6

Fünf Stunden nachdem die Springhawk zwischen den Asteroiden untergetaucht war, starteten Thrawn und Thalias mit einem der Shuttles, um die leblose Raumstation auf der anderen Seite des Clusters zu erkunden.

»Der Flug könnte langwierig werden«, warnte Thrawn, während er sie zwischen herumtreibenden Gesteinsbrocken und Staubwolken hindurchnavigierte. »Der Feind könnte Triebwerkszündungen bemerken, darum werden wir nur die Manövrierdüsen benutzen – was die Reisezeit deutlich verlängern wird.«

»Ich verstehe«, sagte Thalias.

»Aber immerhin haben wir so Gelegenheit, uns ungestört zu unterhalten«, fügte Thrawn an. »Wir gefällt Ihnen Ihre Position als Hüterin?«

»Es ist nicht einfach«, gestand Thalias. In ihrem Hinterkopf schrillte eine leise Alarmglocke los. Thrawn hatte sie seit dem Start der Springhawk jederzeit in sein Büro rufen können, falls er sich einfach nur unter vier Augen mit ihr unterhalten wollte.

Wusste er von ihrer Unterhaltung mit Thurfian, von der Abmachung, zu welcher der Syndic sie gezwungen hatte? »Mit Che’ri ist leicht auszukommen, aber es gibt einige Dinge, mit denen jede Himmelsläuferin zu kämpfen hat – und indirekt auch jede Hüterin.«

»Albträume?«

»Und Kopfschmerzen. Und gelegentliche Stimmungsschwankungen«, fügte Thalias hinzu. »Und die üblichen Probleme, wenn man eine Neunjährige ist.«

»Was ist mit dem Wissen, dass das Schiff auf sie angewiesen ist?«

»Meinen Sie die Horrorgeschichten über arrogante, tyrannische Himmelsläuferinnen?« Thalias schüttelte tadelnd den Kopf. »Pure Mythen. Ich kenne niemanden, der wirklich so einem Kind begegnet wäre. Jede Himmelsläuferin, von der ich weiß, tendiert eher zum entgegengesetzten Extrem.«

»Verunsicherung und ein Gefühl der Unzulänglichkeit also«, murmelte Thrawn. »Die Furcht, dass sie den Ansprüchen ihres Captains und ihres Schiffes nicht gerecht wird.«

Thalias nickte. Abgesehen von den Albträumen waren diese Emotionen die deutlichste Erinnerung, die sie an ihre Kindheit hatte. »Himmelsläuferinnen haben immer Angst, dass sie das Schiff in die Irre führen oder einen anderen Fehler machen.«

»Obwohl es laut Aufzeichnungen nur wenige solche Zwischenfälle gab«, sagte Thrawn. »Und selbst dann kehrten die Schiffe meist mithilfe von Mikrosprüngen sicher nach Hause zurück.« Er machte eine Pause. »Ich nehme an, Che’ri hat keine Sorgen und Probleme, die Sie nicht selbst auch überwinden mussten?«

»Nein«, antwortete Thalias mit einem leisen Seufzen. Sie hatte nicht ernsthaft geglaubt, dass Thrawn sie an Bord lassen würde, ohne erst ihren Hintergrund zu durchleuchten, aber sie hatte trotzdem gehofft, ihm wäre vielleicht die Tatsache entgangen, dass sie auch einmal eine Himmelsläuferin gewesen war. »Wir alle haben Angst, ein Schiff in Gefahr zu bringen.«

»Gefahr ist ein natürlicher Bestandteil dieses Lebens.«

»Nur dass Sie sich freiwillig für dieses Leben entschieden haben«, erinnerte Thalias ihn. »Wir Himmelsläuferinnen haben keine solche Wahl.«

Thrawn schwieg einen Moment. »Da haben Sie natürlich recht«, gestand er dann. »Sie dienen dem Wohl der Aszendenz, aber das ändert nichts an der Tatsache.«

»Nein«, murmelte Thalias. »Aber falls es Ihnen dann besser geht: Ich glaube nicht, dass eine von uns unseren Dienst hasst – abgesehen von der Furcht und den Albträumen und alldem. Wir wissen, dass die Aszendenz uns braucht

»Mag sein«, sagte Thrawn.

»Das ist alles?« Sie runzelte die Stirn. »Mag sein?«

»Wir sollten diese Unterhaltung ein andermal fortsetzen. Schauen Sie auf Monitor vier. Sehen Sie es?«

Sie wandte sich der Kontrollkonsole vor ihnen zu.

