Freitag, den 6. Dezember 1940
Völkischer Beobachter
Berliner Ausgabe
Berlin, Freitag, den 6. Dezember 1940
Brutale Überfälle in S-Bahnzügen
Berlin. Rummelsburg/Karlshorst. Wiederholt soll ein Mann auf der S-Bahnlinie Ostkreuz-Erkner und im nahen Gebiet der Lauben unter Anwendung grober Gewalt in der Hauptsache Frauen misshandelt oder sogar getötet haben. Der Täter soll mit einem Mantel sowie mit einer Art Schirmmütze bekleidet sein. Alle Volksgenossen mit zweckdienlichen Hinweisen werden gebeten, sich sofort mit dem Reichskriminalpolizeiamt am Werderschen Markt 1 oder mit anderen polizeilichen Dienststellen in Verbindung zu setzen.
»So ein perverses Schwein, also wirklich!« Die vollbusige Daggi Bürger schüttelte nur erschüttert den Kopf, nachdem sie den Text auf der Titelseite des VÖLKISCHEN BEOBACHTERS gelesen hatte. Schwer atmend stand sie hinter dem Tresen im Teuffels-Eck . Eine Gaststube, die ihrem Namen heute alle Ehre machen sollte, obwohl die bescheidenen Abmessungen nicht einmal Platz für Schlägereien zuließen. Und während hinten, in der halbdunklen Ecke des Kneipenraums, ein paar alte Veteranen ihre Skatkarten dreschten, schnurrte sich Evelyn Künneke per knisternder Schallplatte durch den Gassenhauer Sing, Nachtigall, sing .
»18?«, »Jo!«, »20?«, »Jo!«, »22?«, »Jo!«, »Weg! He, Daggi! Machste uns drei Frische, bitte!«, schallte es aus dem Hintergrund.
Oscar Zach, der vierte und letzte Gast im Kneipenraum, saß wie so oft vorne am Tresen – wie immer an seinem Stammplatz und wie immer allein. Mit den Lippenbewegungen eines Karpfens versuchte er, vor seinem leeren Glas kunstvoll Kreise zu rauchen, was ihm aber misslang.
»Machst du mir auch noch ’n frisches Sodawasser, Daggi?«
»Wie viel warn dit jetze, Oscar?«
»Eins. Ein Glas, bitte.«
»Nee, Oscarchen, ick meene, wie viel Frauen?«
»Lass mich kurz überlegen! Fünf nur vergewaltigt und gefoltert, zwei vergewaltigt, getötet und auf Schottergleise geworfen, eine vergewaltigt und abgemurkst und eine in der Bahn mit der Brechstange zur Strecke gebracht. Die wurde aber nicht vergewaltigt, sondern wurde nur totgeschlagen, und man hat ihr den Schädel zertrümmert.«
Von den schaurigen Erzählungen angewidert, schüttelte Daggi nur den Kopf.
»Dit is’ allet einfach nur gruselig. Also entweder gleich Kopp ab oder Schwanz ab. Oder allet beedet, aber dann eens nach’m andern. Und sowat passiert immer allet vor Weihnachten, weeste?«
»Wie wär’s jetzt mit ’ner neuen Soda, Daggi-Schatz?«
»Sach ma, musste dir heute keen Mut antrinken? Ick warte schon uff den Heiratsantrag heute, meen Kleener!«
»Na, dazu brauche ich doch keinen Alkohol, Liebling. Bist auch ohne Bier und Schnaps die Allerschönste im 1001-jährigen Reich«, flirtete er sie an, obgleich sie resistent gegen seine Flirtversuche war.
»Ja, ja, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen, übler Schamör. Find ick übrijens jut. Mit Alkohol löst man nämlich keene Probleme. Mit Blubberwasser aber och nich’, meen Kleener. Ick mach gleich!«
In diesem Moment stiefelten zwei unbekannte Männer mit deutschem Gruß, braunen Uniformjacken und schwarzen Reiterhosen ins Lokal. Mit Schirmmütze auf dem Kopf und Offiziersstock unterm Arm, stellten sich die Reiter ohne Pferd großtuerisch an den leeren Tresen und nahmen Zach regelrecht in die Mangel.
