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Und wieder einmal hatte sie uns an der Nase herumgeführt, sich damit aus der Affäre gezogen, dass sie die Entscheidung, ob sie nun zur Hochzeit ihrer Enkelin kommen wollte oder nicht, für immer aufgeschoben hatte.

Eine Woche lang ließ ich ihr Schlafzimmer unberührt. Ich vermied sogar, es zu betreten, und konzentrierte mich ausschließlich auf die Beerdigung, auf die Gespräche mit den Menschen, die kamen, um ihrer zu gedenken. Viele der Frauen, die die Nachmittage meiner Kindheit bevölkert hatten, lebten nicht mehr. Auch sie waren von uns gegangen, noch vor der Margiala. Comare Antonietta war beispielsweise in einer kalten Winternacht gestorben, in einer der kältesten, an die wir uns hier überhaupt erinnern können. Sie war genau in dem Moment gestorben, als ein Blitz das Zimmer taghell erleuchtet und die Dunkelheit durchbrochen hatte. Um endlich nach einer langen, schweren Krankheit Erleichterung, ja Erlösung zu finden.

Auch Comare Nannina war gestorben, genauso wie ihr Sohn, der nach Turin gegangen war, um in einer Fabrik zu arbeiten. Er war von einer schweren Last zerquetscht worden, die sich von einem Drahtseil gelöst hatte.

Als wir auf dem Friedhof waren und der Sarg mit frischen Blumen bedeckt werden sollte, hielten meine Schwestern und ich uns ganz fest an den Händen. Unweit von uns taten Francesco und Giuseppe mit gesenkten Köpfen dasselbe, und diese Reserviertheit sagte alles über die große Familie, die die Margiala als Matriarchin aufrechterhalten hatte und in der die Männer immer nur eine Statistenrolle gehabt hatten. Rosetta weinte, und zwar mehr als alle anderen. Ich könnte nicht sagen, warum – ein jeder reagiert anders auf Verluste. Vielleicht hatte auch sie sich eingebildet, dass die Margiala unsterblich war. Vielleicht bereute sie auch, in den letzten Jahren kaum noch präsent gewesen zu sein und sich weit von unserer Welt entfernt zu haben.

Zur Beerdigung der Margiala kamen eine Menge Leute. Mehr als zu der von Agostino: Ich erinnere mich noch gut an die heiseren Stimmen und rabenschwarzen Kleider von damals, an das Gefühl eines schweren Verlusts. Bei der Margiala war das anders. Selbst wenn es ganz unbewusst geschieht, bereitet man sich mit der Zeit doch auf schlimme Dinge vor.

Während der Priester den Sarg segnete, drückte mir Cornelia die Hand, und ich drückte die von Rosetta. Vertraute und fremde Gesichter rückten zusammen, um unserer Mutter das letzte Geleit zu geben. Ich bin mir sicher, dass sie in diesem Moment lächeln musste, auf ihrem hohen schwarzen Thron. Denn der musste einfach schwarz sein inmitten all des himmlischen Weiß.

Als ich die Fensterläden des großen Schlafzimmers eine Woche später öffnete, flutete Tageslicht herein. Ich wollte das Halbdunkel, das jahrelang darin geherrscht und alles in eine düstere Heiligkeit gehüllt hatte, endlich verscheuchen. Was, wenn ich meine Sachen dorthin brachte und aus dem Kämmerchen auszog, in dem ich ein Leben lang gewohnt hatte?

Darüber wollte ich mir später Gedanken machen.

Ich sah, dass die Kerze ausgegangen war, und eilte zum Markt, um eine neue zu kaufen, denn sonst hätte sich die Margiala bestimmt im Grabe umgedreht.

»Begleite Lorenzo und mich doch morgen! Es wird dir guttun, mal rauszukommen.«

Cornelia wusste genau, dass ich am stärksten unter dem Verlust litt. Sie hatte schließlich ihr eigenes Leben, eine Tochter, die kurz davor stand zu heiraten, und eine ganze Welt, die auf sie wartete, sobald sie den Tod der alten Mutter verwunden hätte.

»Einverstanden.« Ich nickte, auch wenn mich die Vorstellung, nach all den Jahren ans Meer zurückzukehren, nervös machte, wenn nicht sogar ängstigte.

Das Grotta Regina war ein Luxuslokal für Neureiche, für Leute mit einer Vorliebe für Silberbesteck und kleine Portionen. Die Feier sollte in einem großen minimalistisch eingerichteten Saal stattfinden, und meine Schwester war gekommen, um die Details des Hochzeitsmenüs zu besprechen. Lorenzo und sie schienen sich nach wie vor sehr gut zu verstehen, obwohl sie nun schon so viele Jahre verheiratet waren. Und jedes Mal, wenn dieser seltsame Mann mit dem Bärtchen wissen wollte, was wir uns zum Nachtisch oder als Vorspeise wünschten, schaute er mit seinen hellen Augen zu meiner Schwester hinüber, um deren Zustimmung einzuholen. Wie sehr sich Cornelia seit unserer gemeinsamen Kindheit verändert hatte! Diese raffinierten Gerichte und unbekannten Namen erschöpften mich jetzt schon.

