um ein unausgesprochenes Geheimnis, ging ihr durch den Kopf. Ein Zugangscode, mit dem man sagen will, dass man nett ist, dass man wertvoll ist und nur zwei Dinge will, nämlich lieben und geliebt werden.

Selbst eine wie sie, selbst eine Luise Adler, hatte schon mehrmals leidenschaftlich geliebt, wusste aber nie, ob sie zurückgeliebt wurde. Aus Freundschaft wurde Zärtlichkeit, wurde Liebe – die Übergänge waren immer fließend. Immer vibrierte sie am Anfang und hätte am liebsten die ganze Welt umarmt. Aber ausgerechnet sie, die übervorsichtige Perfektionistin, war meist auf Männer hereingefallen, die schon verheiratetet waren oder sich geschickt in unterschiedlichen Planetensystemen aufhalten konnten. »Gib uns noch eine Chance, Luise«, flehten sie immer. »Du kannst doch nicht einfach unsere Liebe wegschmeißen. Sag mir, was ich falsch gemacht habe?« Aber sie hatte die Männer nicht verlassen, weil sie etwas falsch gemacht hatten, sie hatte sie verlassen, weil sie mit ihr nur den eigenen Selbstwert unterstreichen wollten. Und mehr als körperliche Liebe war es sowieso nicht.

Ihre Augen unterstrich sie mit einer schwarzbraunen Mascara, während sie die Augenbrauen mit der Pinzette zupfte und zum Schluss zu dünnen abgegrenzten Bögen nachzog. Die Brauen rahmten ihr Gesicht und sie legte Wert darauf, dass sie gut gezeichnet waren, weil dadurch ihr typischer Luise-Adler-Ausdruck entstand. Sogar einige Frauen verliebten sich darin.

Viele Frauen hatten damals, Anfang der dreißiger Jahre, Frauenlieben, die sie entweder nur ausprobierten oder richtig ausleben wollten. Man gab sich modern und sah das Leben als Entdeckung: entweder als junge Frau mit der besten Freundin oder während der Ehe oder danach. Das war damals noch nicht so verpönt wie heute. Auch sie hatte damals, in ihren ersten Jahren bei der Weiblichen , eine Zeit lang ihren Schalter umgelegt – erst aus Neugier, dann aus Faszination für das eigene Geschlecht. Die Frauen hießen Vera oder Karen und alle waren sie grandiose Narzisstinnen, fanden sich einmalig und strahlten. Schnell ließ man sich aufeinander ein, um das pralle Leben zu genießen.

Ihre Lippen wollte sie heute Abend ebenfalls möglichst prall erscheinen lassen. Dazu zog sie den zinnoberroten Lippenstift auf der Oberlippe vorsichtig entlang des Amorbogens, zog dann auf der Unterlippe mittig einen kleinen waagerechten Strich, um zum Schluss die Lippen aufeinander zu pressen und alles deckungsgleich zu verteilen. Sie wirkte nun wie ein Filmstar, der mehr oder weniger freudlos die Musik aus dem Radio mitsprach: »Für eine Nacht voller Seligkeit …«

Früher hatte sie immer gehofft, die Liebe würde wie im UFA-Film sein. Erst würde eine wilde Verwechslungsgeschichte passieren oder der andere war erst arrogant, abweisend oder vergeben, damit daraus eine Liebesgeschichte wurde. Oder es würde tragisch enden, damit es auch wirklich echt war, aber sie merkte irgendwann, dass das mit Liebe rein gar nichts zu tun hatte.

Sie schüttelte das Fläschchen mit Nagellack, drehte es auf und streifte den Pinsel am Flaschenhals ab. Finger für Finger lackierte sie ihre Nägel, die sie immer so feilte, dass sie spitz zuliefen, aber nicht lang waren. Einen schmalen Spalt an jeder Nagelspitze sparte sie heute stets aus. Es würde dem Ganzen noch einen besonders verruchten Eindruck verpassen, dachte sie, während sie sich schließlich mit gekonnter Geste über die Finger pustete.