»Der Herr gestattet mal, ja!«, sprachen sie synchron wie Brüder und rückten noch dichter an ihn heran. Zach war sichtlich irritiert, gab es doch reihenweise freie Plätze im Lokal. Scheinbar suchten die Typen hier etwas, dass sie schnell fanden, nämlich Streit.
»Bedienung! Wir kriegen hier mal gleich drei Gläser und ’ne Pulle Norder Doppelkorn, ja? Der Herr hier is’ eingeladen«, sprach der eine.
Zach wusste noch nicht, was sie wollten, wusste aber nur zu gut, dass man in solchen Momenten höflich blieb, damit es nicht eskalierte.
»Guten Abend die Herren, das ist wirklich sehr freundlich, kommt mir aber ungelegen. Ich trinke keinen Alkohol, daher lehne ich dankend ab.«
Die beiden Spießgesellen stellten auf Durchzug und der eine zählte Daggi ordentlich an.
»Sag mal, sitzt du auf den Ohren, dicke Kuh?«
Prompt folgte die Reaktion hinten vom Skattisch.
»Hallo, hallo! Hier mal ’n bisschen freundlicher zur Dame, Kollejen!«
»Schnauze Opa, sonst knallt’s gleich!«
»Also, Sie könnten wirklich etwas freundlicher sein«, reagierte Zach noch höflich und ahnte immer noch nicht, was das Ganze sollte. Er begriff nicht, dass die Typen ihm ans Leder gehen wollten, wogegen Daggi sofort merkte, dass sie ordentlich auf Krawall gebürstet waren. Aber ein Handgemenge konnte sie hier nun überhaupt nicht gebrauchen, daher beugte sie sich dem Befehl, zog eilig eine volle Flasche Schnaps aus dem Regal, stellte aber vorsichtshalber statt der drei nur zwei Schnapsgläser dazu.
»Hör mal, wir sind hier zu dritt! Kannste nich’ mal zählen, du fettes Stück Scheiße?«, blaffte er erneut und hob mit einem quietschenden Dreh den Korken aus der Flasche.
»Auf was trinken wir, Kollege?«, sprach er zu Zach und füllte zunächst die kleinen Gläser. »Auf was wirt r i n k e n?«,wurde er laut und hatte dabei buchstäblich Schaum vor dem Mund.
»Wie gesagt, ich trinke nicht«, wiederholte Zach und traute seinen Augen nicht, als er sah, wie ihm sein selbst ernannter Trinkbruder mit gluckerndem Geräusch den kompletten Rest Schnaps aus der Flasche bis zum Rand des leeren Wasserglases füllte.
»Ich glaube, wir sollten auf die Freundschaft trinken!«, sagte er und hielt ihm das große Glas bedrohlich vors Gesicht. Zach wollte sich abwenden, doch da packte ihn der andere Typ von hinten an den Haaren, bog seinen Kopf nach hinten und nahm seinen Arm in einen kräftigen Polizeigriff.
»Los! Trink, du Arschloch! Auf die Freundschaft!«
»Sofort raus hier!«, rief Daggi, fuchtelte mit den Armen und versuchte vergeblich, vom Hausrecht Gebrauch zu machen. Ihr beachtlicher Busen wogte förmlich vor Aufregung. »Zischt hier jetzt ab, sonst rufe ich die Polizei!«
»Schnauze, Dicki! Das hier wird ’n Männergespräch unter Freunden!«
»Es ist mir völlig gleichgültig, ob ihr Analphabeten mit mir auf die Freundschaft trinken wollt!«, murmelte Zach und verlor langsam die Selbstbeherrschung. »Lass mich gefälligst los, du Penner! Du brichst mir den Arm!«
Nach einer kurzen Pause, die beide offensichtlich brauchten, um das Gesagte zu verstehen, zog der eine noch fester an Kopf und Arm, während der andere ihn zwang, das volle Glas auszutrinken.
»Los! Runter damit! Kleinen Schluck für Mutti, großen Schluck für Obergruppenführer Görnitz. Los, trink, Verräterschwein!«
Zach wehrte sich und wusste nun, was hier gespielt wurde. Die Typen wurden eindeutig von Görnitz geschickt, der sich hiermit für mangelnde Loyalität und freie Meinung revanchieren wollte.
