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Montag, der 9. Dezember 1940

Die Kältewelle hatte Berlin nun vollständig überrollt. Die Quecksilbersäulen der Thermometer sanken auf minus 6 Grad. Im schneidenden Frost erwachte das Leben in der Stadt allmählich, obwohl der Tod überall schlummerte. Im großen Sitzungssaal des Reichskriminalamtes fiel wenig Licht nach innen und man glaubte, sich im Horrorkabinett des Berliner Panoptikums zu befinden. Der reinste Wahnsinn war ausgestellt: Überall hingen die grausamen Fotos aller misshandelten und toten Frauen der Serie an Stelltafeln. Adler wurde das Gefühl nicht los, dass das Ganze nie enden würde. Auch konnte sie diese Peinlichkeit mit der Fahrkarte und dem sturen Kontrolleur immer noch nicht fassen. Und zu allem Übel gab es zwei tote Frauen am vergangenen Wochenende.

Die erste Tote hieß Rosmarie Benkhoff, 32-jährige Kriegswitwe und Rüstungsarbeiterin, wohnhaft in Gutland II. Ein schreckliches Foto. Ihre Leiche hatte man am Sonntag bei Tageslicht im Morgennebel ihres Vorgartens gefunden. Inmitten einer lichten Hecke lag sie nackt und blutig. Die zweite war die Postangestellte Anneliese Schildritz, die man am Morgen im Gleisbett vor Rahnsdorf fand. Zwar konnte der Fahrer der herannahenden S-Bahn die Situation am Morgen rechtzeitig erkennen und brachte seinen Zug zum Stehen, doch kam jede Hilfe zu spät: Die 28-Jährige war an den Folgen ihrer schweren Verletzungen bereits verstorben.

»Wo wir mal wieder ganz am Anfang wären!«, rief Görnitz wie ein scharfes Schwert in die Stille. »Ich glaube, wir sollten auf die Erfolge Ihres Kasperletheaters Quadriga anstoßen. Würde eine recht trockene Veranstaltung werden. Bravo! Versuchen Sie bloß nichts Gutes mehr zu tun, dann passiert Ihnen auch nichts Böses!« Dabei schaute er warnend zu Zach, der heute still blieb, da er noch an den Blessuren der Kneipenschlägerei zu knabbern hatte.

»Es war ohne Zweifel unser Mörder!«, antwortete Adler. »Auf dem Weg zur Laube der Benkhoff fand der Erkennungsdienst wieder Fußspuren. Der Täter muss hinter oder neben ihr hergelaufen sein, dann verlor sich seine Spur in der Parzelle. Wieder Schuhgröße 43, wieder Arbeitsschuhe mit Profil, wieder 18 Millimeter Eindrucktiefe von einem Mann mit knapp 70 Kilogramm Körpergewicht. Alles passt zum Weichenwart. In meinen Augen heißt der Täter Paul Golzow! Verhören wir den Mann!«

Die Runde schwieg und Görnitz reagierte auf der Stelle.

»In Ihren Augen also wieder verhören. Na, da hat es aber jemand eilig!«, sprach er unduldsam und strich mit der Zungenspitze über die Lippen.

»Nach dem kläglichen Scheitern, nach erneutem Scheitern, wälzt man wieder alles auf die Volksgemeinschaft und sogar auf einen tapferen Parteigenossen der SA ab? Wie wir jedoch vom Bezirkssturmkommando erfahren konnten, war es genau jener Golzow, der uns am Samstag als SA-Soldat ehrenamtlich unterstützt hatte. Er schob Wache in Karlshorst bei Eiseskälte. Es ist also alles andere als wahrscheinlich, dass er der Täter ist. Der Mann müsste ein wahres Wunder sein, um sich an drei Orten gleichzeitig aufzuhalten.«

»Tja, Wunder gibt es immer wieder!«, rief Hartmann mit Wortwitz dazwischen. »Und auch ein Kater kann das Mausen nicht lassen …«

»… Wenn Sie Golzow jetzt einfach so verhaften, ist das ein eindeutiger Affront. Da helfen auch keine duften Sprüche mehr.« Görnitz sprang hoch, um den Saal zu verlassen. »Da landen Sie alle im Bau, das kann ich Ihnen sagen! Beenden Sie das Theater endlich und lynchen Sie nicht unschuldige Volks- und Parteigenossen!«

Er pfiff seinen Adjutanten zu sich, der ihm die Tür öffnete.

»Schiller! Kommen Sie! Quadriga ist erledigt! Endgültig erledigt!«

Sie verließen den Raum und knallten die Tür zu.

Hartmann blieb trotz allem gefasst.

