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Alle konnten sehen, dass der Blick der Margiala weicher wurde, wenn sie mit mir sprach, so als hellte sich ihre Miene auf, als leuchteten ihre Augen intensiver.

Vielleicht weil sie schon ahnte, was auf uns zukam? Weil sie das Schicksal ihrer Töchter lesen konnte wie den Kaffeesatz? Ich hatte stets das Gefühl, dass Cornelia, Rosetta und ich wie ein offenes Buch für unsere Mutter waren, dass sie uns stets einen Schritt voraus war und unsere Gedanken lesen konnte – egal wie vage oder unfertig sie noch waren.

Cornelia bereitete gerade die Füllung zu, als eine schrille Stimme jenseits der Hofmauer nach uns rief. Genauer gesagt, rührte sie gerade im Topf mit den Zwiebeln, die vorher mit Salz, Kirschtomaten und Peperoncino in Milch gekocht worden waren. Am Schluss kamen noch saftige, entkernte grüne Oliven dazu.

Selbstverständlich erkannten wir Comare Nannina sofort an der Stimme. Von allen Nachbarinnen war sie mir bei Weitem die liebste, sodass ich sie auf ihren Wunsch hin sogar Tante nannte. Auf den ersten Blick wirkte sie eher abstoßend, mit ihrem langen Pferdegesicht und dem spitzen Kinn. Eine Adlernase, die sich beinahe bis zu den schmalen Lippen krümmte, ließ es noch kantiger wirken.

Sie behauptete, nicht immer so ausgesehen zu haben. Aber eine schlimme Zahnfleischentzündung hatte einen Zahn nach dem anderen ausfallen lassen, bis sie mit der Zeit tatsächlich aussah wie eine zahnlose Hexe. Vielleicht tat mir Comare Nannina deshalb leid.

Was mir an ihr am besten gefiel, war ihr weißes, seidig weiches Haar, das ihr ovales Gesicht wie lauter Wattekügelchen umgab. Sie trug keinen Dutt wie Mama, sondern ließ zu, dass eine dicke, silberne Mähne ihr Gesicht umrahmte – die einzige Koketterie, die ihr noch geblieben war.

»Dem Kind geht es nicht gut«, schrie die Ärmste ganz heiser vor Verzweiflung. Die Margiala folgte der Stimme der Comare und rannte in den Hof hinaus. Es gab einen kurzen Wortwechsel über das Mäuerchen hinweg, das unsere beiden Häuser trennte, bevor Mama die Nachbarin schnell hereinholte.

Immer wenn ich Gelegenheit hatte, der Margiala beim Wirken ihrer Wunder zuzusehen, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen, und ich bekam Gänsehaut. Es war, als würde ich Zeugin eines Zaubertricks, den Mama meisterhaft beherrschte. Sie war bei allen im Ort hochangesehen, und bevor man sich an den Hausarzt wandte, ging man lieber schnell zur Margiala, die »magische Hände« hatte, wie es hieß.

Comare Nannina machte einen sehr aufgeregten Eindruck. In ihren Augen stand die nackte Panik, sodass es um mehr zu gehen schien als nur um normales Bauchweh, das kleine Kinder manchmal dazu zwingt, sich zu winden wie ein Aal in einem zu kleinen Gefäß. Das Kind krümmte sich in den Armen seiner Oma, und seine kleinen Halsvenen pochten wie von einem Blasebalg bearbeitet.

Mamas Gesicht hingegen war wie versteinert, auch wenn das Zittern in ihrer Stimme eine gewisse Nervosität verriet.

Das dürften allerdings nicht viele mitbekommen haben, weil die Margiala ihre Gefühle ausgezeichnet verbergen konnte.

»Ich leg ihn aufs Bett«, flüsterte die Comare kaum hörbar und bahnte sich schon einen Weg zwischen den Stühlen hindurch zum Schlafzimmer.

