Am nächsten Morgen wachte ich schon in aller Frühe auf. Es war der Tag des Fests. Wir hatten den ganzen Vortag geschuftet, und alles, was wir zubereitet hatten, würde in weniger als einer Stunde verschlungen sein. Wie viel verschwendete Liebesmüh! Beim Anblick von Tommaso – oder sollte ich sie lieber Tommasa nennen? – hatte ich wieder an Pietro denken müssen. Das hatte den unbezähmbaren Drang in mir geweckt, ans Meer zu gehen, an den Ort zurückzukehren, an dem ich erstmals diese schreckliche, unerwartete Begegnung mit dem Tod gehabt hatte. Das quälende Gefühl, sterblich zu sein, das mich seitdem erfasst hatte, ließ sich einfach nicht mehr abschütteln und kam in dunklen Momenten immer wieder hoch.
Ich schlüpfte barfuß aus dem Zimmer, damit Rosetta nichts merkte. Ich wollte die Abkürzung nehmen und dem Graben bis zu den Meeresklippen folgen. Aber nur ganz kurz, anschließend würde ich nach Hause zurückkehren und mich in die letzten Vorbereitungen stürzen. Ich trat in den Hof, um die frische Morgenluft zu genießen, ließ die Füße tief in die Erde einsinken und ging zum Oleander. Um diese Uhrzeit herrschte eine unglaubliche Stille. Der Himmel war fahl und schimmerte grünlich, ein paar weiße Wattewölkchen standen tief am Horizont. Der feucht-süßliche Duft der Nacht war noch zu riechen.
»Kannst du nicht mehr schlafen?«
Mamas Stimme ließ mich zusammenzucken. Sofort fühlte ich mich wie eine Maus in der Falle, schuldig an etwas, was ich noch gar nicht begangen hatte. Ich wirbelte herum und hielt die Luft an.
»Was ist denn? Hast du ein Gespenst gesehen?«
Ich schüttelte heftig den Kopf, doch sehr überzeugend war das nicht. Die Margiala streifte ihre Holzpantinen ab und kam zu mir zum Oleander.
»So früh am Morgen sieht alles viel schöner aus, nicht wahr? Kein störender Lärm, keine Sorgen, und man ist noch angenehm verschlafen.«
Während sie das sagte, kamen mir ihre Züge viel weicher vor. Erst da merkte ich, dass sie das Haar noch nicht zu ihrem üblichen strengen Dutt gebunden hatte, sondern dass es ihr weich und sinnlich auf die halbnackten Schultern fiel.
Meine Güte, war Mama schön! Ich biss mir auf die Unterlippe, war wie geblendet von so viel Perfektion, die mich ganz verlegen machte. Im Vergleich zu ihr kam ich mir ganz klein und unbedeutend vor, wie eine kleine Kröte mit quakender Stimme. Ich sah ihr kein bisschen ähnlich, und das machte mich wahnsinnig. Ich hatte weder ihr ovales Gesicht noch ihre feinen Züge geerbt, schon gar nicht ihre durchscheinende Haut. Dicklich und ungelenk – das waren die Adjektive, die mich am besten beschrieben.
Ich schaffte es, meine Atmung wieder zu beruhigen, als mir klar wurde, dass die Margiala ja keine Gedanken lesen konnte, also nicht wusste, warum ich tatsächlich schon im Morgengrauen aufgestanden war. Ich hätte mir denken können, dass Mama wegen ihres dicken Bauches, der damit einhergehenden Übelkeit und schlechten Laune schon sehr früh das Bett verließ.
»Ja, es sieht schön aus«, erwiderte ich und versuchte, meine Nervosität zu verbergen. »Heute habe ich Tommaso wiedergesehen. Und entdeckt, dass er eine sie ist. Sie erwartet Junge.«
»Natürlich ist das ein Weibchen!«, erwiderte die Margiala, als wäre das offensichtlich. »Und das hast du erst jetzt bemerkt?« Sie lächelte, und dann begann sie, zärtlich über die Blätter des Oleanders zu streichen.
»Bald werden hier lauter schöne rosa Blüten sprießen«, sagte sie zerstreut, als ginge ihr alles Mögliche durch den Kopf.
»Warum hast du sie dann weiterhin Tommaso gerufen? Mit einem Jungennamen?«
Sie drehte sich zu mir um und sah mich zärtlich an, fast liebevoll. Ihre hellen Augen leuchteten wie Glühwürmchen, winzige Lichtpunkte in der Dämmerung.
»Weil das ihre wahre Natur ist. Ihr Freiheitsdrang ist viel zu groß für einen Mädchennamen.« Mir gefiel die Vorstellung, dass diese Worte vielleicht auch für mich galten und nicht nur für unsere Katze.
Die Margiala kam näher, so nah, dass ich den Lavendelduft ihrer Haut riechen konnte. Ihre Kommodenschubladen waren voller Lavendelsträußchen, die die Wäsche mit ihrem wunderbaren Duft imprägnierten.
Kurz glaubte ich, dass sie mich berühren, vielleicht sogar streicheln würde. Das hätte ich dann mit geschlossenen Augen so richtig ausgekostet und sämtliche Sorgen und Zweifel, ja jeden Groll vergessen. Ich hätte zugelassen, dass ihre rauen Hände meine Kinderhaut liebkosten und mir so zu verstehen gaben, dass sie mich auf ihre Art sehr wohl liebte – so wie es der Margiala eben möglich war, bei der man immer nur ganz am Rande ihrer Gedanken vorkam.
Mit flatternden Lidern bereitete ich mich innerlich auf diese sanfte Berührung vor. Ich hätte mich ja auch selbst in die Arme meiner Mutter schmiegen können, wie man das so macht als Tochter, ohne dass man es groß erklären müsste: eine beidseitige Liebeserklärung, nichts als aufrichtige, tröstliche Liebe. Doch selbst wenn ich das gemacht hätte, hätte die Margiala bestimmt nicht gewusst, wie sie darauf reagieren sollte, und die Geste nicht erwidert. Vermutlich hätte sie dann zerstreut so getan, als wenn nichts wäre, eine Miene aufgesetzt oder Worte gesagt, die mir bloß dumm vorgekommen wären.
Als ich die Augen wieder aufmachte, lief Mama barfuß zur Hecke mit den Kräutern und saugte den Duft von Rosmarin und Minze in sich auf.
»Das hilft mir gegen die Übelkeit.« Sie führte die Minze an die Nase.
Damit war der Moment unwiederbringlich vorbei. Ich sah sie bedauernd an, einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Doch ich blieb stumm. Nie hätte ich es gewagt, die Margiala nach ihren wahren Gefühlen zu fragen. Warum sie immer so wirkte, als sei sie eine harte Nuss und wollte ihre Schale nicht öffnen. Wann und warum sie bloß so abweisend geworden war.
Ich ging zu ihr und beugte mich vor, um am Rosmarin zu schnuppern – so angestrengt, dass mir die Kehle brannte.
»Gehen wir, Diamante! Heute ist ein besonderer Tag.«