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Die Verlobungszeit betrug ein Jahr. Es gab nur wenige Besuche pro Woche, und zwar ausschließlich im Haus der Margiala, und ein paar einzelne Verabredungen fürs Kino oder um über die Piazza Umberto zu flanieren – vorausgesetzt, Giuseppe war dabei.

Das waren die Bedingungen, die Mama Loiacono Senior gestellt hatte. Geheiratet würde, sobald Lorenzo sein Studium beendet hätte. Dann würde Cornelia nach Bari ziehen, zu den Loiaconos, deren Haus groß genug für zwei Familien war. Außerdem war der Anwalt Witwer, und »eine so kostbare junge Frau im Haus zu haben ist der reinste Segen«, wie er sich ausdrückte – was die Margiala eins zu eins wiederholte.

So lief das also? Es genügten ein kurzer Besuch an einem drückend heißen Tag, ein Schluck Likör, ein kurzer Spaziergang durch den Garten, um den Oleander und die Kräuter zu bestaunen, ein paar Worte unter Erwachsenen und ein Handschlag, um das Schicksal eines Kindes zu besiegeln?

Mir kam das alles unglaublich simpel vor, fast schon absurd banal. In einigen Jahren würde also ein anderer junger Mann seine Aufwartung bei uns machen, ein Loblied auf mich singen und im Gegenzug die Macht über mein Leben verlangen? Oder würde ich etwa so enden wie Rosetta, die von einer Kutsche entführt und dadurch gezwungen worden war, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte? Mir behagte weder das eine noch das andere. Und da ich noch nicht wusste, was Liebe ist, war ich fest davon überzeugt, sie vorher lieber ausprobieren zu wollen, um zu sehen, welche Gefühle damit verbunden sind, und diese genauer unter die Lupe zu nehmen. Erst dann wollte ich heiraten.

Offen gestanden, war ich mir nicht mal sicher, ob ich die Liebe überhaupt finden wollte. Stattdessen hielt ich mich für vollkommen immun gegen die heimtückischen Gefühle, die unter diese Bezeichnung fielen. Auch wenn ich mir Sonnenuntergänge am Meer, Wellenrauschen, in den Wind geflüsterte Worte und ewige Liebesschwüre ausmalte, hatte ich gleichzeitig das Gefühl, so kühl und hart wie die Margiala zu sein – unfähig, so etwas wie echte, wahre Liebe überhaupt zu empfinden.

Mein Leben würde anders verlaufen, das schwor ich mir an dem Tag, an dem sich Cornelia mit dem schönen Anwalt verlobte.

Was mich an Cornelias Heiratsplänen am meisten ärgerte, war wieder einmal die Reaktion der Margiala – wie hätte es auch anders sein sollen! War es ihr denn völlig gleichgültig, dass sie noch eine Tochter verlieren würde? Das sagt sich so leicht, dass man sich sonntags besucht und dann gemeinsam zu Mittag isst, doch die Wahrheit sah anders aus: Cornelia würde fortgehen und mit der Zeit immer seltener zurückkehren, mit den Gedanken ganz woanders sein. So lange, bis ihre kleine Schwester für sie nur noch ein Wildfang aus Kindertagen sein würde, von dem man an Feiertagen erzählt, um alle zum Lachen zu bringen. Wenn sie erst mal fort wäre, würde mein Leben ganz anders aussehen. Dann würden die Margiala und ich alleine zurückbleiben, was große Ängste bei mir auslöste. Mama dagegen gab sich erschreckend gleichgültig. Ihre Kälte war wie ein dichter Rauch, der das ganze Haus vernebelt. Er drang durch sämtliche Ritzen und begleitete alles, was sie tat. Die Unbekümmertheit, mit der sie weiterhin Vanillecreme für die tortelli di San Giuseppe kochte, mit der sie Kalbsrouladen für den Sugo füllte oder mit der sie Cornelias Aussteuer fertigstellte! Nicht ein einziges Mal fragte sie, wie es mir damit ging, ob mich die Vorstellung, meine Schwester zu verlieren, bedrücke.

Manchmal beobachtete ich sie aus der Ferne, durchbohrte sie schier mit meinen Blicken. Fast taten mir die Augen weh vom vielen Starren. Doch ich sah nichts, keine noch so winzige Spur von Bedauern. Cornelias bevorstehende Hochzeit schien sie in keiner Weise zu berühren. Meine Wut auf die Margiala dürfte genau in dieser Zeit zurückgekehrt sein, als hätte sie nur auf die Gelegenheit gewartet.