In der Mitte von Monitor vier wurde eine kleine Wärmequelle angezeigt – auf einer orbitalen Position über dem bewohnten Planeten des Systems.

Und falls die Berechnungen des Computers stimmten, kam diese Wärmequelle direkt auf sie zu.

»Sie haben uns entdeckt«, keuchte Thalias. Ihr Herz schlug bis zum Hals.

»Vielleicht«, sagte Thrawn, noch immer im selben nachdenklichen Tonfall wie zuvor. »Der Zeitfaktor legt die Vermutung jedenfalls nahe, da wir vor dreißig Sekunden die Manövrierdüsen benutzt haben.«

»Es kommt geradewegs hierher«, schnappte sie. Mit einem Mal fühlte sie sich klaustrophobisch in der Beengtheit des kleinen Cockpits. Sie befanden sich in einem Shuttle, nicht an Bord eines Kriegsschiffes; sie hatten keine Waffen, keine Verteidigungssysteme, und sie waren in etwa so wendig wie eine Fenschnecke. »Was sollen wir tun?«

»Das kommt ganz darauf an, wer diese Leute sind und wo sie hinwollen«, erwiderte Thrawn.

Thalias starrte auf den Monitor. »Was meinen Sie? Sie kommen direkt auf uns zu , oder etwa nicht?«

»Vielleicht wollen sie auch zur Springhawk «, gab Thrawn zu bedenken. »Oder es ist eine routinemäßige Überprüfung der Bergbaustation, die nur zufällig gerade jetzt stattfindet. Die Entfernung ist zu groß, um den Zielpunkt dieses Schiffes eindeutig zu bestimmen.«

»Was sollen wir tun?«, wiederholte Thalias ihre Frage. »Können wir rechtzeitig zur Springhawk zurück?«

»Möglicherweise«, antwortete Thrawn. »Die wichtigere Frage lautet im Moment aber: Wollen wir zurück?«

»Ob wir zurückwollen

»Wir kamen her, um herauszufinden, ob die Flüchtlinge aus diesem System stammen«, erinnerte er sie. »Zu diesem Zweck wollte ich die Bergbaustation untersuchen, aber eine direkte Unterhaltung könnte uns schneller die erhofften Informationen verschaffen.«

»Nur wenn sie uns nicht abschießen, sobald sie uns ent­decken.«

»Das könnten sie versuchen, ja«, nickte Thrawn. »Sagen Sie, haben Sie je ein Charric abgefeuert?«

Thalias schluckte hart. »Ich habe ein paarmal auf einem Schießplatz mit einem geübt«, erklärte sie. »Aber immer nur auf der niedrigsten Energieeinstellung.«

»Das Funktionsprinzip ist dasselbe, egal, auf welcher Einstellung.« Thrawn tippte ein paar Tasten an. »Sofern dieses Schiff während der nächsten zwei Stunden nicht beschleunigt, sollten wir die Station zwanzig bis dreißig Minuten vor ihm erreichen.«

»Was, falls es wirklich auf die Springhawk zuhält?«, fragte Thalias. »Sollten wir sie nicht warnen?«

»Ich bin sicher, Mid-Captain Samakro hat das Schiff ebenfalls auf dem Schirm«, versicherte Thrawn ihr. »Und falls die Fremden die Springhawk tatsächlich entdeckt haben sollten – was ich für recht unwahrscheinlich halte –, können wir sie dazu bringen, von diesem Ziel abzulassen und zur Raumstation zu fliegen.«

»Wie denn?«

Thrawn lächelte. »Wir laden sie ein.«

Die Bergbaustation verfügte über mehrere Andockbuchten, welche in Ringen auf der Außenhülle angeordnet waren. An einem dieser Ringe entdeckte Thrawn auch zwei sogenannte Universalbuchten, die für Schiffstypen unterschiedlichster Größe geeignet waren – die Aszendenz nutzte diese Technologie schon seit Jahrhunderten, und diverse Spezies in der Region hatten sie im Lauf der Zeit ebenfalls übernommen. Thrawn dockte an ­einer der beiden Buchten an und wartete, während die Instrumente die Luft der Station auf Toxine und andere Gefahrenstoffe überprüften. Als sie nichts entdeckten, ging er als Erster von Bord.