Christian Cornelius saß in der Laube am Tisch und wartete auf Johanna. Er war schon ein wenig besorgt, doch wusste er, dass sie ohnehin nicht die Allerpünklichste war. So tippte er weiter auf seiner Torpedo-Reiseschreibmaschine und vollendete das Gutachten:

Empfehlung von Salix-Extrakt als Pestizid

Letzte Laborprobe (in 38. KW) bestätigte, daß organisches Salix wirksam gegen den Befall von Schädlingen ist. Befunde dienen als Grundlage für behördliche Zulassung. Stoffe mit Absorption von Blausäure (z.B. Zyklon B) sind zu 100 % zu ersetzen.

gez. C. Cornelius,

Schließlich riss er den Hebel der Maschine an den Zeilenanfang, drehte am Rädchen der schnarrenden Schreibwalze und las sich alles noch einmal durch. Und während er so las, fühlte er, dass seine Schuldgefühle nicht verschwanden. Wie auch? Er war fahrlässig in die Sache hineingezogen worden, hatte dem Regime ein gigantisches Menschenvernichtungsmittel in die Hände gegeben und so die Arbeit des Teufels unterstützt. Wie hatte er nur so naiv sein können? Wie hatte er unzählige Jahre seines Lebens mit Entwicklung verschwenden können, um am Ende zu merken, dass alles falsch war?

Er wollte es wiedergutmachen und endlich für das Überleben vieler Menschen sorgen. Zumindest war es einen Versuch wert. Vielleicht würde es gelingen, Zyklon B durch die schnelle Markteinführung eines völlig ungiftigen und organischen Alternativstoffes auszubremsen. Er war ja jemand bei Degesch , hatte doch einen Namen, war eine Koryphäe, sie hatten ihm ja viel zu verdanken. Es musste gelingen, schließlich war er damals nur aus diesem Grund hierher in die Würdelosigkeit nach Gutland geflüchtet. Unzählige schlaflose Nächte verbrachte er hier, um sich in alles zu vertiefen und zu forschen. Das Einzige, was ihn dabei das trostlose Dasein in den Nächten ertragen ließ, war seine Nachbarin, Karin Borchert. Die wusste irgendwann, dass er sie durch sein Fenster beobachtete und ihr dabei zusah, wie sie jedes Wochenende einem neuen männlichen Mitbringsel den Verschluss ihres Büstenhalters zeigte, um am Ende auf dem Mann kreisend hin und her zu reiten. Doch sollte ihre letzte Verabredung eine tödliche sein und Cornelius letzte Lösung sollte Salix sein, das Extrakt der Harlekinweide. Biozid statt Pestizid. Mehr bedurfte es seiner Meinung nicht, um dem Rad in die Speichen zu greifen.

»Schön bist du, Luise. Wunderschön. Einfach die schönste Frau der ganzen Welt«, sagte eine Stimme, die sie aus einem Zustand der völligen Vertiefung riss. Es war die Stimme ihres Vaters, Walter Adler, der, wie üblich im Pyjama, schon eine Weile so dastand und sie vom Flur aus beobachtete.

»Bist du heute Abend verabredet?«

»Nein, ich erzählte es dir doch, Vater. Ich muss zum Dienst«, antwortete sie mit genervter Stimme, während sie sich mit der stachligen Haarbürste grob durch die Haare strich. »Ich soll heute Nacht mit der S-Bahn rauf- und runterfahren. Aktion Lockvogel. Aber du sagst niemanden etwas, hörst du, Vater! Das ist geheim!«

Sichtlich angespannt pfefferte sie die Bürste auf den Frisiertisch, wodurch sich die anderen Utensilien zur Seite schoben. Ihr Vater kam näher, stellte sich hinter sie und schaute sie im Spiegel an. Er legte die Hand väterlich auf ihre Schulter, und weil er dies noch nie getan hatte, hatte es große Bedeutung für sie. Gerade jetzt, als beide die Vergangenheit wiedereinholte.

