ERINNERUNG II

Die Reise endete, und Al’iastov schloss das Vierte Auge, um in die gedämpfte Helligkeit auf der Brücke der Tomra zurückzukehren. Mit einem dumpfen Gefühl in Magen und Herz nahm sie die Hände von den Navigationskontrollen des Transporters der Verteidigungsflotte. »Senior-Commander?«, sagte sie zögerlich, wobei sie zu dem Navigationsoffizier neben ihr hinüberblickte.

»Wir sind da«, bestätigte er. »Danke. Ich übernehme den Rest.«

»Gut«, murmelte Al’iastov. Sie löste die Sicherheitsgurte, stand auf und schritt durch die stille Brücke zum Ausgang.

Jenseits der Luke setzte sie ihren Weg durch den leeren Korridor fort, der zum Quartier des Captains führte, wo man sie und ihre Hüterin untergebracht hatte. Die Tomra verließ niemals das Hoheitsgebiet der Aszendenz, folglich gab es an Bord auch keine richtigen Himmelsläufer-Unterkünfte. Mafole, Al’iastovs Hüterin, hatte sich darüber beschwert, sehr lautstark sogar, aber Junior-Captain Vorlip hatte sie nur wütend angestarrt.

Auf Al’iastovs anderen Schiffen wartete ihre Hüterin meistens direkt vor der Brücke, um sie zum Himmelsläuferquartier zu geleiten. Doch nach der Konfrontation mit Vorlip hatte Mafole verkündet, dass sie ihre Kabine nicht mehr verlassen würde, bis sie Naporar erreicht hätten. Also musste Al’iastov den Weg zur Brücke und wieder zurück allein beschreiten.

Während sie den langen Gang hinabschritt, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Es gab keinen Grund, bei dieser Reise eine Himmelsläuferin dabeizuhaben, das wusste sie. Die Routen innerhalb der Aszendenz waren nicht wie die draußen im Chaos. Die Hyperraumstraßen hier waren frei und stabil, und die Piloten wussten, wie sie ihr Ziel erreichen konnten.

Genau darum hatte die Flotte das Schiff für Al’iastovs Prüfung ausgewählt. Auf Flügen wie diesem konnte man risikofrei überprüfen, ob eine Himmelsläuferin noch ihre Aufgabe zu erfüllen vermochte.

Der Pilot hatte nichts gesagt. Ebenso wenig wie Junior-Captain Vorlip.

Aber Al’iastov hatte es gespürt.

Sie hatte die Tomra nicht auf dem richtigen Pfad gehalten. Der Pilot hatte den Kurs während der Reise korrigieren müssen.

Ihr Viertes Auge hatte sich fast völlig geschlossen. Sie hatte keinen Nutzen mehr. Das einzige Leben, das sie je gekannt hatte, stand vor dem Ende. Ein ganzes Jahr bevor es normalerweise geschah.

Mit gerade mal dreizehn.

»Alles in Ordnung?«

Al’iastov erstarrte. Sie wischte die Tränen weg, die ihre Sicht verschleiert hatten, und sah eine Person auf sich zukommen. Ein junger Mann in schwarzer Uniform. Ein paar Schritte entfernt blieb er stehen. Er trug keine Insignien an seinem Kragen, was bedeutete, dass er ein Kadett war, und sein Schulterstück war mit einer aufgehenden Sonne verziert. Das zeichnete ihn als Mitglied einer der Neun Familien aus, wie Al’iastov wusste, aber sie konnte sich nicht genau erinnern, welche Familie. »Es geht mir gut«, sagte sie. Eine ihrer früheren Hüterinnen hatte ihr erklärt, dass sie sich nie über ihre Gefühle beschweren durfte. »Wer sind Sie?«

»Kadett Mitth’raw’nuru«, stellte er sich vor. »Auf dem Weg zur Taharim-Akademie. Und wer bist du?«

»Al’iastov.« Zu spät fiel ihr ein, dass niemand außer den ranghöchsten Offizieren ihre Identität kennen sollte. Sie verzog das Gesicht. »Ich … bin die Tochter des Captains«, fügte sie hinzu. Es war dieselbe Lüge, die sie jedem anderen Mannschaftsmitglied erzählte.