»Wenn Sie nicht sofort loslassen, rufe ich die Polizei«, schrie Daggi aufgebracht.
»Halt endlich die Klappe, du fette Sau, sonst geht hier gleich dein Laden zu Bruch.«
Sie schwieg auf der Stelle. Während die Skatbrüder hinten auch nichts mehr zu sagen wagten und stumm und tatenlos dabei zusahen, wie einer der Peiniger Zach zwang, die scharfe Flüssigkeit auf ex hinunterzuwürgen, spürte der nur, wie ihm das Ganze gleich wieder hochkam. Doch blieb ihm nichts weiter übrig, als zu schlucken, sonst wäre er erstickt, denn das scharfe Gesöff durchflutete nicht nur seinen Rachen, sondern landete auch in seinen Nasenlöchern und floss ihm in die Luftröhre. Überall brannte es in ihm wie Feuer.
Als das Glas schließlich komplett geleert war und sie Zach losließen, fiel der nur wie ein Toter zu Boden. Er schluckte, er stöhnte, er röchelte und das alles gleichzeitig in der gekrümmten Haltung eines Vergifteten. Schließlich würgte er alles samt seiner ersten Wasserbestellung wieder heraus, sodass die schwüle Luft im winzigen Lokal säuerlich nach Erbrochenem roch. Sie blickten zu ihm herunter und die Angriffslust sprang ihnen förmlich aus den Augen.
Würde ihn jetzt das gleiche Schicksal ereilen wie Herrmann Bohr? Und sollten das jetzt die letzten Sekunden seines Lebens werden?
Blaugestreifter Bademantel und braunkarierte Hauspantoffeln – so stand Cornelius im Hausflur auf der Etage seiner Wohnung, als er gerade unten vom Hof kam und den Henkel des verbeulten Emaille-Eimers in der Hand hielt. Viktoria hatte ihn gebeten, den Müll herunter zu bringen. Vielmehr hatte sie es ihm verordnet. »Morgen kommt die Müllabfuhr«, sagte sie, und »Bewegung und frische Luft tun dir gut«, sagte sie. »Besonders nach den ganzen Strapazen der vergangenen Tage«, sagte sie. Ohnehin sagte sie »nach den ganzen Strapazen« mehrmals am Tag und betonte es meist, als wären es nur ihre Strapazen und nicht seine. Aber war es nicht er, der nach all dem Abstand brauchte? Von der Laube, von Degesch und von NEUANFANG ? Er wollte nichts weiter als seine Ruhe. Durchatmen und es nicht wieder dem Schicksal überlassen, die Karten neu zu mischen. Dass der Moment irgendwann kommen mochte, an dem er Johanna wiedersehen würde, wusste er, auch wenn er noch nicht bereit war, ihr unter die Augen zu treten. Dass es aber schon heute und schon jetzt sein sollte, darauf war er nicht vorbereitet. Er wusste nicht, wie er es sagen sollte, was er ihr sagen wollte, nämlich, dass ihre Zeit vorüber sei.
Bei Nachbarin Irmscher stand die Tür einen Spalt offen, davor eine gepackte Obstkiste. Cornelius roch Johannas Duft, der von drinnen aus der Wohnung raus auf den Flur zog. Immer dachte er, es war der Duft ihres Haares, ihres Körpers, ja ihres ganzen Wesens. Der Duft, mit dem er immer Jugendlichkeit, Revolution und Zukunft verband. Mittlerweile wusste er, dass es nur eine Überhöhung seiner Fantasie und in Wirklichkeit der künstliche Babypudergeruch schnöder Warta -Seife war.
Er klopfte zaghaft und schob vorsichtig die Tür auf.
»Hallo? Ist hier jemand? Johanna? Bist du da?«
Johanna war im hinteren Zimmer beschäftigt und schritt eilig über die quietschenden Dielen nach vorn zur Tür. Sie war sichtlich überrascht.
