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Der Korridor, der zum Anhörungsraum der Aristokra führte, war lang, schummrig und echolastig. Während Ar’alani ihn durchquerte, lauschte sie ihren dumpfen Schritten und dem beinahe spöttischen Wumpf-Wumpf-Wumpf, das auf sie folgte. Dieser dramatische Effekt war so beabsichtigt; Zeugen und Sprecher sollten den psychischen Druck spüren, bevor sie den Anhörungsraum überhaupt betraten.

Natürlich war es nicht wirklich Ar’alani, auf die die Aristokra es abgesehen hatten, sondern Thrawn. Aber der war im Moment nicht verfügbar – er befand sich in General Ba’kifs Auftrag auf streng geheimer Mission –, also hatte irgendjemand beschlossen, stattdessen den Offizier vor ein offizielles Tribunal zu rufen, der während der Schlacht das Kommando gehabt hatte. Sicherlich hofften sie, irgendwelche schädlichen Äußerungen aus ihr herauszukitzeln, die sie später gegen Thrawn einsetzen könnten.

Das Ganze war völlige Zeitverschwendung. Ar’alani hatte ­bereits dem Hierarchenrat der Verteidigungsflotte Bericht erstattet, und niemand konnte ernsthaft glauben, dass sie diesen Bericht rückwirkend noch ändern würde. Ganz gleich, wie sehr sie es auch versuchten und wie wütend sie auch wurden, theoretisch konnten die Aristokra und die Neuen Familien einem Kommandooffizier ihres Ranges nichts anhaben.

Theoretisch.

»Das ist Schwachsinn«, schnaubte Senior-Captain Kiwu’tro’owmis, die sich beeilen musste, um mit ihren kürzeren Beinen nicht hinter Ar’alanis weit ausholenden Schritten zurückzufallen. »Völliger Schwachsinn. Schwachsinn hoch neun.«

»Das ist wirklich viel Schwachsinn«, kommentierte Ar’alani mit einem Schmunzeln. Abgesehen davon, dass Wutroow eine ausgezeichnete Erste Offizierin war, besaß sie auch ein Talent dafür, angespannte Situationen aufzulockern und die Absurdität der Bürokratie offenzulegen.

»Aber noch immer nicht genug, um das hier zu beschreiben«, brummte Wutroow. »Wir haben die Flotte der Paataatu zu Klump geschossen und ihnen ein Friedensabkommen abgerungen, das sie nur zähneknirschend akzeptierten. Und die Aristokra ist noch immer nicht zufrieden?«

»Nein«, murmelte Ar’alani. »Aber wir sind auch nicht das eigentliche Ziel ihrer Verärgerung. Wir sind nur die Einzigen, die gerade in Reichweite waren.«

Wutroow blies die Backen auf. »Thrawn.«

Ar’alani nickte. »Thrawn.«

»In dem Fall ist es Schwachsinn hoch zehn «, erklärte Wutroow. »Er hatte einen guten Grund, sich Ihrem Befehl zu widersetzen. Und sein Plan hat funktioniert.«

Genau aus diesem Grund hatte der Rat keine Anklage wegen Befehlsverweigerung erhoben, ja noch nicht mal einen offiziellen Tadel ausgesprochen. Nicht dass Ar’alani oder einer der anderen Kommandanten bereit gewesen wäre, eine solche Anklage zu stützen.

Doch in der Aristokra hatte Thrawn viele Feinde. Und die interessierte nicht, ob der Rat ihn von allen Vorwürfen freigesprochen hatte; sie wollten Blut sehen.

»Wie soll diese Sache ablaufen, Ma’am?«

»Wir beantworten ihre Fragen«, sagte Ar’alani. »Ehrlich, versteht sich. Die meisten Aristokra sind schlau genug, keine Fragen zu stellen, auf die sei bereits die Antwort kennen.«

»Was aber nicht heißt, dass wir unsere Antworten nicht ein wenig freier formulieren können.«

»Genau das habe ich auch vor«, erklärte Ar’alani. »Passen Sie nur auf, dass Sie nicht zu frei formulieren. Einige Aristokra haben eine Kunst daraus gemacht, einem das Wort im Mund herumzudrehen.«

»Eine schöne Kunst«, lachte Wutroow. »Mit Thrawn hätten sie sicher ihre wahre Freude.«

»Ja, er hat für solche Dinge leider keinerlei Talent«, seufzte Ar’alani. »Seien Sie trotzdem vorsichtig. Ihm können sie nicht an den Kragen, es ist also durchaus möglich, dass sie nach einem anderen Kragen suchen.«

»Ich bezweifle, dass wir etwas zu befürchten haben, Admiral«, entgegnete Wutroow. »Wie lautet doch das alte Sprichwort: Am dunkelsten ist es immer vor dem Sonnenaufgang.«