Thalias hatte erwartet, dass die Station alt und modrig riechen würde oder dass der beißende Geruch verrotteter Lebensmittel – oder, schlimmer noch, verrotteter Leichen – ihre Nase attackieren würde. Doch auch wenn die Luft definitiv einen abgestandenen Beigeschmack hatte, war er doch alles andere als unerträglich. Sie wusste nicht, wann die ehemaligen Besitzer die Station geräumt hatten, aber sie schienen dabei sehr gründlich gewesen zu sein.

»Wir sind am richtigen Ort«, sagte Thrawn leise. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in Nischen und Räume, während sie einen breiten Korridor entlangschritten. »Die Flüchtlinge stammen von hier.«

»Sicher?«, fragte sie.

»Ja«, bestätigte er. »Der Stil ist unverkennbar.«

»Hmm«, machte Thalias. Alles, was Thrawn studiert hatte, hatte sie ebenfalls betrachtet, und ihr war nichts Besonderes aufgefallen. »Was jetzt?«

»Wir gehen zum Kontrollraum«, erklärte Thrawn, wobei er seine Schritte beschleunigte. »Ich möchte die Energieversorgung der Station wieder hochfahren.«

»Und wie sollen wir den Weg dorthin finden?«

Thrawn blickte sie mit gerunzelter Stirn an. »Seit wir den Shuttle verlassen haben, sind wir an zwei Schiffsplänen vorbeigekommen«, sagte er. »Der Kontrollraum war auf beiden eindeutig markiert.«

Thalias schnitt eine Grimasse. Nicht nur ein Schiffsplan, sondern gleich zwei? Na gut, dann hatte sie vielleicht doch nicht ­alles gesehen, was Thrawn gesehen hatte.

Der Kontrollraum befand sich genau dort, wo Thrawn es ­vermutete. Die Konsolen und Instrumente waren in einem fremdartigen Zeichen beschriftet, aber der Aufbau schien einem logischen Muster zu folgen. So brauchten sie nur ein paar Versuche, um die Beleuchtung des Raumes zu aktivieren.

»Schon besser«, sagte Thalias, während sie ihre Taschenlampe einsteckte. »Was jetzt?«

Thrawn legte ein paar weitere Schalter um. »Falls ich die ­Anordnung dieser Instrumente richtig interpretiere, sollten die Positionsleuchten der Station jetzt eingeschaltet sein.«

Thalias starrte ihn an. »Sie …? Aber das Schiff wird uns sehen.«

»Ich sagte doch, dass wir sie einladen würden«, erinnerte er sie. »Das Wichtigste ist, dass wir sie von der Springhawk ablenken – sofern das Versteck des Schiffes ihr ursprüngliches Ziel war.«

»Ich verstehe.« Thalias Hand strich über das Charric an ihrer Seite. »Sie glauben aber doch nicht, dass es zu einem Kampf kommen könnte, oder?«

»Ich hoffe, dass wir ein Gefecht vermeiden können«, sagte Thrawn. »Die größten Andockbuchten befinden sich auf der Backbordseite der Station. Wir werden in der Schleuse dort auf sie warten.« Er ließ den Blick ein letztes Mal durch den Kontrollraum schweifen, dann trat er wieder auf den Korridor hinaus.

Thalias atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen, bevor sie ihm folgte.

Die Schleuse war größer, als Thalias erwartet hatte, auch wenn ein Großteil des Platzes von Kränen, Schwebekarren, herabhängenden Kabeln, Werkzeug- und Ersatzteilregalen eingenommen wurde. Sie und Thrawn waren gerade vor der größten der Andockbuchten in Position gegangen, als auch schon das Zischen entweichender Luft ertönte und die äußere Luke aufglitt. »Da kommen sie«, murmelte Thalias. Thrawn hatte sich vor ihr aufgebaut, sodass sie über seine Schulter spähen musste, um etwas zu sehen. Die männlichen Mitglieder dieser Spezies haben großen Respekt vor ihren Frauen , hatte er gesagt. Falls das stimmte, würde seine schützende Haltung hoffentlich an diese kulturelle Prägung appellieren.

»Ja«, murmelte Thrawn, den Kopf schräg gelegt, als würde er lauschen.

Dann trat er unvermittelt hinter Thalias – sehr zu ihrer Überraschung –, sodass ihre Positionen nun vertauscht waren und sie vor ihm stand.