»Du zitterst ja, Mädchen.«

Er blickte ihr ins Gesicht, das verriet, dass die schmerzhaften Erinnerungen in ihr wühlten. Sie verharrten beide eine Weile vor dem Spiegel und starrten vor sich hin. Und obwohl der Tod ihrer Mutter jetzt wie ein gigantischer Elefant im Raum stand, sprachen sie auch jetzt nicht darüber – weil sie nie darüber sprachen, weil sie die Büchse der Pandora nicht zu öffnen wagten und die seelischen Wunden immer noch schmerzten. Tag für Tag, Nacht für Nacht, in jeder Milli-, Mikro- und Nanosekunde des Lebens. Nicht allein der Tod ihrer Mutter war ein Unfall, die Spezies Mensch an sich war ein Unfall, weil sie in der Lage war, ihresgleichen umzubringen. Doch wie viele Leben berührte ein Tod? Gerade jetzt in Zeiten von Krieg und Verachtung? Die Welt war eine Kugel aus Feuer und Gas geworden. Sie war ein Friedhof mit Millionen Grabkreuzen, auf dessen Wegen unendliche Schlangen schwarzgekleideter Menschen liefen. Auf allen Seiten wurde Blut vergossen – Tod, Vernichtung und Skrupellosigkeit waren allgegenwärtig. Kinder wuchsen ohne Mutter oder Vater auf – Ehepartner, Brüder, Schwestern und Freunde waren betroffen. Jeder gewaltsame Tod eines Menschen riss gleich ein Dutzend Lebende mit in die Hölle. Sie hätte jetzt am liebsten geheult, doch schluckte sie die Tränen herunter, auch aus Sorge, sich ihr geschminktes Kunstwerk im Gesicht wieder zu ruinieren.

»Lass mal, Vater, wird schon gut gehen«, sagte sie und berührte seine Hand, die noch auf ihrer Schulter lag. »Unkraut vergeht nicht.«

»Du trägst doch eine Waffe bei der Polizei, oder, Luise?«, fragte ihr Vater nach. Doch sie hatte keine. Bei der Weiblichen führten ja die Frauen keine Waffe bei sich. Sie hatte nur eine Waffe und die war ihre Angst.

»Ich gebe dir meine beste Waffe«, sprach er und griff in die Seitentasche seines Pyjamas, um die kleine zarte Pipettenflasche aus braunem Glas auf die Platte des Frisiertisches zu stellen. Ihr Inhalt war Diaphin , auch Diacetylmorphin genannt. Es war das Zeug, das er selbst immer nahm, um Angst und negative Gefühle loszuwerden.

»Das ist jetzt wirklich nicht dein Ernst, Vater!«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

»Es ist eine Frage der Menge, Luise. Nur zwei Tropfen, falls die Angst zu stark ist.«

»Das ist Gift, Vater, nichts anderes!«

»Was ist schon Gift? Die Dosis macht’s doch. Du müsstest schon das ganze Ding auf einmal schlucken, und wer schafft das schon. Sogar Hermann Göring nimmt es, weil er viele gute Gründe dafür hat, sich zu betäuben.«

Sie wurden unterbrochen. Es läutete.

»Was denn, um diese Zeit?«, fragte sich Walter Adler verwundert und schlurfte ausnahmsweise selbst zur Tür, während sie sitzen blieb und wie ein Kaninchen vor der Schlange auf die Ampulle starrte. Sie zögerte erst, schnappte sich dann aber das zerbrechliche Fläschchen mit einem Handgriff vom Tisch.

»Luise! Da ist eine junge Dame, die dich abholen möchte«, rief ihr Vater durch den Korridor. »Sie sagt, sie sei deine Kollegin und heißt Zach.«