Thrawn zog die Augenbraue hoch, nur ein kleines bisschen, und Al’iastovs schweres Herz schlug noch ein wenig schwerer. Er glaubte ihr nicht. Als würde es nicht reichen, dass ihr Leben vorbei war, würde sie jetzt vermutlich auch noch deswegen Ärger bekommen. »Ich meine …«

»Schon in Ordnung«, sagte Thrawn. »Was ist los, Al’iastov? Kann ich vielleicht helfen?«

Al’iastov seufzte. Sie sollte sich nicht beklagen. Aber dies eine Mal war ihr egal, was sie tun sollte und was nicht. »Ich glaube nicht«, murmelte sie. »Ich … mache mir nur Sorgen. Über … ich weiß auch nicht. Über die Zukunft, schätze ich.«

»Ich verstehe«, erwiderte Thrawn.

Ihr stockte der Atem. Hatte er erkannt, was sie war? Der kurze Augenblick unachtsamer Rebellion endete schlagartig, und einmal mehr hatte sie das sichere Gefühl, dass sie Schwierigkeiten bekommen würde. »Wirklich?«, fragte sie vorsichtig.

»Natürlich«, antwortete Thrawn. »Wir alle empfinden während unserer Reise durch das Leben Ungewissheit. Ich weiß natürlich nicht, was dich beschäftigt, aber ich versichere dir, alle Kadetten an Bord dieses Schiffes fragen sich, welche Veränderungen die Zukunft wohl für sie bereithält.«

Sie spürte einen Hauch von Erleichterung. Er wusste also doch nicht, dass sie eine Himmelsläuferin war. »Aber ihr wisst alle, wo eure Reise hinführt«, sagte sie. »Sie sind ein Kadett, und schon bald werden Sie zur Verteidigungsflotte gehören. Ich habe keine Ahnung, was aus mir wird.«

»Du bist die Tochter des Captains«, erinnerte Thrawn sie. »Da sollten dir doch viele Möglichkeiten offenstehen. Davon abgesehen … Nur weil ich weiß, dass ich zur Akademie gehe, heißt das nicht, dass es nicht zahlreiche ­Variablen in dieser Gleichung gibt. Unsicherheit kann die beängstigendste aller Emotionen sein.«

Zu Al’iastovs großer Überraschung sank Thrawn anschließend vor ihr auf ein Knie herab, sodass sie auf gleicher Augenhöhe waren. Erwachsene taten so etwas fast nie. Selbst ihre Hüterinnen standen die meiste Zeit hoch aufgerichtet vor ihr und blickten zu ihr herab. »Aber auch wenn viele Pfade vor uns liegen, können wir doch immerhin entscheiden, welchen wir beschreiten«, fuhr er fort. »Auch du hast diese Macht – die Macht, den Pfad zu wählen, der der richtige für dich ist.«

»Ich weiß nicht.« Sie spürte, dass erneut Tränen in ihre Augen quollen. Was für eine Wahl hatte eine dreizehn­jährige gescheiterte Himmelsläuferin schon? Darüber hatte noch niemand mit ihr gesprochen. »Aber danke für …«

»Was geht hier vor sich?«, ertönte die harsche Stimme von Junior-Captain Vorlip hinter ihnen. »Wer sind Sie, und was tun Sie hier?«

»Kadett Mitth’raw’nuru«, sagte Thrawn, während er sich rasch wieder erhob. »Ich habe mich gerade an Bord umgesehen, als ich Ihrer Tochter begegnet bin. Sie wirkte aufgewühlt, also habe ich gefragt, ob ich ihr helfen kann.«