»Was tun Sie da?«, fragte sie, halb gelähmt von dem Gefühl der Verwundbarkeit. Diese Wesen würden gleich an Bord kommen, und was für Waffen sie auch benutzten …

Die innere Luke klappte auf, und vier Kreaturen kamen in Sicht.

Sie waren von mittlerer Größe mit vorstehenden Brustkörben und Hüften, rosafarbener Haut und einem Federkranz um den Schädel. Genau wie die Leichen, die Thrawn von dem zweiten Flüchtlingsschiff auf die Springhawk gebracht hatte.

Er hatte sie tatsächlich gefunden.

Einen Moment lang starrten die beiden Gruppen sich wortlos an, dann begann einer der Neuankömmlinge zu sprechen. Seine Stimme war rau, seine Worte vollkommen unverständlich.

»Sprechen Sie Minnisiat?«, rief Thrawn in dieser Handelssprache.

Was immer das Wesen daraufhin sagte, es war nicht Minnisiat.

»Sprecht ihr Taarja?«, versuchte Thrawn es erneut, nun in dieser Sprache.

Eine kurze Pause, dann machte eines der anderen Wesen einen Schritt nach vorne. »Ich spreche Taarja«, verkündete es. »Was tut ihr hier?«

»Wir sind Forscher«, erklärte Thrawn. »Mein Name ist Thrawn.« Er stieß Thalias leicht an. »Nennen Sie ihnen Ihren Namen.«

»Ich bin Thalias«, stellte sie sich vor, wobei sie seinem Beispiel folgte und nur ihren Kernnamen benutzte. Aus irgendeinem Grund schien Thrawn ihre vollen Namen geheim halten zu wollen.

Die Augen des Wesens weiteten sich und quollen ein Stück weit aus den Höhlen, während es die beiden Chiss musterte. »Du bist eine Frau?«

»Ja«, sagte Thalias.

Die Kreatur gab ein wieherndes Schnauben von sich. »Du versteckst dich hinter einer Frau, Thrawn?«

»Nein«, erwiderte er. »Ich schütze sie mit meinem Körper vor den Leuten hinter uns.«

Thalias sog den Atem ein. »Das soll ein Witz sein, oder?«

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er den Kopf schüttelte. »Ich habe den Luftzug gespürt, als sie die sekundäre Luke hinter uns passierten.«

Thalias nickte unmerklich. Genauso schnell, wie er vor all den Jahren die feinen Eigenheiten der Tomra in sich aufgesogen hatte, hatte Thrawn auch die Eigenheiten der fremden Station verinnerlicht.

»Wir wollen nicht kämpfen«, erklärte der Außerirdische rasch. »Wir sind nur vorsichtig. Eure Ankunft war unerwartet. Wir waren um unsere Sicherheit besorgt.«

»Und ich entschuldige mich, dass wir euch erschreckt haben«, sagte Thrawn. »Wir dachten, diese Station ist verlassen. Darum kamen wir her.«

Das Wesen schnaubte erneut, kürzer diesmal. »Falls ihr hier ein Zuhause aufbauen wollt, habt ihr schlecht gewählt. Und es ist vielleicht schon zu spät, um diesen Fehler zu korrigieren.«

»Wir wollen uns hier nicht niederlassen«, entgegnete Thrawn. »Wie ich schon sagte, wir sind Forscher. Wir suchen im Chaos nach vergessenen Kunstwerken.«

Das Fleckenmuster um die Augen des Wesens veränderte sich. »Ihr sucht Kunstwerke

»Kunst reflektiert die Seele einer Spezies«, erklärte Thrawn. »Wir wollen dieses Echo im Namen jener bewahren, deren Stimmen verstummt sind.«

Einer der Außerirdischen zischte etwas in seiner Muttersprache. »Er sagt, hier gibt es keine Kunst«, übersetzte der Wortführer der Gruppe.

»Vielleicht ist mehr Kunst in die Konstruktion dieser Station eingegangen, als er denkt«, erwiderte Thrawn. »Aber ich bin verwirrt. Ich sehe keine Spuren einer Katastrophe. Im Gegenteil, die Station sieht vollkommen einsatzfähig aus. Warum habt ihr sie aufgegeben?«

»Wir haben sie nicht aufgegeben.« Die Stimme des Pacc wurde hörbar tiefer. »Wir wurden von denen weggeschickt, die Rapacc und die Paccosh beherrschen wollen.«

»Dann ist Rapacc eure Welt?«, fragte Thrawn. »Und ihr seid die Paccosh?«

»Das ist es, und das sind wir«, bestätigte das Wesen. »Zu­mindest im Moment noch. Bald gibt es die Paccosh vielleicht nicht mehr. Die Zukunft eines jeden Pacc liegt in den Händen der ­Nikardun, und uns graut vor dem, was sie tun werden.«

»Die Nikardun sind also jene, die uns durch euer System gefolgt sind?«, hakte Thrawn nach.