»Bei allem Hin und Her, eins steht doch fest – der Täter ist nicht gefunden. Wenn wir Quadriga jetzt beenden, wird er auf die gleiche Tour weitermachen. Ob nun Golzow, Goebbels oder sonst wer. Er spürt, dass da nichts mehr ist und wird wieder morden. Nichtstun wäre jetzt einer der größten, aber leicht zu beseitigenden Dummheiten.«

»Nichtstun, werte Frau Hartmann …!«, war Adlers Stimme deutlich zu hören. »Nichtstun kann jetzt unsere allerbeste Aufgabe werden, die unseren ganzen Geist fordert! Wir sollten einfach damit beginnen, nichts mehr zu tun!«

Während sie bei allen nur Fragezeichen in den Augen verursachte, spann Adler die Fäden ihrer Ideen weiter.

Waltraud Irmscher wurde bestattet. Viel zu früh war sie gestorben, denn jemand hatte sie aus dem Leben gehämmert, einfach weggehämmert. Sie war noch nicht einmal 40 Jahre alt geworden.

Auf dem Matthäus-Friedhof Berlin-Schöneberg schneite es und noch mehr als sonst hatte man das Gefühl, man müsse schweigen. Nicht so wie die Raben in den Bäumen, die schwarz, drohend und laut in den Ästen stritten. Unten allerdings, auf dem schneebedeckten Totenacker, sah man keine Toten, nur Kreuze und Grabsteine. Allein der natürliche Tod war schon etwas Unbekanntes, konnte er doch, auch wenn das Sterben immer und überall in diesen Zeiten präsent war, nie normal sein. Wer häufiger mit dem Tod zu tun hatte, und das hatte der Diakon Alfred Schenk allemal, für den war der Tod etwas Normales. Umringt von weniger als einer Handvoll Trauergäste, stand er mit gesenktem Haupt vor der Aushebung, die Friedhofsarbeiter aus dem gefrorenen Boden gegraben hatten. Hier und jetzt wollte er seiner Schwägerin letzte Worte schenken. Johanna hielt ihre Mutter, Viktoria und ihr Gatte waren auch da und der Neffe der Verstorbenen fehlte, weil er in Bromberg bleiben musste und man ihm nicht gestattete, nach Berlin zurückzukehren. Für Sonderurlaub im Trauerfall zählten nur Verwandte ersten Grades.

»Überwältigt von Fassungslosigkeit und Schmerz tauche ich in meine Erinnerung«, predigte Alfred Schenk am offenen Grab. »Und ich spüre, dass Waltraud es nicht gewollt hätte, dass ich lange traurig bin und all meine Lebensfreude wegschließe.«

Noch ein letztes Vaterunser und man ließ den Sarg in die Erde sinken. Zwei Hände voll Sand, Nelken hinterher und sofort wollte man sich zu Kottler’s Schwabenwirt zum Leichenschmaus aufmachen. Niemand weinte und die Schneeflocken wurden immer schwerer.

Viktoria Cornelius lehnte die herzliche Einladung ab. Zu viele Aufgaben im Dienste der Rasseforschung warteten auf sie im Amt, sie hatte ja einen Ruf zu wahren. Es galt, die christliche Prägung des nahenden Weihnachtsfestes zurückzudrängen und die Deutsche Weihnacht als Siegesfeier der nationalen Wiedergeburt zu beweisen. Und so ließ sie ihren Ehemann duldsam von der Leine, damit dieser am Baumstamm einer kahlen Linde einige Worte mit Johanna wechseln konnte. »Aber nur fünf Minuten!«, befahl sie und er ging zu seiner ehemaligen Geliebten.

»Hält dich der alte Ofen in der Laube warm?«, begann er trivial.

»Ist das alles, was du mir zu sagen hast?« Ihre Worte vereisten in der kalten Luft. »Was wird aus uns? Und was wird aus unserer Aktion in Block D? Es sind noch nicht einmal zwei Tage. Was soll ich mit dem Sprengstoff unter der Petersilie denn nun alleine anstellen?«

Cornelius hatte nicht wirklich Antworten für sie.

»Ich komme langsam zur Ruhe. Viktoria hilft mir dabei und sagt, ich soll erst mal was Sinnvolles aus meinem Leben machen.«

»Sinnvolles gibt es im Leben doch nicht«, antwortete Johanna. »Du selbst entscheidest doch über den Zweck deines Lebens. Wenn du in der Wohnung hockst, ist das nicht sinnvoll. Wir wollten das Große starten, Christian! Du wolltest mit mir die Welt retten, wolltest mein Held sein!«

»Ich bin raus, raus aus dem Spiel«, sprach er. »Vielleicht haben sie mich eingeschüchtert, vielleicht lass ich mich von Viktoria beherrschen und bin abhängig. Aber ich habe nichts mehr zu sagen. Ich will meine Ruhe und meinen Frieden. Keine Gewalt mehr, keine Bombe und kein Attentat.«

