Als ich in den Innenhof zurückkehrte, holte Cornelia gerade Wasser von der Zisterne. Laut Papa konnten wir froh sein, uns nicht mit dem Krug in der Hand am öffentlichen Brunnen anstellen zu müssen. Wir besaßen eine eigene Regenwasserzisterne – ein echter Luxus. Man musste jedoch sparsam mit dem Wasser umgehen, vor allem in den Sommermonaten wurde es knapp. Dann mussten auch wir zum Dorfbrunnen gehen. Ich meldete mich stets freiwillig, weil ich gern durch die belebten Gassen streunte und mich freute, andere Frauen zu treffen, die sich mit ihren Krügen an den Straßenecken drängten.
Es war nicht nur eine lästige Pflicht, sondern auch ein kostbarer Moment, bei dem der neueste Klatsch und Tratsch ausgetauscht wurde, und außerdem eine gute Gelegenheit, über den eigenen Ehemann oder die Schwiegermutter herzuziehen. Alles Probleme, die man gut öffentlich machen konnte, weil jede davon betroffen war. Ich lauschte auf die Flüche der flinken Zungen und fragte mich, ob Mama sich wohl zu ähnlichem Geläster hinreißen ließ, wenn sie zum Wasserholen ging.
Die Via Bonifacio, die Straße, die zum Brunnen führte, war lang und schmal und endete bei brachliegenden, gelbverdorrten Feldern. Und genau vor diesen verlassenen Hügeln öffnete sich ein kleiner Platz mit einem Bronzebrunnen in der Mitte. Ich kannte die Leute, die in dieser Straße lebten, ziemlich gut. Hier reihten sich niedrige, weißgekalkte Häuschen aneinander, die meisten hatten Keller, in denen Lebensmittel gelagert wurden oder in denen man in heißen Sommermonaten etwas Abkühlung suchte. Die meisten der hier wohnenden Menschen waren schon älter – auch weil es sich um eines der ältesten Viertel im Ort handelte.
Die alte Frau, die mich am meisten faszinierte, war die »verrückte« Paolina, eine unverbesserliche alte Jungfer, die vorzeitig ergraut war und schon mit vierzig sämtliche Zähne verloren hatte. Deshalb waren ihr Kiefer und das übrige Gesicht seltsam verformt, was sie ziemlich entstellte. Zu ihrem hexenhaften Äußeren gehörte eine flinke Zunge, die verrücktes Zeug von sich gab, begleitet von einem seltsamen Zischen, das ertönte, wenn ihre Zunge an das nackte, glatte Zahnfleisch stieß. Sie wohnte in einer verfallenen Bruchbude, auf die jedoch ihre beiden Neffen ganz wild waren. Diese konnten es kaum erwarten, dass Gott die alte verrückte Tante zu sich holte. Doch entgegen allen Erwartungen und Behauptungen wurde die »verrückte« Paolina immer älter und trotzte Krankheit, Unwetter und Elend. Irgendeine alte Comare behauptete sogar, die Alte nehme keine Nahrung mehr zu sich, sie habe ihre Seele dem Teufel verkauft, weshalb Paolina unsterblich sei. Ein paar Bengel machten sich einen Spaß daraus, sie zu verhöhnen und Steine nach ihr zu werfen, oft auch nur faules Gemüse. Paolina lief dann stundenlang mit welken Salatblättern herum, die ihr wie ein Helm auf dem zerzausten silbergrauen Haar saßen, bis eine fromme Seele sich ihrer erbarmte und sie davon befreite.
Einmal hatte mir die Margiala anvertraut, Paolina habe eine Mutter, die immer noch lebe und das ganze Jahr im Haus bleibe, weil sie die Sonne scheue wie eine Fledermaus. Hin und wieder sehe man ihren Schatten in den niedrigen Küchenfenstern vorbeihuschen.
Deshalb hatte ich eine Riesenangst vor Paolina und ihrer uralten Mutter. Ich hütete mich davor, an ihrem Haus vorbeizugehen. Stattdessen nahm ich die andere Straßenseite, um weder ihrem Blick noch ihrem Gebrabbel ausgesetzt zu sein.
Dann war da noch der alte »Kugelblitz«, der ohne jede Rücksicht auf Passanten vor seiner Tür laut furzte.
Man muss nämlich wissen, dass es in meinem Dorf Brauch war, sobald die Frühlingssonne herauskam, den ganzen Tag draußen vor dem Haus zu verbringen. Das galt vor allem für die Älteren, die sich nicht mehr krummlegen mussten. Die saßen dann auf einem Stuhl mit einer Sitzfläche aus Strohgeflecht, wo sie im Frühling Mandeln oder Lupinen knabberten und im Sommer an einer kühlen Limonade nippten. Die Straße war der reinste Laufsteg, auf dem das ganze Dorf vorbeidefilierte. Dort erfuhr man von Problemen und lüftete Geheimnisse, grüßte alte Freunde und knüpfte neue Bekanntschaften, sodass das gesamte Dorfleben praktisch vor der Haustür stattfand.