Ein weiteres Wiehern. »Wenn du glaubst, sie sind euch nur gefolgt, bist zu naiv. Sie wollten euch gefangen nehmen oder zerstören.«

Ein Schauder rann über Thalias’ Rücken. Sie konnte sich nicht erinnern, je von einer Spezies mit diesem Namen gehört zu haben, und ihr wurde schmerzlich bewusst, wie weit sie hier von der Aszendenz entfernt waren. Nicht einmal die Expansive Verteidigungsflotte war je in diese Region vorgedrungen.

Und falls die Nikardun sich immer auf diese Weise vorstellten – indem sie den Zugang zu ganzen Systemen blockierten und jeden verfolgten und abschlachteten, der zu fliehen versuchte –, dann würden sie vermutlich so bald keine Freunde der Chiss werden.

»Aber ein wenig Freiheit haben sie euch und eurer Welt wohl gelassen«, sagte sie. Die rauen Worte taten in ihrer Kehle weh. Von all den Handelssprachen, die sie während ihrer Schulzeit gelernt hatte, war Taarja die unangenehmste gewesen, aber die Mitth-Familie bestand nun einmal darauf, dass ihre Meriten-Adoptivlinge alle geläufigen Kommunikationsformen der Region beherrschten. »Immerhin konntet ihr herkommen, um mit uns zu sprechen.«

»Du glaubst, wir sind aus freiem Willen hergekommen?«, fragte der Wortführer, wobei er den Kopf leicht in ihre Richtung neigte. »Du glaubst, wir haben selbst die Waffen unseres Transporters entfernt? Nein. Die Nikardun haben den Bautyp eures Schiffes nicht erkannt. Sie glauben, die passiven Sensoren dieser Station funktionieren vielleicht noch. Wir wurden hergeschickt, um nachzusehen, ob die Instrumente euch erfasst haben, als euer Schiff vorbeiflog.«

»Und, hatten sie recht?«, wollte Thrawn wissen.

»Wegen der Sensoren?« Der Wortführer hielt inne, und sein Blick huschte zwischen den beiden Chiss hin und her. »Warum fragst du? Du willst, dass die Details über euer Schiff geheim bleiben?«

»Manche Leute können den Ursprung eines Schiffes von seinem Aufbau und seinen Flugeigenschaften ableiten«, erwiderte Thrawn. »Der unbekannte Anführer dieser Nikardun könnte so jemand sein.«

»Ihr Anführer ist nicht unbekannt.« Ein Hauch von Abscheu stahl sich in die Stimme des Pacc. »General Yiv der Wohlwollende kam persönlich nach Rapacc, um seine Bedingungen zu stellen und unsere Anführer zu demütigen.«

»Dann muss er wirklich sehr selbstsicher sein«, sagte Thrawn. »Wird er bald wieder zurückkehren?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Pacc. »Aber sicher werden mehr Nikardun kommen, und wenn wir nicht tun, was sie befehlen, werden sie uns bestrafen.«

Und sicher würden die Paccosh auch bestraft werden, falls sie nicht die Fremden gefangen nahmen, die an den Patrouillenschiffen vorbeigerast waren und sich auf ihre Station geschlichen hatten.

»Was werdet ihr mit uns machen?«, fragte Thalias.

Der Wortführer blickte seine Kameraden an, und kurz besprachen sie sich in ihrer Muttersprache.

»Das war gut«, flüsterte Thrawn auf Cheunh, der Sprache der Chiss.