»Ich mach einen kurzen Spaziergang«, flüsterte ich meiner Schwester ins Ohr.

Sie nickte wenig begeistert, doch vermutlich hörte sie mich kaum, weil sie so damit beschäftigt war, sich zwischen dem Risotto und den Crêpes mit Lachsfüllung zu entscheiden.

Ich war froh, rauszukommen und frische Meeresluft zu atmen, aber es war alles so anders als früher. Graue Wohnblöcke verschandelten die Landschaft und nahmen ihr den archaisch-wilden Charakter, den ich so sehr liebte. Mein schwarzer Rock flatterte im starken Wind, und ich genoss die Kühle, die er zurückließ. Das Ufer war befestigt worden, damit die Wellen nicht auf die Straße schwappten. Ich musste mich durch Verkehr schlängeln, um das Wasser aus der Nähe betrachten zu können. Es war trüb und dunkel, so als litte es ebenfalls. Meine Füße nahmen einen Weg, den ich nie mehr vergessen hatte. Wie ferngesteuert, setzte ich einen Schritt vor den anderen. Die Boote lagen noch wie damals am Hafen, träge und voller Fische und Netze. Die Fischer zwinkerten den Passanten zu, in der Hoffnung, dass ihnen jemand eine Kusshand zuwarf, die Haut wettergegerbt und die Augen müde.

Das Stauferkastell leuchtete noch immer in all seiner Pracht – der einzige Kulturschatz, der noch intakt war. Auch die Altstadtgassen von Bari kamen mir genauso vor wie früher, nur dass die Pflastersteine grauer und die kleinen Häuschen genauso gealtert waren wie ihre Bewohner. Alles kündete von untergegangener Schönheit, alles drohte zu verfallen.

Ein paar alte Männer saßen träge in der Sonne, auf Stühlen mit einer Sitzfläche aus Strohgeflecht. Sie scharten sich um einen Tisch mit einer karierten Tischdecke. Bierflaschen hatten die Weingläser ersetzt, aber sie hielten nach wie vor Spielkarten in der Hand.

»Guten Tag, Signora«, sagten sie höflich, als ich an ihnen vorbeiging. Ich musste lächeln, denn die Blicke, mit denen sie mich vor vielen Jahren bewundert hatten, als ich an ihren Lasterhöhlen vorbeihuschte, waren längst nicht mehr die gleichen. Jetzt stand nur noch ein höflicher Gruß darin, wie ihn so alte Kavaliere eben beherrschen.

Ich spürte, wie sich etwas in meiner Kehle zusammenballte, mir das Schlucken erschwerte, und das Herz schlug genauso rasch wie damals, als ich noch jung war. Während ich auf diese Weise in meine Vergangenheit eintauchte, fühlte die sich unangetastet, unsterblich, ja fast heilig an, so als könnten ihr weder der Staub der Zeit noch Groll etwas anhaben. Das Gefühl, gegen Regeln zu verstoßen, war nach wie vor präsent, aber noch stärker war der mitreißende Taumel des Lebens. Ausgerechnet der Tod der Margiala hatte diese unerwartete Entwicklung ausgelöst und nie gestellte Fragen wieder hervorgeholt, die ich jahrelang verdrängt hatte.

Was sich da in mir zusammenbraute, war der reinste Wahnsinn, dessen war ich mir bewusst. Aber auch darin hatte sich die Margiala nicht getäuscht: »Das muss tiefer liegende Ursachen haben«, hatte sie zu mir gesagt. »Das betrifft nicht nur deine Haare … Da ist etwas, tief in deinem Innern, was nie jemand zähmen wird.«

Ich blieb am Hafen stehen, am selben Strand, an dem ich Jahre zuvor Antonio wiederbegegnet war. Ich schloss die Augen. Meine Erinnerungen hatten mich nicht getrogen, trotzdem gefiel es mir, sie auszuschmücken, bis sie etwas Mythisches, Zeitloses und damit Unvergängliches bekamen. Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Wegen Mamas Tod und wegen dem Tod, der ein Leben lang über mir geschwebt hatte, seit vierzig Jahren. Wessen Leben hatte ich eigentlich gelebt?

Meine Gedanken eilten noch einmal zur Margiala, und ich begriff auf einmal, was sie für mich bedeutet hatte. Die Gefasstheit, mit der sie den Tod meines Vaters aufgenommen hatte, die Strenge, mit der sie uns erzogen hatte, sogar die Entschlossenheit, mit der sie von uns gegangen war. All das hatte jetzt feste Konturen bekommen, wie ein maßgeschneidertes Kleid.

Und ich? Diese Frage stellte sich mir aufs Neue. In wessen Kleidern hatte ich gelebt?

Ich hielt mich an einem Felsvorsprung fest und strich mir über die pochende Schläfe.

Nein. So weit war ich dann doch noch nicht.