Cornelius griff zur kalten Pfeife und steckte sie sich in den Mund. Gleich darauf rollte er sein fertiges Schriftstück aus der Maschine und stopfte es in einen abgenutzten Umschlag. Noch heute Abend musste es im Briefkasten liegen, sagte er sich. Es gab keine Zeit zu verlieren. Wenn ihn das Leben etwas gelehrt hatte, dann eins: Der kluge Mensch wird seinen Kampf nicht auf verlorenem Posten führen, wenn er sich sein Scheitern eingesteht, seinen Blick hebt und nach vorne richtet. Das Leben musste weitergehen – obwohl ihm das Leben schon lange zu weit ging, viel zu weit. Deshalb hatte er sich damals auch wie ein blutleerer Automat gefühlt und diese Ärztin in Karlshorst aufgesucht, die ihm Blutarmut attestierte. Sie war nie die Richtige für seine Probleme. Eine einfache Hausärztin, kühl und unfreundlich, die keine besseren Ideen hatte, als ihm Pillen zu verschreiben und ihm zu raten, von der kalten Laube wieder nach Schöneberg an den warmen Kachelofen zurückzukehren. Aber wie sollte er das anstellen? Er war doch in der Zwickmühle und konnte sein Leben nicht wieder zu etwas Laufendem, Lebendigem umstellen, geschweige denn sich für eine Frau entscheiden. Er wusste ja nicht, welches Leben er wollte. Er wusste auch nicht, welche Frau er liebte. Ein Leben mit Johanna war keine sichere Zukunft. Der Altersunterschied zwischen beiden hatte irgendwann Grenzen. Er mochte es zwar, sie anzusehen und sie zu berühren, und auch wenn sie blutjung war, zählte sie zu den intelligentesten Menschen, die er kannte. Doch Liebe war das nicht. Er liebte sie nicht. Und was war, wenn sie älter wurde und er ein Greis? Dann stände sie mitten im Leben und er müsste solange gefüttert und gepflegt werden, bis sie irgendwann eine junge Witwe wäre. Und Viktoria? Seine Frau aus seinem echten Leben? Mit ihren viel zu hohen Erwartungen, die sie nicht herunterschrauben konnte? Erwartungen an sich, an ihn und an die arische Herrenrasse? Sie war eine Allesfresserin und wollte alles auf einmal: als Frau eine Karriere im Schulterschluss mit Faschisten und zugleich einen Ehemann, der zu Hause brav im Sessel saß und mit ihr Socken sortierte. Cornelius fand beide Vorstellungen über den Rest seines Lebens perspektivlos. Er wusste, dass er beide Frauen nicht so gut behandelte, wie sie es verdient hätten und wollte nur noch seinen ratternden Kopf ausschalten, zum Briefkasten gehen und nicht länger nachdenken. Ihm war jetzt nach ein paar Flaschen Bier zumute, doch die Kneipe hatte wegen Trauerfall geschlossen und er hatte sowieso keinen Pfennig, war sein Geld ja noch bei Viktoria. Ansonsten hätte er anschreiben lassen – die Reni war ja ein echtes Vollweib und nicht auf den Mund gefallen. Die Frau hatte was Ordinäres an sich, deshalb war sie auch so kaltblütig verstümmelt und monströs zugerichtet worden. Tragisch, was da mit ihr passiert ist, wirklich tragisch, sinnierte Cornelius und zündete sich seine Pfeife an.

Luise Adler saß mittlerweile als Lockvogel ausstaffiert auf dem Beifahrersitz einer schwarzglänzenden Audi-920-Limousine des Dienstwagenbestandes der Reichspolizei. Auf dem Weg durch die Stadt wirkte sie deutlich entspannter und lächelte sogar, was sie einigen wenigen Tropfen des Zaubertranks ihres Vaters zu verdanken hatte. Diaphin – eigentlich war die Wirkung deutlich angenehmer als beim gewittrigen Pervitin. Es trat deutlich langsamer über die Zunge ins Gehirn, die Sorgen und Ängste wurden friedlich, der Wagen schnurrte leise wie eine Raubkatze und auf den gemütlichen Sitzpolstern kam sie sich vor, als säße sie in einem flauschigen Kinositz des Titania-Palastes . Eine berauschende Freiheit. Selig und mit wohliger Wärme im Bauch schaute sie aus dem Seitenfenster und musste nicht mehr wissen, außer dass es voranging. Wie schön doch Berlin war, auch wenn sich die Stadt zum Schlechten verändert hatte. Und obwohl die Gaslaternen laut Verdunkelungsverordnung schon ausgeschaltet waren, nahm sie den flatternden NS-Fahnenschmuck an den Fassaden als wimmelnde Lichtschleier war, die etwas vom Luna-Park hatten, in den ihre Eltern früher mit ihr gegangen waren, als sie noch ein Kind war. Einfach fantastisch, ein unbeschreiblicher Rummel. Mit berauschtem Dauergrinsen wandte sie sich wieder zur Fahrerin und musste auf der Stelle loskichern, hatte sie fast vergessen, dass da am Steuer ja in Wirklichkeit keine Frau saß, sondern Kollege Zach – mit riesigen falschen Wimpern, großen roten Schmolllippen und blondgelockter Perücke. Das war ausnahmsweise keine Sinnestäuschung.