Ich erklärte ihr also erneut den Krieg und machte mir meinen jungen Körper gewitzt zunutze, während ihrer unweigerlich alterte.

Ich missachtete ihre Anweisungen ganz bewusst. Wenn sie wollte, dass ich die Teller ordentlich im Spülbecken stapelte, stellte ich sie kreuz und quer hinein. Wenn sie wollte, dass ich die Hemden an den Ärmeln aufhängte, hängte ich sie am Kragen auf. Die Abdeckung für die Zisterne musste stets mit dem Schloss gesichert werden, doch ich ließ den Schacht offen. Ich räumte die Töpfe um und ließ die Vanillecreme auf dem Herd stehen, obwohl sie gerade angefangen hatte zu blubbern, bis die heiße, klebrige Flüssigkeit gelbschäumend überkochte. Ich verstieß gegen jede einzelne ihrer Regeln, ihrer Anweisungen, mit der Absicht, sie so für ihre Gleichgültigkeit zu bestrafen.

Und jedes Mal reagierte die Margiala, die es nie leid wurde, sich reden zu hören, mit derselben Härte, mit derselben ziellosen Wut.

»Das ist mal wieder typisch für dich, Diamante! Du bist zwar älter, aber keinen Deut weiser geworden.« Doch man hörte, dass ihre Stimme zitterte, und in gewisser Weise merkte auch sie, dass sie keinerlei Macht mehr über mich hatte, dass all ihre Empörung mich nicht aufhalten würde.

Meine beiden Brüder schienen sie um den Schlaf zu bringen, aber meine Attacken schienen sie nicht groß zu beeindrucken.

Giuseppe war kaum mehr als ein Schatten, der nur dann kurz auftauchte, wenn es etwas zu essen gab. Mama warf ihm vor, sein Geld im Bordell zu verprassen. Inzwischen war ich alt genug, dieses Wort hören zu dürfen, auch wenn ich noch keine Vorstellung von den Frauen dort hatte.

Francesco wiederum brachte alle um den Schlaf, da er sich langsam zu einem echten Kriminellen entwickelte. Das Stehlen war zu einer festen Angewohnheit bei ihm geworden, zu einem Zeitvertreib. Beim letzten Mal war er mit einer großen Schnittwunde am Kopf zurückgekehrt, bei deren Anblick Mama beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Die stammte von einem Schlag mit der Schaufel, den ihm ein Landbesitzer zwischen Carbonara und Ceglie verpasst hatte. Dort lag ein schönes Feld mit Oliven- und Feigenbäumen. Vor allem die Feigen wurden zur Erntezeit groß wie Äpfel. Das Stück Land war von Steinmauern umgeben, doch mein Bruder hatte immer noch nicht verstanden, was mit Eigentum gemeint war.

Eines schönen Morgens beschloss er, dass diese Feigen ihm gehören sollten – ungeachtet der Konsequenzen. Er kletterte auf den größten und knorrigsten Baum, um eine von Mamas Schürzen zu füllen. Für den Landbesitzer war es ein Leichtes, ihn auf frischer Tat zu ertappen. Und der war kein zahnloser Alter mit arthritischen Beinen, der es niemals geschafft hätte, die Verfolgung aufzunehmen, sondern ein kräftiger junger Mann mit breiten, starken Schultern. Meinen Bruder in flagranti zu ertappen war genauso einfach, wie einen Käfer zu zertreten, das reinste Kinderspiel. Dieser Bauer wusste genau, was Hausfriedensbruch bedeutet, und zögerte nicht, seine schwere Schaufel auf Francescos Lockenkopf niedersausen zu lassen.

»Eines Tages werden sie dich noch umbringen«, sagte die Margiala mit Tränen in den Augen. »Aber bevor es so weit ist, befördere ich dich eigenhändig ins Jenseits.«

Während sie das sagte, goss sie ihm Essig über den Kopf; sie fühlte sich machtlos gegen das viele Blut, das von meinem Bruder auf den grauen Boden tropfte. Mama rief die Madonna und sämtliche Heilige an und bat sie, ihren missratenen Sohn zu retten. Aber Francesco schien seine Lektion nie zu lernen, und jede Abreibung stachelte seinen Leichtsinn nur noch mehr an.