»Was meinen Sie?«

»Es war besser, dass diese Frage von Ihnen kam und nicht von mir«, erklärte er. »Ihre Achtung vor Frauen könnte ihre Entscheidung zu unseren Gunsten beeinflussen.«

»Und falls nicht?«

»Dann bleiben uns nur die Charrics.« Seine Stimme war ruhig, aber entschlossen. »Sie erledigen die Paccosh vor uns, ich übernehme die hinter uns.«

Thalias’ Mund wurde trocken. »Sie meinen, wir sollen sie einfach niederschießen?«

»Wir sind zu zweit«, erinnerte Thrawn sie. »Sie sind zu viert plus eine Gruppe von unbekannter Größe hinter uns. Falls sie beschließen, uns gefangen zu nehmen, ist ein schneller, tödlicher Angriff unsere einzige Möglichkeit.«

Einmal mehr kroch ein eisiger Schauder über Thalias’ Rücken. In ein Feuergefecht verstrickt zu werden, zu schießen und beschossen zu werden … das war eine Furcht erregende Vorstellung. Aber was Thrawn vorschlug, war berechnender, kaltblütiger Mord.

Die Paccosh beendeten ihre Diskussion. »Niemand hat uns gesagt, was wir tun sollen, falls wir auf Eindringlinge treffen«, erklärte der Wortführer. »Wir sind nur hier, um die Sensoren zu überprüfen.« Ein anderes Wesen warf ein paar Worte ein. »Aber wenn die Nikardun erfahren, dass ihr hier seid, werden sie wollen, dass wir euch gefangen nehmen.«

»Vielleicht«, sagte Thrawn. »Die wichtigere Frage ist aber: Was wollen die Paccosh?«

Der Wortführer drehte sich wieder zu seinen Artgenossen um. Thalias hob die Hand zu ihrem Kopf, wie um ihr Haar zurückzustreichen, aber insgeheim hoffte sie, ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Lasst uns gehen, und die Nikardun werden uns nicht entdecken«, fügte Thrawn hinter ihr hinzu.

»Wie kannst du da sicher sein?«

»Sie haben uns nicht bemerkt, als wir die Station anflogen«, erwiderte Thrawn. »Und sie haben keinen Grund, jetzt wach­samer zu sein als zuvor.«

»Sicher haben sie gesehen, wie ihr die Lichter aktiviert habt.«

»Sicher kann man diese Lichter auch aus der Ferne aktivieren«, konterte Thrawn.

Der Wortführer schien darüber nachzudenken, dann legte er den Kopf auf die Seite. »Ja, das können wir.« Er atmete zischend aus. »Der Kommandant hat entschieden. Ihr könnt in Frieden gehen.«

Mit einem erleichterten Seufzer ließ Thalias ebenfalls den Atem entweichen. »Danke«, sagte sie.

»Ihr habe meine Frage von vorhin nicht beantwortet«, drängte Thrawn. »Funktionieren die Sensoren der Station noch?«

Der Wortführer wieherte. »Als die Nikardun uns vor vielen Wochen befahlen, die Station aufzugeben, sagten sie, wir sollen alles abschalten«, antwortete er. »Da das Leben aller Paccosh in ihrer Hand lag, haben wir uns genau an ihre Anweisungen gehalten. Es gibt keine funktionierenden Sensoren.«

»Das ist gut«, nickte Thrawn. »In dem Fall, lebt wohl. Ich hoffe, ihr findet Freiheit und Frieden.« Er berührte Thalias am Arm und deutete zu dem Korridor, der sie zurück zu ihrem Shuttle führen würde.

»Wartet.«

Thalias drehte sich wieder herum. Der Pacc, der zuerst zu ihnen gesprochen hatte – vermutlich der eigentliche Anführer der Gruppe –, kam auf sie zu. Thalias wollte unwillkürlich vor ihm zurückweichen, aber Thrawn hielt sie zurück.

»Das ist Uingali«, erklärte der Wortführer, als der andere Pacc vor den beiden Chiss stehen blieb. »Er möchte euch etwas geben.«

Einen Moment lang stand Uingali reglos, dann hob er die Hände und zog einen Doppelring von seinen Fingern – zwei verwobene Ringe, verbunden durch ein kurzes biegsames Geflecht. Nach einem Augenblick des Zögerns hielt er Thrawn das Schmuckstück hin. »Uingali foar Marocsaa.«

»Der Doppelring ist ein wertvolles Erbstück des Marocsaa-Unterklans«, erklärte der Wortführer leise. »Uingali möchte, dass du ihn deinen anderen Kunstwerken hinzufügst, damit das Echo der Marocsaa nicht verstummt.«

Zum ersten Mal, seit Thalias ihm begegnet war, wirkte Thrawn ehrlich überrascht. Er blickte Uingali an, dann den Ring, dann wieder Uingali, bevor er langsam, vorsichtig die Hand ausstreckte. »Danke«, sagte er. »Ich werde gut darauf aufpassen. Er wird einen Ehrenplatz erhalten.«

Uingali senkte den Kopf zu einer Art Verbeugung, während er den Ring auf Thrawns Handfläche legte. Thalias spürte einen Lufthauch hinter sich, und sie zuckte zusammen, als drei weitere Paccosh – offensichtlich Uingalis Verstärkung – wortlos an ihr vorbeischritten. Sie begleiteten ihren Anführer zum Rest der Gruppe, dann marschierten sie geschlossen an Bord ihres Schiffes, und kaum dass sie außer Sicht verschwunden waren, schloss sich die Luke hinter ihnen.