»Sie haben in diesem Korridor nichts zu suchen«, erklärte Vorlip streng. Sie marschierte an Al’iastov vorbei und baute sich vor Thrawn auf. »Haben Sie nicht die Schilder gesehen? Kein Zutritt für Unbefugte!«

»Ich ging davon aus, dass das nur für nicht militärisches Personal gilt«, erwiderte Thrawn. »Ich dachte, als Kadett wäre ich von dieser Einschränkung ausgeschlossen.«

»Tja, da haben Sie falsch gedacht«, sagte Vorlip. »Sie sollten bei den anderen Kadetten sein.«

»Verzeihen Sie«, entschuldigte Thrawn sich. »Ich wollte nur ein Gefühl für das Schiff bekommen.« Er neigte den Kopf, dann wandte er sich zum Gehen.

Vorlip streckte den Arm aus, um ihm den Weg zu blockieren. »Wie meinen Sie das? Ein Gefühl für das Schiff?«

»Ich wollte seine Rhythmen studieren«, erklärte Thrawn. »Die subtilen Vibrationen des Decks, wenn die Leistung der Triebwerke sich ändert. Die kurzen Pausen während unserer Reise durch den Hyperraum. Die subtilen Variationen im Luftstrom, wenn wir den Kurs wechseln. Die kurze Verzögerung, bevor die Kompensatoren auf ein Manöver reagieren.«

»Wirklich«, murmelte Vorlip. Mit einem Mal wirkte sie nur noch halb so wütend. »Wie viele Raumflüge haben Sie bereits absolviert?«

»Noch keinen«, erwiderte Thrawn. »Das ist das erste Mal, dass ich meine Heimat verlasse.«

»Soso.« Vorlip stellte sich dicht vor ihn. »Schließen Sie Ihre Augen. Und lassen Sie sie geschlossen, bis ich sage, dass Sie sie wieder öffnen dürfen.«

Kaum dass Thrawn die Lider zugeklappt hatte, griff Vorlip nach seinem Oberarm und begann, ihn ohne Vorwarnung im Kreis zu drehen. Er stolperte kurz, als seine Füße versuchten, mit den Bewegungen seines Körpers mitzuhalten. Vorlip drehte ihn weiter und bewegte sich dabei langsam um ihn herum. Als sie ihn nach mehreren Umdrehungen wieder stillstehen ließ, hatte er sich ungefähr sechzig Grad von seiner Ausgangsposition entfernt.

»Die Augen bleiben zu«, befahl sie, die Hand noch immer um seinen Oberarm geschlossen. »Wo ist vorne?«

Nach einem Moment des Schweigens hob Thrawn die Hand und deutete zum Bug der Tomra . »Da.«

Vorlip zögerte kurz, dann ließ sie ihn los und trat zurück. »Sie können die Augen jetzt öffnen«, sagte sie. »Kehren Sie zu Ihrer Kabine zurück. Und ignorieren Sie nie wieder ein Schild, es sei denn, Sie wissen genau, dass Sie die nötige Befugnis haben.«

»Jawohl, Captain.« Thrawn musste ein paarmal blinzeln, bis er das Gleichgewicht vollends wiedergefunden hatte. Er nickte erst Vorlip zu, dann mit einem Lächeln auch Al’iastov und wandte sich anschließend zum Gehen.

»Es tut mir leid«, flüsterte Al’iastov leise, als er davonging.

»Schon in Ordnung«, sagte Vorlip. Sie blickte noch immer Thrawn nach.

»Sind Sie böse auf ihn?«, fragte Al’iastov. »Er wollte nur helfen?«

»Ich weiß.«

»Sind Sie böse auf mich

Vorlip drehte sich herum und bedachte sie mit einem schmalen Lächeln. »Nein, natürlich nicht. Du hast nichts falsch gemacht.«

»Aber …« Verwirrt brach sie ab.

