6

Das Herz wurde mir unerträglich schwer, und auch noch so viele Tränen konnten den Schmerz nicht lindern. Ich spürte einen enormen Verlust, der mich schier zerriss – aber anders als damals bei Pietros und Papas Tod wusste ich, dass Rosetta noch lebte und dass es nur an der Niedertracht der Männer lag, dass sie mir weggenommen worden war.

In diesem Moment spürte ich, dass ich alle Männer hasste. Mir war auch plötzlich kalt, so kalt, dass ich Cornelia stehenließ, um der Kutsche hinterherzurennen. Ich schluckte Staub, das Kind noch im Arm, aber meine Verfolgungsjagd dauerte nicht lange, da die Kutsche viel zu schnell für mich war.

»Rosetta!«, schrie ich, während ihre dunklen Umrisse in den engen Gassen verschwanden. Tränen hinterließen weiße Spuren auf meiner olivfarbenen Haut, und Francesco fuhr mit seinen kleinen Fingern darüber, als wollte er mich trösten.

Die Nachbarinnen scharten sich um Cornelia und mich.

»Arme Mädchen!«, hätten sie bestimmt am liebsten gesagt. »Erst der Vater und dann noch die Schwester …«

»Wir müssen der Margiala Bescheid geben«, rief Comare Nenna. Ich brachte den Kleinen zurück ins Haus – nicht zuletzt, weil er inzwischen wirklich unruhig war vor lauter Hunger. Ich kochte ein wenig Brot in Wasser. Das aß er löffelweise und sah sich dabei suchend nach vertrauten Dingen und Gesichtern um. Normalerweise war Rosetta diejenige, die sich um seine Ernährung kümmerte – offen gestanden noch mehr als Mama.

Er aß nur widerwillig. Vielleicht traute er dem Essen nicht recht, mit dem ich ihn fütterte.

»Was zum Teufel?« Die Margiala war zurück, und sie war außer sich vor Wut.

»Dieser widerliche Mistkerl! Das hätte ich mir denken können.« Sie löste ihren Haarknoten. Ihre Züge waren angespannt und erschöpft.

»Mama, was wird jetzt aus Rosetta?« Cornelias Blick war nach wie vor tränenerfüllt.

»Was soll schon aus ihr werden? Das, was aus vielen Frauen wird – erst recht, wenn sie so schön sind wie eure Schwester. Sie wird heiraten müssen.«

Was war denn das für ein Teufelswerk? Ich fand es ungerecht und grausam, dass Rosetta gezwungen wurde, den Gauner zu heiraten, der sie gewaltsam entführt hatte.

»Wo sie sie wohl hinbringen?«, fuhr Mama fort und durchmaß mit energischen Schritten den Flur. Ihr Gesicht war zornesrot. »Sobald die Nacht um ist, ist das Schicksal eurer Schwester Rosetta besiegelt. Dann kann ich nichts mehr für sie tun, obwohl ich ihre Mutter bin. Dann hat Domenico Occhi bianchi, dieser lächerliche Schmied, das Recht, über Rosettas weiteres Leben zu bestimmen. Damit ihre Ehre nicht befleckt ist, muss sie ihn heiraten.«

Ich weiß nicht, ob dieser Vortrag unserer Mutter für unsere Ohren bestimmt war oder vielmehr ein Selbstgespräch, in dem sie sich selbst noch einmal von dieser Tatsache überzeugen musste. Dass dies nun mal der Lauf der Dinge war, zumindest für uns Frauen.

An diesem Abend zog sich die Margiala schon früh in ihr Zimmer zurück. Das Essen, das Cornelia und ich gekocht hatten, rührte sie kaum an. Inzwischen waren, so wie es bei uns Brauch ist, schon viele Comari bei ihr gewesen, die alle ganz genau wissen wollten, was mit der armen ältesten Tochter der Margiala passiert war.

Die Stimmen drangen nur schwach zu uns herüber, denn im Hof tobte ein Sturm. Dafür konnten wir ein paar Worte von dem, was unsere Mutter sagte, verstehen. Keine Spur von Bedauern oder von Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit. Sie klang entsetzlich kalt.

»Im Grunde hat sie es gar nicht so schlecht getroffen: Ein Schmied verdient gut, sie wird keine Geldsorgen haben«, kam es von Comare Nenna.

Cornelia und ich sahen uns an, wortlos sahen wir uns tief in die Augen. Würde es uns eines Tages genauso ergehen? Bestimmt fragte sie sich das auch.

Zumindest ich hätte diese Frage gern gestellt, ließ es aber bleiben – aus Angst, Cornelia wäre auch diese Wahrheit längst enthüllt worden, so wie die Sache mit der »Regel«, wie sie sie nannte, mit der monatlichen Blutung.

Ich wollte nicht, dass mich eines Tages irgendein grobschlächtiger Fremder entführte, um mich dann zum Altar zu führen. Ich wollte überhaupt nicht heiraten, sondern frei sein.

Noch eine ganze Weile drückte ich mich vor dem großen Schlafzimmer herum. Ich lehnte mich an die Wand und sank in mich zusammen wie ein Häuflein Elend. Ich war mir sicher, dass die Margiala mich sehen konnte, die vor der Kommode saß und sich traurig im Spiegel betrachtete.

Doch sie verlor kein einziges Wort und ich auch nicht.

In gewisser Weise kam ich mir wie ein Eindringling vor, als ich so in ihre Privatsphäre vordrang. Aber sie verstand mein Bedürfnis, einfach nur dort zu verharren und sie zu beobachten, ihren Schmerz zu erkunden.

Ich wiederum verstand ihr Schweigen, ihren Wunsch, alles für sich zu behalten.

Zu sehen, wie sehr die Margiala wegen Rosetta, wegen Rosettas Schicksal litt, hatte auch etwas Positives: Der Schmerz ließ sie gleich viel menschlicher und liebenswerter wirken. Auch diesmal hätte ich zu ihr gehen und mich in ihre Arme werfen können. Aber so zeigte man seine Gefühle nicht – zumindest nicht in unserer Familie, zumindest nicht damals. Man behielt sie für sich, schluckte sie hinunter wie das bittere Brot der Einsamkeit, der Trauer.

Ein einziges Mal drehte sich die Margiala zu mir um und fiel dann in sich zusammen, als entwiche sämtliche Luft aus ihr. Ihre Augen glänzten, obwohl keine Träne darin stand. Dieser Blick war mehr wert als jede Umarmung, das wusste ich.

Giuseppe dagegen nahm die Sache wie immer gefasst auf. Als Mama ihm erklärte, welches Schicksal Rosetta bevorstand, blieb er nur kurz stehen, um sie ungläubig anzusehen. Er stand neben dem Tisch, der fürs Abendessen gedeckt war. Sein Blick wanderte von den leeren und traurigen Augen der Margiala zu Cornelia und mir herüber. Dann nahm er sich ein Stück Brot und steckte es gierig in den Mund. »Im Grunde ist er ein guter Mann, es wird ihr nicht schlecht gehen«, sagte er nur, und damit war die Sache für ihn erledigt.