»Du kannst doch ein Regime nicht auf dem Sofa bekämpfen«, erwiderte sie. »Du hast gespürt, wie sie vorgehen. Sie dürfen alles, gehen immer massiver vor. Verschleppung, Verhaftung, Vernichtung. Lass es uns endlich vollenden, Christian! Block D! Übermorgen!«

»Johanna, hör zu!« Er wollte es beenden. »Ich bin müde. Unendlich müde von den Enttäuschungen. Die Welt um mich herum wird immer komplizierter, immer lauter. Fühlst du nicht ihre Forderungen? Ich jedenfalls fühle mich in dieser Welt gefangen und werde nichts mehr gegen sie tun.«

Lüdke unterbrach Adler und kommandierte seinen Sekretär aus dem Raum.

»Klaussner! Holen Sie mal meine Zigarren aus dem Büro! Ich kann mich nicht konzentrieren!«

Ohne zu ahnen, dass Lüdke ihn von der Sitzung ausschloss, folgte er unbedacht dem Befehl seines Chefs und schritt hinaus. Lüdke wartete noch einen kurzen Moment, bis die Tür zufiel und sprach erst dann weiter.

»So! Und nun würde ich gerne Kollegin Adler weiter zuhören. Bitte, Frau Kommissarin! Machen Sie mal weiter!«, zwinkerte er ihr mit freundlichen Augen zu.

»Wir müssen Signale geben, dass wir einfach nichts mehr tun«, erklärte sie. »Nichts. Gar nichts. Wir müssen erklären, dass wir alle Aktionen eingestellt haben. Wir müssen allen zu verstehen geben, dass wir nicht mehr nach dem Täter suchen und Polizeistreifen, SA-Posten und Ermittlungen zurückgezogen haben, dass wir aufgeben.«

Ihre Chefin fuhr ihr forsch in die Parade.

»Schnapsidee, Adler! Wir hatten das doch schon diskutiert! Sie erinnern sich doch! Der Fuchs hat die Gans schon gestohlen. Und dann? Dann sieht er es als Freibrief und was bleibt übrig? Weitere Opfer! Wir können es nicht abblasen!«

Adler versuchte genauer zu beschreiben, was sie meinte.

»Alle müssen glauben, der Fall wäre erledigt. Görnitz, die SA-Standarten und ganz besonders der Täter. Aber natürlich bleiben wir, wie bisher, in voller Bereitschaft und spinnen das Netz dichter als je zuvor. Selbstverständlich muss auch die Öffentlichkeit in die falsche Richtung gelotst werden. Wir täuschen das Deutsche Reich, täuschen Berlin, Karlshorst, alle Bahnleute sowie alle SA-Männer, postieren uns jedoch im Quadrat und locken den Täter so aus der Reserve. Wir drehen den Spieß einfach um.«

»Wie bei einem geheimen militärischen Manöver meinen Sie?«, hakte Lüdke nach.

»Um den Täter buchstäblich auf frischer Tat zu ertappen, richtig.«

»Görnitz und Konsorten werden uns dafür in der Hölle schmoren lassen«, erwiderte Lüdke. Hartmann fand Adlers Idee plötzlich hervorragend. Als Chefin kannte sie jedes Reichsgesetz in- und auswendig und zog das beste Ass aus dem Ärmel.

»Ich glaube, wir hätten zur Legitimation dazu ein Werk staatlich verankerter Rechtslosigkeit in petto – das Gesetz der Geheimen Staatspolizei. Unser Obergruppenführer wird es sicher kennen.«

Sie zitierte es aus dem Kopf in feinstem Amtsdeutsch.

»Da heißt es nämlich, dass staatsgefährliche Bestrebungen erforscht und bekämpft werden sollen. Das würden wir mit Adlers Idee tun! Auch steht da, dass die Aufgaben von Polizeistellen wahrgenommen werden sollen. Wir handeln also gesetzestreu, wir sind ja so eine Stelle. Außerdem steht dort, dass geheime Aktionen einzuleiten sind, soweit aufgrund bestimmter Tatsachen die Gefahr der Wiederholung besteht oder die Aufklärung aussichtslos wäre. Es besteht Wiederholungsgefahr und die Aufklärung ist aussichtslos, sollten wir unsere letzte Chance nicht wahrnehmen!«

Hartmann grinste Adler an, Zach und Kuttnik schauten zu Lüdke und sie triumphierten. Es war genial. Man würde Görnitz mit den eigenen Gesetzen schlagen und den Täter vielleicht endlich erwischen.

»Somit gehe ich davon aus, dass wir nur noch über die Maßnahmen für die kommende Woche sprechen«, sprach Hartmann. »Es kommt da noch allerhand Arbeit auf uns zu!«