»Kugelblitz« war einmal Mechaniker gewesen, bevor ihn die Arthritis zum Aufgeben zwang. Jetzt verbrachte er seine Tage damit, die an ihm vorbeiziehende Welt zu beobachten, die bissigen Bemerkungen seiner Frau über sich ergehen zu lassen, die von früh bis spät fegte, und damit, die Kinder mit seinen lauten Fürzen zu erheitern, die der Alte dadurch ankündigte, dass er den Hintern leicht anhob, so als empfehle er den Umstehenden, sich schon mal zu wappnen. Immer wenn er wieder einen ließ, drohte ihm seine Frau wütend mit dem Reisigbesen. Doch er lachte nur laut und freute sich, sie wieder einmal geärgert zu haben.
»Pass auf, dass du das Wasser nicht verschüttest«, ermahnte mich Mama, als sie aus dem Schlafzimmer kam.
Man sah ihr an, dass sie sich noch nicht wieder erholt hatte. Sie war blass und ihr Gesicht von blauen Äderchen durchzogen, die aussahen, als könnten sie jeden Moment platzen.
Cornelia hatte den Eimer sorgfältig auf die geflieste Terrasse zurückgestellt, um die Zisterne mit ihrer hölzernen Abdeckung zu verschließen.
»Man sollte ein Schloss anbringen«, sagte die Margiala zu Papa, »sonst fällt der Kleine eines Tages noch hinein.«
»Der Kleine?« Er biss in ein weiteres Plätzchen. »Du kannst ruhig ›die Kleine‹ sagen, denn ich bin mir sicher, dass es wieder ein Mädchen wird.«
Sie funkelte ihn böse an, weil er es wagte, ihr auf einem Gebiet zu widersprechen, auf dem sie sich für die absolute Expertin hielt. Wie viele Frauen in anderen Umständen hatten sie schon gebeten, ihnen das Geschlecht des Ungeborenen vorherzusagen? Und nicht ein einziges Mal hatte sie sich getäuscht! Sie musste nur die Form des Bauches und die Gesichtsfarbe der Schwangeren betrachten, um eine Prognose abgeben zu können. Und sie wusste genau, dass es ein Junge werden würde, auch wenn ihr Mann das anders sah.
Der beschränkte sich darauf, genüsslich auf seinem Plätzchen zu kauen und verzückt aufzustöhnen. Dann wischte er sich mit dem Hemdärmel über den Mund. Mama sah ihn vorwurfsvoll an – sie hasste es, wenn er sich so ungehobelt benahm.
»Morgen möchte ich zusammen mit der Marmortafel auch das hier anbringen«, fuhr er fort, ohne auf die Sache mit dem Ungeborenen zurückzukommen. Begeistert hielt er das fröhliche, rotviolette Gesicht eines Windgotts hoch, der gleich lospusten würde. In die Tafel hatte Papa die Jahreszahl 1918 eingraviert, für den Beginn des Hausbaus, sowie die Zahl 1938 für die Fertigstellung. Daneben wollte er noch das Terrakottarelief des pausbäckigen Gottes befestigen.
»Wer ist denn das? Ein Engel?«, fragte Cornelia. Papa zuckte nur mit den Schultern, im Grunde war es ihm egal, wer das war.
»Den hab ich in Cerignola gesehen, als ich eure Mutter abgeholt habe. Er hat die schönste Villa im Dorf geschmückt. Damals hab ich mir geschworen, dass mein Haus auch so einen bekommen soll!« Er hielt das Relief hoch wie eine Trophäe.
Die Margiala verdrehte nur die Augen, denn manchmal benahm sich ihr Mann wirklich wie ein kleines, stures Kind. Sie breitete ergeben die Arme aus und ließ das Thema auf sich beruhen. Sie wusste, dass ihn ohnehin nichts mehr davon abbringen würde.
»Man merkt, dass du von Bauern abstammst!«, schnaufte sie verächtlich.
»Und darauf bin ich stolz!« Er erhob sich abrupt, als hätte er auf einmal etwas Dringendes zu erledigen.
So war er, unser Papa – ein flüchtiger Gast, der nur kurz auftauchte, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Trotzdem war er für mich so etwas wie ein Anker. Ich wusste, dass es ihn gab, und das genügte mir – ganz unabhängig davon, wie viel Zeit er tatsächlich mit mir unter einem Dach verbrachte.
»Los, Mädchen, geht zurück in die Küche, wir haben bis morgen noch einiges zu tun!«, mahnte die Margiala und schnalzte mit den Fingern, um uns zur Ordnung zu rufen. Ich folgte Cornelia, die ihrerseits Rosetta hinterhereilte. Bevor ich in der dunklen Küche verschwand, warf ich noch einen Blick auf meinen Bruder, der sich nach wie vor in der Sonne rekelte, direkt neben dem großen Oleander.
Ich beneidete und hasste ihn ein letztes Mal inbrünstig, bevor ich mich wieder den weiblichen Pflichten zuwandte.