»Es sei denn, jemand sprengt die Sonne in die Luft«, erwiderte Ar’alani. »Oder zumindest ging das Sprichwort so an meiner Akademie.«

Und dann hatten sie das Ende des Korridors erreicht. Die schweren Türflügel glitten langsam auf – noch mehr psychologische Dramatik –, und dahinter wurden der Zeugentisch und zwei Stühle sichtbar, zu einem dunklen Halbkreis hin ausgerichtet, wo die Syndics bereits auf sie warteten. Ar’alani versuchte, ihre Bewegungen mit zuversichtlichem Elan zu erfüllen, während sie zum Tisch ging und sich hinter einen der Stühle stellte. Als Wutroow den Platz neben ihr eingenommen hatte, rief Ar’alani: »Syndics der Chiss-Aszendenz, ich grüße Sie. Mein Name ist Admiral Ar’alani, gegenwärtig Kommandantin der ­Vigilant und des Sechsten Kampfverbands der Expansiven Verteidigungsflotte. Das hier ist mein Erster Offizier, Senior-Captain Kiwu’tro’owmis.«

»Seien Sie gegrüßt, Admiral; Senior-Captain«, sagte eine Stimme aus der Mitte des Rings.

Einen Moment später strahlte grelles Licht durch die Düsternis.

Ar’alani blinzelte mehrmals, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Ein Teil von ihr konnte nicht umhin, diesen letzten Zug zu bewundern. Die Syndics mussten sich nicht in der Dunkelheit verstecken, das war die Botschaft; sie konnten jedem in der Aszendenz furchtlos gegenübertreten.

»Bitte, setzen Sie sich«, sagte eine andere Stimme. »Wir haben nur ein paar Fragen an Sie.«

»Und wir sind bereit, sie zu beantworten«, erwiderte Ar’alani, schob den Stuhl zurück und setzte sich. Keines der Gesichter hinter dem langen halbkreisförmigen Tisch kam ihr bekannt vor, aber die Plaketten mit den Familiennamen verrieten ihr alles, was sie wissen musste. Sechs Familien waren für dieses spezielle Tribunal ausgewählt worden, und wie üblich war es eine Mischung aus den Neun und den Großen Familien: die Irizi, Ar’alanis alte Familie; die Kiwu, Wutroows gegenwärtige Familie; dazu die Clarr, die Plikh, die Ufsa und die Droc.

Thrawns Familie, die Mitth, waren nicht vertreten.

Das war interessant und verdächtig. Offenbar hatten die anderen die Tatsache, dass Thrawn selbst nicht hier sein konnte, als Vorwand benutzt, um die Mitth außen vor zu lassen. Das war der interessante Teil. Der verdächtige Teil war, dass Thrawn trotzdem im Mittelpunkt dieser Befragung stand; da hätte seine Familie eigentlich darauf bestehen müssen, daran teilzunehmen.

Es sei denn, sie hatte bereits entschieden, dass Thrawn ein ­Risiko darstellte und es einfacher wäre, ihn den Nachtwölfen zum Fraß vorzuwerfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie diesen Pfad gewählt hätte.

»Kommen wir gleich zur Sache«, sagte der Clarr. »Vor sechs Tagen nahm Ihr Kampfverband an einem Einsatz gegen die Paataatu teil, nachdem diese unsere südöstlichen Grenzen verletzt hatten. Während der Schlacht missachtete einer Ihrer Kommandanten, Senior-Captain Thrawn, einen direkten Befehl. Ist das korrekt?«

Ar’alani zögerte. Nicht lügen, nur frei formulieren . »Er ignorierte einen zweitrangigen Befehl, ja, Syndic.«

Der Clarr runzelte die Stirn. »Verzeihung?«

»Ich sagte, er ignorierte einen zweitrangigen Befehl«, wiederholte Ar’alani. »Natürlich war es zu dem Zeitpunkt noch ein vorrangiger Befehl.«

»Wie faszinierend«, bemerkte der Irizi trocken. »Die Irizi-Familie hat seit Generationen die Ehre, Offiziere und Krieger für die Flotte bereitzustellen, aber ich kann mich nicht erinnern, je von zweitrangigen Befehlen gehört zu haben.«

»Vielleicht sollte ich es dann besser als Befehl mit geringer Priorität beschreiben«, sagte Ar’alani. »Die oberste Priorität eines Kriegers ist es, die Aszendenz zu beschützen. Seine zweite Priorität ist, die gegenwärtige Schlacht oder den Krieg zu gewinnen. Danach kommt der Schutz des Schiffes und seiner Mannschaft. Und dann die Ausführung eines erhaltenen Befehls.«

»Wollen Sie damit sagen, dass bei der Expansiven Verteidigungsflotte jeder machen kann, was er will?«, schnaubte die Droc.