»Ich bin auf gar niemanden wütend«, erklärte Vorlip. »Es ist nur … Ich habe fünfzehn Reisen auf vier verschiedenen Schiffen absolviert, ehe ich mich so sicher orientieren konnte. Dieser Mitth’raw’nuru brauchte nur eine.«

»Ist das ungewöhnlich?«

»Sehr sogar«, versicherte Vorlip ihr.

»Er scheint nett zu sein«, sagte Al’iastov. Sie dachte an seine Bemerkung über Pfade und Entscheidungen. »Was wird mit mir passieren, wenn ich hier fertig bin?«

»Jemand wird dich adoptieren«, antwortete Vorlip. »Vermutlich eine der Neun Herrschenden Familien – sie nehmen gern frühere Himmelsläuferinnen auf.«

»Warum?«

»Das hat mit Prestige zu tun«, erwiderte Vorlip. »Ich bin sicher, du weißt, dass es nicht viele Mädchen mit deinen Fähigkeiten gibt. Eine von euch zum Meriten-Adoptivling zu machen ist für Familien eine Ehre.«

Al’iastov hatte Mühe zu schlucken. »Obwohl wir keinen Nutzen mehr für irgendjemand haben?«

»Sag so etwas nicht«, sagte Vorlip streng. »Jede Person ist wertvoll. Welche Familie dich auch immer adoptiert, man wird dich dort mit offenen Armen willkommen heißen. Man wird sich gut um dich kümmern, dich auf eine höhere Schule schicken und dann eine Laufbahn wählen, die am besten für dich geeignet ist.«

»Oder sie verstoßen mich vorher.«

»Du sollst aufhören, so zu reden«, wiederholte Vorlip. »Niemand wird dich verstoßen. Deine Zugehörigkeit mehrt den Ruhm der Familie, schon vergessen?«

»Na gut«, murmelte Al’iastov. Sie hatte noch immer ihre Zweifel, doch es hatte wohl keinen Sinn, jetzt weiter darüber zu sprechen.

Eine Sache gab es aber noch: »Darf ich auswählen, zu welcher Familie ich komme?«

Vorlip runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Um ehrlich zu sein, kenne ich mich nicht wirklich mit diesen Dingen aus. Warum, hast du dir eine spezielle Familie ausgesucht?«

»Ja«, nickte Al’iastov. »Die Mitth.«

»Wirklich?« Vorlip blickte über die Schulter. »So wie ­Kadett Thrawn?«

»Ja.«

Vorlip stieß nachdenklich den Atem aus. »Wie gesagt, ich kenne die Details nicht. Aber ich wüsste nicht, warum du es nicht zumindest erwähnen solltest. Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke … Ich sehe keinen Grund, warum eine ehemalige Himmelsläuferin mit deinen Leistungen nicht bekommen sollte, worum sie bittet.«

Da war es. Vorlip hatte es gesagt. Ehemalige Himmelsläuferin.

Al’iastovs Zeit als Navigatorin war offiziell vorbei.

Seltsamerweise fühlte es sich aber nicht mehr so schlimm an wie noch vorhin. »Genau das hat er auch gesagt«, erzählte sie Vorlip. »Er hat gesagt, ich kann entscheiden, welchen Pfad ich beschreite.«

»Kadetten sagen alles Mögliche«, erwiderte Vorlip mit einer wegwerfenden Handbewegung, die gleichzeitig das Ende ihrer Unterhaltung markierte. »Geh jetzt. Ich erwarte dich und deine Hüterin in meinem Büro. Wir müssen einige Formulare ausfüllen.«

Mitth’raw’nuru , dachte Al’iastov, während sie und der Captain sich in Bewegung setzten. So hatte er sich genannt: Mitth’raw’nuru. Sie würde den Namen nicht vergessen.

Wenn der Moment gekommen war, würde die Mitth-Familie definitiv eine Anfrage von ihr erhalten.