»Ich weiß ja nicht, was es da zu lachen gibt, werte Freundin Adler«, beschwerte sich Zach hinter dem Lenkrad wimpernklimpernd mit hochgestellter Stimme und in der perfekten Maskerade einer attraktiven Dame. »Sie können sich ja nicht vorstellen, wie weh das tut, sich die große Beule zwischen den Beinen abzuklemmen.« Absichtlich sprach er in seiner Rolle pikiert, meinte es jedoch in Wirklichkeit scherzhaft. Adler kicherte abermals und ließ sich auf den Spaß ein.

»Wertes Fräulein, darf ich Ihnen mein Kompliment aussprechen? Sie sehen einfach ganz hinreißend aus. Besonders Ihr Kleid unterstützt die kurvige, feminine Silhouette.«

Nun kicherten beide und für beide hatte dieses gemeinsame Lachen etwas Befreiendes, Lösendes. Es schien, als verständen sie einander und wären zum ersten Mal auf gleicher Wellenlänge. Als sie mit quietschenden Reifen die Ringbahnbrücke überfuhren, wurde Zach stiller und sprach wieder mit ernster Männerstimme.

»Seien Sie unbesorgt. Alles wird gut gehen. Ich werde in der Nähe bleiben heute Nacht, das verspreche ich.« Er schaltete in den nächsthöheren Gang und zog plötzlich eine Ringschatulle aus der Manteltasche, die er ihr unkommentiert in die Hand drückte. Mit großen Augen schaute sie verwundert auf das kleine Kästchen und glaubte, die wenigen Tropfen von Vaters Morphin hätten sie mittlerweile in einen tieferen Rausch versetzt. Wollte Zach ihr jetzt Schmuck schenken oder was sollte das Ganze? Schnell öffnete sie die Schatulle und nahm den metallischen Inhalt heraus, der auch tatsächlich etwas von einem Ring hatte, wobei nur der obere Teil danach aussah, während der untere Teil die Form eines gewöhnlichen Vierkantschlüssels hatte.

»Kleines Geschenk zum Einstand«, erklärte Zach. »Ein Dornschlüssel mit Innenvierkant, neun Millimeter. Damit öffnet man in der S-Bahn alle Türen zwischen den Wagen, um die gesamte Bahn durchlaufen zu können. Kann vielleicht nicht schaden.«

Sie inspizierte das stabile Teil aus Gusseisen genauer.

»Und da meinen Sie etwa, dass ich heute nur einen stabilen Mann in Frauenkleidern als Aufpasser sowie einen stabilen Vierkantschlüssel brauche, um das alles zu überleben?«

»Seien Sie doch nicht hämisch! Als Kollegen sollten wir lernen, besser aufeinander zu hören und aufzupassen!«, entgegnete er. »Es bleibt uns doch nichts anderes übrig. Wir brauchen einander. Sie mich genauso wie ich Sie.«

Seine Worte schienen ziemlich ehrlich aus seinem roten Kussmund zu purzeln.

»Sie mich? Einen Moment lang dachte ich, Sie haben sich zum Werkzeug von Görnitz machen lassen und sind zu seiner Männerhorde gewechselt. Wie kommen Sie denn nun ausgerechnet auf so was? Ich bin ja nun wirklich noch nicht tot.«

Zach begann sich zu erklären, was bei einem geschminkten Mann mit unechten Brüsten etwas Rührseliges hatte.

»Ich bin ehrlich, ich finde, Sie machen Ihre Arbeit großartig. Mich begeistert Ihr heller Kopf, weil ich selbst keinen besitze, hatte ich nie. Ich saß bisher lieber in der Kneipe und soff mir alles, was kompliziert werden könnte, schleunigst wieder weg. Ich habe mir auch vorgenommen, damit wieder aufzuhören, brauch mal wieder einen klaren Kopf. Dafür habe ich so was wie Spürsinn und Instinkt. Ich bin halt ein Großstadtköter, und bloß weil mir Görnitz in der Sitzung neulich recht gab, heißt das ja noch lange nicht, dass ich mich auf seine Seite schlage. Die Verlogenheit dieses Typen geht mir genauso auf die Nerven wie Ihnen.«

Derartige Worte aus Zachs Kussmund verblüfften Adler.

»Das klingt ja so entschlossen, dass es von einer Frau kommen könnte, Herr Kollege.«

»Kommt es ja auch«, flachste Zach mit falscher Bescheidenheit und klimperte erneut mit seinen großen, schwarzen Wimpern.