»Ich glaube, das tut Thrawn sowieso, egal, wo er ist«, murmelte der Ufsa.

Ein paar der Versammelten lachten leise, aber der Clarr lächelte nicht einmal. »Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Admiral.«

»Die Flotte ist nicht so unorganisiert, wie Sie vielleicht glauben«, erklärte Ar’alani. »Im Idealfall decken sich die Befehle des kommandierenden Offiziers mit den genannten Prioritäten.« Sie legte den Kopf schräg, als wäre ihr gerade etwas eingefallen. »Ich würde sogar sagen, es ist ganz ähnlich wie bei den Syndics.«

Die Augen des Clarr wurden schmal. »Das müssen Sie mir erklären.«

»Ihre oberste Verpflichtung gilt der Aszendenz«, antwortete Ar’alani. »Danach folgt die Loyalität den jeweiligen Familien gegenüber.«

»Was für die Neun Familien gut ist, ist auch gut für die Aszendenz«, warf die Plikh ein.

»Daran zweifle ich nicht«, sagte Ar’alani. »Ich wollte nur ­aufzeigen, dass es eine Hierarchie von Zielen und Pflichten gibt.«

»Und selbst innerhalb einer Familie gibt es Unterschiede«, fügte Wutroow an. »Das Wort von Blutsmitgliedern wird anders gewertet als das von Vettern oder Drittrangigen oder Geprüften oder Meriten-Adoptivlingen.«

»Danke, dass Sie uns an das Offensichtliche erinnern, Senior-Captain«, sagte der Clarr eisig, »aber Sie wurden nicht vorgeladen, um über Familienbeziehungen zu diskutieren. Sie sollen erklären, warum Captain Thrawn den direkten Befehl einer Vorgesetzten ignorierte, ohne dass sein Handeln irgendwelche Konsequenzen nach sich gezogen hat.«

»Verzeihen Sie, Syndic«, sagte Wutroow, bevor Ar’alani antworten konnte. »Ich habe eine Frage.«

»Admiral Ar’alani, informieren Sie Ihren Ersten Offizier bitte, dass er hier ist, um Fragen zu beantworten, nicht, um selbst welche zu stellen«, schnappte der Clarr.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte Wutroow erneut, »aber meine Frage hat direkt mit Captain Thrawns Handeln zu tun.«

Der Clarr setzte zu einer Entgegnung an, hielt dann aber inne und schürzte die Lippen. »Na schön«, nickte er. »Aber ich warne Sie, Captain. Ich bin nicht in der Laune für belanglose Hinhaltemanöver.«

»Ich auch nicht, Syndic«, erwiderte Wutroow. »Wie Admiral Ar’alani bereits in ihrem offiziellen Bericht erklärt hat, löste Captain Thrawn die Springhawk aus der Formation, um die Angreifer auf sich zu ziehen. So hatte der Rest unserer Schiffe die nötige Zeit, um sich neu zu formieren und einen Gegenangriff zu starten. Meine Frage ist: Wie kann es sein, dass wir so schnell und so gezielt angegriffen wurden, kaum dass wir das System erreicht hatten?«

»Die Paataatu wussten, dass ihre Übergriffe gegen die Aszendenz Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen würden«, sagte der Clarr. »Umso mehr, falls sie hinter dem Angriff auf Csilla steckten. Ich hatte Sie doch vor belanglosen Fragen gewarnt …«

»Aber warum dort ?«, beharrte Wutroow. »Warum an diesen Koordinaten? Es ist, als hätten sie uns bereits erwartet.«

»Sie klingen, als wüssten Sie bereits die Antwort auf diese Frage«, bemerkte der Kiwu. »Warum sagen Sie es uns nicht einfach?«

»Gerne.« Wutroow neigte respektvoll den Kopf. »Nachdem die Aszendenz herausgefunden hatte, dass die Paataatu an unseren Grenzen Ärger machen, hat das Syndicure eine Gesandtschaft zu ihnen geschickt. Mir ist ein detaillierter Bericht über diese Mission in die Hände gefallen …«

»Wir alle kennen diesen Bericht«, fiel ihr der Clarr ins Wort. »Kommen Sie zum Punkt.«

