Der Blick auf den Hafen war mir noch nie so schön vorgekommen wie vom Fenster seines Hauses aus. Es war winzig, und von den Mauern blätterte der Putz, ein paar Topfpflanzen sorgten dafür, dass es nicht ganz so kahl wirkte.
Ein Fenster ging aufs Meer hinaus, und von hier aus konnte man das Stauferkastell und die herrliche Landschaft hinter dem majestätischen Bauwerk bewundern. Sogar das Schaukeln der Boote war klar zu erkennen.
Kein Wölkchen stand am Himmel, der traumhafte Sonnenauf- und Sonnenuntergänge verhieß und außerdem ein ganz anderes Leben, das zwar theoretisch möglich war, aber mit meiner Welt so gar nichts zu tun hatte.
Antonio starrte wie immer auf einen fernen Punkt am Horizont – vielleicht sein heimlicher Fluchtpunkt, an dem er Ruhe fand.
Die zwei Zimmer, aus denen sein Haus bestand, wurden eindeutig von einem Junggesellen bewohnt: wenig Nippes, ein paar schwere Möbel und ein paar Teller und Gläser in der Anrichte. Ich riss mich von der schönen Aussicht los, um mich kurz in dem Raum umzusehen, der wohl als Küche diente, aber mit etwas Fantasie genauso gut Wohnzimmer, Flur oder sonst was hätte sein können.
Mir gefiel, dass man ihn nutzen konnte, wie man es gerade brauchte, ohne feste Vorgabe. Eine unglaubliche Form von Freiheit, undenkbar für jemanden, der in einem Haus wie meinem aufgewachsen war, wo es selbst für die Reihenfolge, in der Teller in die Spüle gestellt wurden, genaue Vorschriften gab.
Er trug sportliche Kleidung, eine ziemlich weite, bis zu den Knien hochgekrempelte Hose und ein Matrosenhemd mit hochgeschlagenem Kragen. Sein Blick fesselte mich so, dass es kein Entkommen gab. Ich hätte Stunden damit verbringen können, seine Geheimnisse zu ergründen.
»Hast du schon mal etwas Schöneres gesehen?«
Ich war angenehm überrascht, dass er dazu übergegangen war, mich zu duzen.
»Ich glaube nicht.« Ich drehte mich zum Fenster, meinte aber nicht nur das Panorama, was er natürlich nicht wissen konnte. Oder aber er wusste längst, wonach ich mich sehnte – trotz der Anstandsregeln, die mir die Margiala jahrelang eingebläut hatte.
Die Margiala!
Allein der Gedanke an sie drückte auf meine Stimmung. Sie war mir stets präsent, selbst wenn sie gar nicht da war.
Er lachte schelmisch und legte eine Hand auf die Fensterbank, ganz nah neben meine. Ich hätte sie nur um ein paar Millimeter verrücken müssen, um seine Wärme spüren zu können.
Kurz überlegte ich zu gehen, und zwar sofort, bevor noch mehr passieren konnte. Denn das war ein gefährliches Spiel. Es war gefährlich, dass ich mit einem Fremden mitgegangen war, dass ich mich von zuhause fortgeschlichen hatte. Aber am gefährlichsten waren die immer heftiger werdenden Gefühle in mir, die Erwartung, seine Augen, seine Hände, seine Lippen.
Seine Hände blieben brav auf der Fensterbank liegen. Es waren raue Hände – längst nicht so feminin wie die von Lorenzo. Doch ich fand sogar noch die roten Farbreste unter seinen Fingernägeln unwiderstehlich – ein Detail, das ich bei unserer ersten Begegnung übersehen hatte und das mich vermuten ließ, dass er Fischer oder Seemann war.
Seine Haut war seit dem letzten Mal noch dunkler, noch sonnenverbrannter geworden. Wie viele Stunden er wohl das Salz auf seiner Haut spürte, während ich mich über den Webstuhl beugte, um warme Kindersachen anzufertigen, in Gedanken bereits beim Winter, obwohl das Leben draußen seine verlockenden Düfte verströmte.
Auf einmal fand ich meinen Alltag langweilig und grau. Im Vergleich dazu war dieses heruntergekommene Haus von leuchtenden Farben und pulsierendem Leben erfüllt.
Er schien Gedanken lesen zu können: »Ich will nicht, dass du gehst«, sagte er. Ich sah ihm tief in die Augen, während sich mir die Kehle zusammenschnürte. Ich war unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen.
Ich schüttelte den Kopf, was vieles bedeuten konnte.
Nein, ich würde nicht gehen.
Nein, ich musste unbedingt gehen, sonst würde ich noch etwas tun, was ich anschließend bereute.
Dann geschah das Unvermeidliche. Die sehnsüchtigen Blicke schlugen Funken, und unsere Münder fanden sich. Erst berührten sie sich nur flüchtig, um sich gegenseitig zu erkunden, voneinander zu kosten. Dann fanden sie sich erneut, schon deutlich begieriger. Ich hatte noch nie einen fremden Mund auf meinem, noch nie solch feuchte, pralle Lippen gespürt. Unsere Hände lösten sich von der Fensterbank und begannen, den Körper des anderen zu ertasten, ihn fest an sich zu ziehen.
Was tat ich da eigentlich? Die schreckliche Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Stromschlag. Ich löste die Hände von seinem Rücken und griff mit zitternden Händen nach meiner Handtasche auf dem Tisch. Dann bestaunte ich ihn ein letztes Mal. Erwartung stand ihm ins Gesicht geschrieben, aber auch Bedauern, weil ich mich ihm entwunden hatte.
»Ich muss gehen«, flüsterte ich, hochrot vor Erregung.
Er versuchte, mich aufzuhalten, und griff nach meiner Hand. Doch ich nahm die gepflasterte Straße durch die Altstadt, wobei ich meine Handtasche umklammerte wie einen Rettungsanker. Mit Tränen in den Augen, weil das, was ich empfunden hatte, wunderschön gewesen war, mir aber gleichzeitig Angst machte. Ich ging an den lärmenden Grüppchen von Männern vorbei, die Karten spielten. Sie gingen so darin auf wie Kinder und gerieten sich wegen eines verpatzten Stichs oder einer verlorenen Partie in die Haare. Während ich durch das Gassengewirr der Altstadt von Bari lief und mit raschen Schritten am Stauferkastell vorbeihastete, die salzige Meeresluft im Gesicht, wurde mir klar, wie sehr ich doch von Regeln beherrscht wurde, auch wenn ich schon ein Leben lang versuchte, mich ihnen zu entziehen. Das mit der Moral war nicht nur etwas für Priester oder Nonnen, sondern auch mir in Fleisch und Blut übergegangen. Es war nicht leicht, die Selbstachtung zu wahren, wenn man gegen alles verstieß, was als anständig galt. Ich hatte mich dazu hinreißen lassen, mit einem Wildfremden nach Hause zu gehen. Ich hatte mich von ihm umgarnen, mich von seinem hungrigen Mund erkunden lassen.
Ich rang nach Luft und blieb auf der Höhe des Hafens stehen, um kurz zu verschnaufen, mir vom Wind die Tränen trocknen zu lassen. Ich fing sie mit der Zunge auf wie als kleines Mädchen, wenn ich heimlich weinte, nachdem die Margiala mich bestraft hatte. Ich atmete tief durch und ging dann zur Straßenbahn, wobei ich mir mehrmals übers Haar fuhr und mich räusperte – nach wie vor hochrot im Gesicht und mit zitternden Händen.