»Ja, ich bin’s. Wie sagt man? Totgesagte leben länger«, sagte er und lächelte reserviert. »Du ziehst aus?«
»Ob ich ausziehe? Christian! Mich hätten keine zehn Pferde dazu gebracht, nur eine Nacht hier zu verbringen. Ich bin nach dem Abend in die Laube gezogen und habe aufgeräumt, umgeräumt und gewartet, bis du freikommst. Aber du scheinst ja wohlauf und gut versorgt zu sein, wie ich sehe?«
Missfällig verschränkte sie die Arme, musterte den ordentlich gekämmten Mann in seinen spießigen Hauspantoffeln und dem Frotteemantel. Auch blickte sie auf den Mülleimer und sah ihn mit einem Blick an, der viele Fragen stellte. Cornelius allerdings rang um Worte, schaute nur mit gesenktem Haupt auf den Boden und vermied es, sie anzusehen.
»Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Der Tod deiner Tante …«
»Du musst mir doch nichts erklären, das steht doch völlig außer Frage, Christian. Die Beerdigung ist am Montag, mein Vater hat alles organisiert. Du bist doch da an meiner Seite? Peter kommt eventuell aus Bromberg zurück.«
»Da muss ich erst mal Viktoria fragen«, entschuldigte er sich. »Sie hatte für mich bei der Polizei ausgesagt und alle überzeugt, sogar den Obergruppennazi dort.«
Er gab sich einen Ruck.
»Hör zu, ich bleibe erst mal hier … bei ihr … in der Wohnung …. Wir haben uns wieder versöhnt, keine Ehe ist ja perfekt. Wir haben unsere Trennung aufgearbeitet und geben uns eine zweite Chance.«
Johanna konnte nicht glauben, was sie da hörte und hatte das Gefühl, hier stünde jemand Fremdes vor ihr, aber nicht der Mann, der einmal groß von Verlebendigung statt Vernichtung gesprochen und sich vorgenommen hatte, ihr Held zu sein und mit ihr die Welt zu retten. Vorbei war es mit seiner Ritterlichkeit, dahin war die geistige Schärfe ihres reifen Geliebten.
»Eine zweite Chance? So kannst du doch nicht mit mir umgehen! Was wird aus deinen großen Worten? Und was wird aus uns, aus der Laube, aus NEUANFANG und unseren Taten? Wo sind deine Ideale geblieben?«
»Ich habe während der Einzelhaft lange nachgedacht. Wir sollten uns beide nicht mehr den Illusionen hingeben. Nichts kann so bleiben wie bisher. Wir sollten es akzeptieren und uns damit abfinden, dass wir auf dem Holzweg waren.«
»Ich verstehe nicht, was falsch gelaufen ist?«, entgegnete Johanna und nun war sie es, die auf den Boden starrte. »Wie soll es denn jetzt weitergehen? Wie soll ich denn damit umgehen?« Vor lauter Enttäuschung war sie fast den Tränen nahe.
»Menschen verändern sich nun mal«, sprach er direkt. »Du hast mich nie richtig verstanden, nie erkannt, was in mir vorgeht. Wir werden es nie schaffen, unsere innere Leere zu füllen, indem wir als ungleiches Paar in einer heruntergekommenen Laube hausen und von Luft und Liebe leben. Du bist noch ein junges Ding und wirst das schnell verkraften und irgendwann wieder glücklich werden. Deshalb bleib in Gutland und fang neu an. Die Parzelle gehört dir. Ich schenk sie dir.«
Plötzlich zog jemand nebenan an der Kette der schweren Wohnungstür und öffnete. Es war Viktoria, die Stimmen auf dem Flur gehört hatte und nun mit ihrem langen mageren Hals wie durch die Nische eines Taubenschlags durch den Türspalt lugte.
»Guten Abend, Fräulein Schenk. Mein herzliches Beileid Ihnen und Ihrer Familie. Ungeheuerlich, was Ihrer Tante da passieren musste.« Ansonsten hatte sie nichts hinzuzufügen und sah keine weitere Veranlassung, das Gespräch fortzusetzen. Das hier war ein bürgerliches Haus und sie wollte nur zwei Dinge. Erstens, dass ihr Gatte gefälligst schnell wieder zu ihr hereinkam und zweitens, dass er nie wieder nur ein einziges Wort mit dieser Person wechselte, die so viel Unglück und so viel Leid in ihr Leben gebracht hatte. Sie schnipste hektisch mit dem Finger, als würde sie ihren Hund zurückkommandieren.
»Christian! Kommst du bitte! Du weißt doch, dass dir Zug nicht gut tut nach den ganzen Strapazen.«