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Am nächsten Morgen ging ich auf den Markt, mit einem ganz neuen Leuchten in den Augen, trotz der unruhigen Nacht. Was mich wach gehalten hatte, war dieselbe freudige Erregung wie vor einem Fest. Ich wusste nichts über Antonio. Er konnte geheiratet haben oder schon tot sein. Aber tief in meinem Innern hatte ich meine Jugend wiedergefunden. Und der Tod ist nichts für junge Menschen, auch nichts für Kinder – selbst wenn das mit Pietro und meinem Vater mich zu einer ganz anderen Überzeugung hätte bringen müssen. »Schluss mit den trüben Gedanken!«, sagte ich leise, denn hätte man mich bei Selbstgesprächen erwischt, hätte man mich sofort als verrückt abgestempelt. Es gab so viele ungeschriebene Regeln – viel zu viele, um sie alle präsent zu haben. Der ganze Ort wurde von diesen Regeln zusammengehalten. Man hatte keine ruhige Minute, wenn man sich den Regeln der Mehrheit nicht beugte.

»Und wenn schon! Ich tu schließlich nichts Böses … was sollen sie schon sagen?« Während ich darüber nachdachte, begegnete ich der Tochter von Comare Nenna sowie der Enkelin von Comare Antonietta. Ich sah ihnen verstohlen hinterher, voller Angst, meine innere Verwandlung könnte bereits sichtbar geworden sein. Hätte die Margiala noch gelebt, hätte sie bestimmt was gemerkt, denn ihr entging nichts. Sie war die Margiala. »Sollen sie mich doch in Frieden lassen!«, flüsterte ich wieder. »Sollen sie mich doch mein Leben leben lassen.« Ich konnte mir jetzt schon vorstellen, wie sie mich hinter meinem Rücken als verrückte Alte bezeichnen würden. »Sie wird den Verstand verloren haben, genau wie ihre Mutter und die bemitleidenswerte Mama von Comare Nenna. Die Ärmste, als ob es in ihrem Alter nicht schlimm genug wäre, allein zu sein!« Ich sah sie schon vor mir, eine einzige Ansammlung von spitzen, gehässigen Zungen. Die Rebellion, die in mir tobte und immer stärker wurde, machte mir fast ein wenig Angst, denn sie gehörte zur jungen Diamante. Im Lauf der Zeit hatte ich sie vergessen.

An den Obstständen wimmelte es nur so von Händen, die nach den schönsten Äpfeln und weichsten Pfirsichen griffen. Ich fühlte mich nackt unter Blicken, die einst an mir abgeprallt wären, fühlte mich schuldig für etwas, das ich noch gar nicht begangen hatte – für etwas, das in meinen Augen, in meinem Herzen vielmehr eine Erlösung war. Die Tochter von Comare Nenna trat hinter mich.

»Und, wie geht es dir?«

Sie erwischte mich unvorbereitet, und ich befürchtete aufzufliegen.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich zurück und legte die Hand schützend vor die Augen.

»Wie geht es dir?«, wiederholte sie lauter, da sie dachte, ich hätte sie bei dem Hintergrundlärm nicht richtig verstanden. Dabei verstand ich sie sehr gut, es war bloß so, als würden wir in diesem Moment zwei verschiedene Sprachen sprechen.

»Bestimmt fühlst du dich einsam in dem großen Haus.«

Jetzt ging es wieder. Unsere Gedanken waren erneut auf einer Wellenlänge, dementsprechend auch unsere Sprachen. Inzwischen hatten ihre Worte eine Bedeutung für mich, da sie meinen Schmerz direkt ansprachen. Natürlich fehlte mir die Margiala – auf die seltsame, einzig mögliche Weise, wie einem jemand wie sie fehlen konnte. Wir beide hatten uns immer nur aus der Entfernung beäugt und jede Zärtlichkeit aus unserer Beziehung herausgehalten. Was mir fehlte, war Lebensfreude, und darunter litt ich wirklich sehr. Was mir fehlte, war die Liebe.

Es vergingen mehrere Minuten, bis ich mich dazu durchrang, etwas darauf zu erwidern, und auch das nur, weil die Tochter von Comare Nenna bereits den Blick senkte, um mein Schweigen besser interpretieren und meine Gedanken lesen zu können.

»Geht’s dir gut, Diamante?« Mehr als ihre Stimme hatte ich das Markttreiben im Ohr, die geschwätzigen Leute, ihre gespitzten Ohren. Gleichzeitig wollte ich einfach nur losrennen, den Graben entlang bis zum Strand, um mich dort von den Wellen liebkosen zu lassen, ihr Prickeln zu spüren und mich frei zu fühlen.

Aufgeregt verabschiedete ich mich von der Comare. Ich wusste, dass der Moment gekommen war, und bekam kaum noch Luft, trotzdem beschleunigte ich meine Schritte. Denn warum sollte sich meine endgültige Verwandlung ausgerechnet am Obststand vollziehen? Ich ließ die runden Äpfel in der Sonne liegen, wo sie von anderen Händen betastet wurden.

Während ich mir mit raschen Schritten einen Weg durch die Menge bahnte und die schwarze Tasche an meine Brust presste, sah ich viele bekannte Gesichter. Ich grüßte die alten und neuen Comari mit einem Nicken, hatte es so eilig, als kochte der Asphalt unter meinen Füßen. Es war ein wunderschöner Spätsommertag, und nichts wies auf die dunkle Wehmut hin, die sich schon in wenigen Wochen über alles legen würde. Dann würden die Bäume ihre bunten Blätter verlieren und zusehen müssen, wie die Erde das Farbenkleid anlegte, das einst ausschließlich ihnen vorbehalten war. Ich dagegen wollte nicht sein wie sie und am Ende ohne alles dastehen. Das würde ich niemals zulassen. Ich würde etwas völlig Verrücktes tun. Ich würde den Graben entlangrennen, keuchend, wie es meinem Alter entsprach. Ich würde die ahnungslosen Grüppchen aus alten Männern in den Altstadtgassen von Bari begrüßen, in deren faltigen Gesichtern immer noch die Unbeschwertheit der Jugend stand. Ich würde mich über all den bösen Klatsch hinwegsetzen. Ich würde zu ihm zurückkehren.