Thalias blickte auf den Doppelring in Thrawns Hand hinab. Er bestand aus einem silbrigen Metall mit einer welligen Gravur an der Innenseite. Auf der Außenseite wand sich etwas, was wie eine Gruppe kleiner Schlangen aussah, nach oben, und zwei größere Schlangen zierten das Verbindungsstück, ihre Leiber einmal überkreuzt, ihre aufgerissenen Mäuler herausfordernd nach außen gerichtet.

Sie studierte noch immer den Ring, als plötzlich die Lichter der Station ausgingen. »Was …? Oh«, schob sie verspätet nach. »Ferngesteuerte Systeme.«

»Uingali will offenbar, dass die Illusion glaubhaft wirkt«, bemerkte Thrawn, nachdem er seine Taschenlampe angeknipst hatte. »Kommen Sie.«

Er ging in Richtung Korridor los.

»Wir fliegen schon zurück?«, fragte Thalias, während sie versuchte, mit seinen Schritten mitzuhalten.

»Wir haben alle Beweise, die General Ba’kif braucht«, er­widerte Thrawn. »Die ermordeten Flüchtlinge waren Paccosh aus dem Rapacc-System, ihre Unterdrücker nennen sich die Nikardun, und ihr Anführer ist General Yiv der Wohlwollende.« Er schien kurz nachzudenken. »Und obendrein kehren wir mit ein paar zusätzlichen Fakten zurück, die General Ba’kif nicht erwartet hat.«

»Zum Beispiel?«

Thrawn schwieg mehrere Schritte lang. »Wir haben die Paccosh gefunden, weil die Flüchtlingsschiffe aus dieser Richtung kamen. Weiterhin vermuten wir, dass die Nikardun den Flüchtlingen gefolgt sind oder auf andere Weise ihre Ankunft in der Aszendenz vorausgeahnt haben und dass sie den Angriff auf Csilla angeordnet haben, um uns abzulenken, während sie die Paccosh eliminierten.«

Thalias nickte. »Es ergibt Sinn.«

»Aber es führt auch zu einer weiteren Frage«, entgegnete Thrawn. »Woher wussten die Nikardun, dass sie ihren Hinterhalt an exakt jener Position legen mussten?«

»Nun …« Thalias hielt inne und dachte nach. »Wir wissen, dass die beiden Paccosh-Schiffe sich in dem Vierlingsstern-System getroffen haben, bevor eines von ihnen in Richtung Aszendenz aufgebrochen ist, richtig? Vielleicht hat ihr Anführer entschieden, dass wir ihre einzige Hoffnung sind, zumal das andere Schiff nicht weiterfliegen konnte. Woher sie von der Aszendenz wussten – und wo sie sich befindet –, das kann ich auch nicht sagen.«

»Viele der Spezies hier draußen wissen von uns, und sie haben zumindest eine grobe Vorstellung davon, wo sich die Aszendenz befindet«, erklärte Thrawn. »Auch wenn ihr Wissen sich eher auf unseren Ruf beschränkt und nicht auf tatsächliche Informationen. Ihnen wird sicher aufgefallen sein, dass die Paccosh uns nicht als Chiss erkannt haben. Aber Sie scheinen den Kernpunkt meiner Frage nicht zu verstehen. Das Flüchtlingsschiff verließ den Hyperraum in den äußeren Systemen. Sie hätten noch mehrere Stunden weiterfliegen müssen, ehe sie mit irgendjemandem Kontakt hätten herstellen können.« Er machte eine Pause. »Gleichzeitig waren sie so weit entfernt, dass keines unserer Patrouillenschiffe hätte eingreifen können, selbst wenn wir das Gemetzel bemerkt hätten.«