Die Margiala dagegen kam mir müde vor, sie wirkte immer mitgenommener und hagerer hinter ihrem schwarzen Panzer.

Wieder wurde es Sommer, und Anfang Juli sollte meine Schwester heiraten. Ihre Aussteuer war fertig, ein Jahr hatte sie daran gearbeitet, Laken mit Muschelsaum versehen und Handtücher mit ihrem sowie mit dem Namen ihres Mannes bestickt. Sie hatte etwas von einer Nonne, wie sie mit der Sorgfalt einer Miniaturmalerin über ihrer Aussteuer saß, eifrig und klaglos stundenlang über Nadel und Stramin gebeugt.

In diesen Monaten wurde mir klar, dass ich gar nichts verstanden hatte, wenn ich Cornelia immer als Schwächste von uns dreien betrachtet hatte. Hinter ihrem Schweigen und ihrer scheinbaren Zerbrechlichkeit verbarg sich eine ungeheure Kraft. Vielleicht war das auch der Grund, warum die Margiala sie immer am schlechtesten behandelt hatte – um diese Kraft zu stählen. Sie würde es im Leben am besten haben, während wir anderen viel Zeit mit Umwegen verschwenden sollten. Die Vorstellung, dass Cornelia ausziehen würde, machte mich ganz nervös und raubte mir den Schlaf.

An einem dieser Abende, an denen ich durch den Garten streifte, um dem ununterbrochenen Gesang der Grillen und Zikaden zu lauschen, sah ich die Kerze in Mamas Schlafzimmer brennen. Die Fensterläden waren nur angelehnt, und mit etwas Glück würde ich ihre Umrisse erkennen können.

Genauso besessen von verbotenen Dingen wie als Kind, stellte ich mich ans Fenster, um sie in einem Moment der Schwäche zu ertappen – und das, obwohl ich ganz genau wusste, dass ich ihr so nachspionierte, in ihre Privatsphäre eindrang, in die schützende Festung, die sie vor allen verbergen wollte.

»Du bist ein böses Mädchen«, flüsterte ich vor mich hin, als wäre ich noch klein. Doch zu wissen, dass ich etwas Verbotenes tat, hinderte mich nicht daran, es zu tun.

Ihr sonst so straff zurückgekämmtes Haar, das ihr die Kopfhaut zu zerreißen schien, war einer wirren Mähne gewichen, die inzwischen silbergrau und nur vereinzelt mit schwarzen Strähnen durchsetzt war. Die Augen glänzten im Schein der Kerze, aber sie wirkten müde und unendlich traurig. Die Margiala war nackt und betrachtete sich im Spiegel.

Die Arme hingen schlaff herab und ließen ihre nach wie vor runden, festen Brüste erkennen, die sich normalerweise unter Kitteln und Schürzen hoben und senkten. Der einst so straffe Bauch war ausgeleiert und bildete Wülste bis zum Schambein, auch ihr Hinten war flach und schlaff. Nur den Beinen war anzusehen, dass sie einer hart arbeitenden Frau gehörten: Sie waren schlank und muskulös, und die Knie standen knochig hervor.

Während ich sie so in ihrer Nacktheit betrachtete, verschlug es mir fast den Atem. Ich verglich ihre schmale Hüfte mit meinen Rundungen, ihren vom Leben und von der Zeit gezeichneten Bauch mit meinem, der erst noch Kinder hervorbringen musste.

Hatte sie das Gefühl, dass ihr die Zeit durch die Finger rann? Ihre einstige Jugend war nur noch vereinzelt zu erkennen, und eine lange Witwenschaft hatte sie vorzeitig alt und einsam gemacht.

Wann war die Margiala jung gewesen? Wann war sie glücklich gewesen?

Ich wusste, dass sie mir am nächsten Tag streng und barsch wie immer gegenübertreten würde, erneut umhüllt von ihrem abweisenden Panzer. Aber in diesem Moment kam sie mir unglaublich verletzlich und einsam vor.

Hätte sie sich doch bloß anfassen lassen! Hätte sie sich doch nur in die Arme einer ihrer Töchter geworfen, um ihr Schicksal zu beweinen! Ich selbst würde diesen Schritt niemals tun: Niemals würde ich mich ihr zu Füßen werfen, um ihre Einsamkeit zu teilen. Ich würde weiterleben, als ob ich nichts gesehen hätte, als wüsste ich nicht, dass auch die Margiala hinter dieser kalten, harten Fassade eine Frau war.