»Nein«, sagte meine Mutter knapp. »Leg mir den Kleinen in den Arm.« Dann setzte sie sich auf den safrangelben Sessel neben der Anrichte. Ein Erbstück, das Papa von seiner alten, dementen Tante bekommen hatte, die sich – vielleicht weil sie es gewohnt war, in Fantasiewelten zu leben – stets damit brüstete, dass der Sessel mit den mit Schnitzereien versehenen Armlehnen und der samtbezogenen Lehne einmal einem Adeligen gehört hätte.

Ob das nun stimmte oder nicht – Mama hatte jedenfalls eine richtige Reliquie daraus gemacht. Das ging sogar so weit, dass es verboten war, darauf Platz zu nehmen. Der Sessel war ihr ganz persönlicher Thron, auf dem sie ihre Kunst ausübte.

Sie zupfte ihren Stufenrock zurecht, um den Kleinen besser auf den Schoß nehmen zu können, und nahm ihn der zitternden Comare aus den Händen. Das Kind schien gar nicht mit seinem makabren Tanz aufhören zu können, und seine tiefviolette Gesichtsfarbe verhieß nichts Gutes.

»Schnell, schnell«, rief unsere Nachbarin nervös.

Cornelia und ich hatten auf den Treppenstufen Stellung bezogen, um das Ganze zu beobachten. Irgendwann konnte sich auch Rosetta nicht mehr beherrschen und ließ die Töpfe stehen, um der Mutter zuzuschauen. Schließlich würde sie als Erstgeborene einmal ihre Nachfolgerin werden, sollte sie diese Fähigkeit denn von ihr geerbt haben.

»Das ist eine Gabe, die man irgendwann an sich wahrnimmt«, sagte die Margiala, als Rosetta sich bereits einbildete, sie wäre dafür vorherbestimmt.

Dabei warf Mama mir einen verschwörerischen Blick zu – vielleicht weil sie glaubte, in meinen Augen das gleiche seltsame Leuchten zu sehen, das sie einst an sich wahrgenommen hatte. Eine ähnliche Art, die Welt mit einer Mischung aus Skepsis und Hochmut zu betrachten. Für sie war das ein Geschenk, für mich eher eine Strafe.

Mit der linken Hand unterbrach Mama die Zuckungen des Kindes, während sie ihm mit der anderen das Hemdchen hochschob, um sie dann auf den angespannten Bauch zu legen.

»Ruhe jetzt!«, forderte ihr durchdringender Blick, damit wir aufhörten zu tuscheln. Der Mund der Margiala murmelte Unverständliches, hörbare, aber nicht zu deutende Laute: Gebete, Litaneien und Zaubersprüche in einer geheimnisvollen, fremden Sprache. Keine von uns hatte diese aneinandergereihten Worte bereits entziffert, die ihre energischen Gesten begleiteten.

Nachdem die Margiala den Bauch des Kindes kreisförmig massiert hatte, begann sie, mit dem Daumen über jeden Zentimeter Haut kleine Kreuze zu ziehen, während sie nach wie vor unverständliche Worte raunte und irgendeinen Punkt im Gesicht des Kindes zu fixieren schien.

Comare Nannina beruhigte sich langsam, weil sie sah, wie sich die Züge des Kleinen entspannten – genauso wie seine Fäuste sich lösten, die er bisher vor Schmerz geballt hatte. Etwa eine Viertelstunde dauerte es, bis das Wunder geschah und die Gesichtszüge des Kleinen wieder fröhlich aussahen, woraufhin er mehrmals mit den Lidern klimperte und schließlich einschlief. Staunend sah ich Cornelia an, die mich ihrerseits mit weit aufgerissenen Augen anschaute. Nur Rosetta wirkte seltsam gefasst, während sie dem Ganzen mit verschränkten Armen beiwohnte und sich dabei an den Treppenlauf lehnte.

Erst da zupfte Mama das Hemdchen wieder zurecht und legte das Kind seiner Oma in die Arme.

»Danke!«, rief diese ebenso freudestrahlend, »ich bring dir Eier und Käse.«

Die Margiala nahm nämlich aus Prinzip kein Geld für ihre Dienste. Höchstens Geschenke, denn Dankbarkeit hat man genauso zu akzeptieren wie Schmerz und Liebe. Das waren die Gefühle, die den meisten Respekt verdienten, fand sie.