Thalias stieß einen gepressten Fluch aus, als sie begriff. »Die Nikardun müssen sie aus dem Hyperraum gezogen haben. Deshalb tauchten sie dort auf. Und deshalb erwarteten die Nikardun sie bereits.« Sie zog die Brauen zusammen. »Sie hatten einen Navigator an Bord, nicht wahr?«

»Ich nehme es an«, erwiderte Thrawn. »Vermutlich einen Fährmann der Leere wie auf dem zweiten Schiff, auch wenn wir seine Leiche nicht gefunden haben – was uns einen weiteren Hinweis gibt.«

Er verfiel in erwartungsvolles Schweigen; offenbar wartete er darauf, dass Thalias seiner Logik folgte. »Die Nikardun haben ihn mitgenommen?«, riet sie.

»Offensichtlich«, sagte Thrawn. »Aber war er tot, oder lebte er noch?«

Sie kaute auf ihrer Lippe herum. Woher sollte sie das wissen?

Warum dirigierte Thrawn sie überhaupt durch dieses Logikrätsel – noch dazu auf diese Weise? Es war wie der Unterricht, zu dem man sie als widerwillige Himmelsläuferin gezwungen hatte, oder der gleiche Unterricht, den sie jetzt der nicht weniger widerwilligen Che’ri aufzwingen musste.

»Die Paccosh an Bord des anderen Schiffes starben viel später als die, die im Territorium der Aszendenz angegriffen wurden«, sagte er, um ihr auf die Sprünge zu helfen.

Und tatsächlich erkannte sie, worauf er hinauswollte. Die zweite Gruppe war nicht ermordet worden wie die erste; sie war erstickt. »Er war tot«, sagte sie. »Hätte er noch gelebt, hätte er den Nikardun erzählt, wo das andere Schiff ist. Sie hätten es gefunden und alle an Bord abgeschlachtet. Stattdessen blieben sie am Leben, bis ihnen die Luft ausging.«

»Ausgezeichnet«, lobte Thrawn. »Wir können außerdem schlussfolgern, dass es die Paccosh waren, nicht die Fährmänner der Leere, die das Vierlingsstern-System als Treffpunkt auswählten.«

»Schön«, murmelte Thalia, die Stirn in Falten gelegt. »Aber wie hilft uns das weiter?«

»Vielleicht gar nicht«, räumte Thrawn ein. »Aber manchmal gewinnen solche Details verspätet an Bedeutung.« Er deutete nach vorne. »In jedem Fall glaube ich, dass wir jetzt alles wissen, was sich hier herausfinden ließ. Zeit, unbemerkt zur Springhawk zurückzukehren und dann hoffentlich ungehindert das System zu verlassen.«

»Die Nikardun werden überaus wachsam sein«, warnte Thalias.

»Definitiv«, sagte Thrawn. »Aber ich könnte mir vorstellen, dass die Nikardun ihre Patrouillenschiffe nach dem Durchflug der Vigilant enger um den Systemkern zusammengezogen haben. Unsere Flucht sollte ohne größere Hindernisse vonstattengehen, ebenso wie das Treffen mit der Vigilant , um unsere Himmelsläuferin wieder an Bord zu nehmen.«

»Und danach? Zurück zur Aszendenz?«

Thrawn blickte auf den Doppelring in seiner Hand hinab. »Nicht sofort«, erwiderte er. »Zuerst werden wir einen der Stützpunkte der Navigatorengilde aufsuchen und einen Navigator anheuern.«

Thalias runzelte die Stirn. »Aber Che’ri wird dann doch bereits wieder an Bord sein.«

»Für den Fall, dass wir sie brauchen«, erklärte Thrawn. »Der Paccosh deutete an, dass schon bald weitere Nikardun-Schiffe in diesem System eintreffen könnten. Bevor es so weit ist, würde ich gerne noch etwas versuchen.«

»Ah«, machte Thalias. Sofern das Regelwerk der Flotte seit ihrer Zeit als Himmelsläuferin nicht geändert worden war, brauchte ein Captain erst die Erlaubnis seiner Vorgesetzten, ehe er Ziel oder Umfang einer Mission verändern durfte.

Aber das ging sie ja nichts an. »Wollen Sie nach einem Fährmann der Leere suchen?«

»Nein.« Thrawn drehte den Ring ein letztes Mal zwischen den Fingern, dann steckte er ihn behutsam in seine Tasche. »Nein, ich glaube, es gibt da jemanden, der für uns viel nützlicher sein kann.«