»Natürlich, Syndic«, erwiderte Wutroow. Ihr Gesicht war vollkommen ernst – sie war zu schlau, um auch nur den Eindruck zu erwecken, als würde sie die Aristokra verspotten –, aber Ar’alani bemerkte ein Funkeln in ihren Augen. Was immer Wutroow zu sagen hatte, es musste gut sein. »Als die Besprechungen endeten und die Gesandten zu ihrem Schiff zurückkehrten, sagte einer von ihnen, ich zitiere.« Sie machte eine Pause, um auf ihren Questis zu blicken. »›Das nächste Mal, wenn Chiss-Schiffe aus dieser Richtung kommen, werden sie absolute Zerstörung über Ihre Welten bringen.‹« Sie hob den Kopf. »Muss ich erklären, in welche Richtung der Gesandte deutete?«

»Unsinn«, zischte der Ufsa. »Kein Diplomat würde je etwas so Törichtes tun.«

»Einer offenbar schon«, entgegnete Wutroow. »Hätte Admiral Ar’alani von diesem Wortwechsel gewusst, hätte sie sicher einen anderen Angriffsvektor gewählt. Aber sie wusste es nicht, also nahm sie den direkten Weg. Denselben Weg, den zuvor die Gesandten genommen hatten.«

Ar’alani nahm den Faden gedankenschnell auf: »Unter diesen Umständen werden Sie sicher anerkennen, dass Captain Thrawns Aktion nicht nur vertretbar, sondern notwendig war.«

»Vielleicht«, sagte der Clarr. Seine Stimme und seine Miene waren noch immer hart, aber er hatte seine anfängliche Selbstsicherheit eingebüßt. »Interessant. Danke für Ihre Zeit, Admiral; Captain. Sie dürfen jetzt gehen. Wir werden nach Ihnen schicken lassen, sobald wir den Sachverhalt genauer studiert haben.«

»Selbstverständlich, Syndic.« Ar’alani erhob sich. »Eine Sache noch. Ich bin sicher, dieser Angriff war die letzte Militäraktion, die wir gegen die Paataatu unternehmen mussten. Ihre Diplomaten versichern uns, dass sie sich hinter ihre Grenzen zurückziehen und die Aszendenz nicht mehr stören werden. Falls Sie das bei Ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen möchten …«

»Danke«, sagte der Clarr. »Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Tag.«

»Sie werden uns nicht zurückrufen«, murmelte Wutroow, als die beiden Frauen wieder den langen Korridor entlangschritten. »Sobald sie die Sache überprüft haben, werden sie sich hüten, mehr Aufmerksamkeit auf diesen Patzer zu lenken.«

»Ja«, stimmte Ar’alani zu. »Dann stimmt die Geschichte also?«

»Jedes Wort.« Wutroow lächelte. »Ein Feind fällt im Kampf vielleicht auf einen Bluff herein, aber die Aristokra niemals. Nein, einer der Gesandten war wirklich dumm genug, sie auf unseren optimalen Angriffsvektor hinzuweisen.«

»Ich nehme an, jemand aus Ihrer Familie hat Ihnen diese Informationen zugespielt?«

»Jawohl, Ma’am«, nickte Wutroow. »Tut mir leid, aber mehr möchte ich nicht dazu sagen.«

»Ich hatte auch nicht vor, weiter nachzufragen«, versicherte Ar’alani ihr. »Aber ich nehme an, Ihre Familie verfolgt damit andere Ziele, als Thrawn den Hals zu retten. Politische Ziele vielleicht?«

»Ja, das mit Thrawn ist nur ein angenehmer Nebeneffekt.« Wutroow warf Ar’alani einen Seitenblick zu. »Die Prognose, dass die Paataatu keinen Ärger mehr machen werden, stammt von ihm. Mir ist aufgefallen, dass Sie seinen Namen aus dem Spiel gelassen haben.«

Ar’alani zog die Nase kraus. Dass ein Offizier die Lorbeeren für die Taten eines anderen einheimste, war eine weit verbreitete Unsitte in der Flotte, und sie hasste es. Aber in diesem Fall … »Ich werde den Bericht in ein oder zwei Jahren korrigieren – vorausgesetzt, Thrawns Voraussage bewahrheitet sich. Hier seinen Namen ins Spiel zu bringen, wäre nur kontraproduktiv gewesen.«

»Trotzdem wollten Sie, dass es festgehalten wird«, sagte Wutroow mit einem Nicken. »Und das war die beste Methode. Ich schätze, man merkt erst, wie wichtig Familienbeziehungen sind, wenn man sie verliert.«

»Allerdings«, erwiderte Ar’alani, und ein altes, vages Gefühl des Verlusts stieg in ihr hoch. »Also genießen Sie sie, solange Sie können.«

»Was, ich ?« Wutroow lachte kurz. »Ich weiß das Kompliment zu schätzen, Admiral, aber ich werde es niemals bis zu einem Führungsrang bringen.«

»Man kann nie wissen, Captain«, entgegnete Ar’alani. »Man kann nie wissen.«