ERINNERUNG V
»Ein diplomatischer Chiss-Kreuzer ist im Anflug«, rief Pfadfinder-Disponent Prack durch das Stimmengewirr, das den Aufenthaltsraum der Navigatorengilde erfüllte. »Wer will ihn übernehmen?«
Die Unterhaltungen brachen ab, als hätte jemand eine Tür zugeschlagen, und alle versuchten so zu tun, als wären sie überhaupt nicht hier.
Einschließlich Qilori von Uandualon. Er verharrte reglos auf seiner Sitzbank, die Schultern gesenkt, und drehte seine Tasse zwischen den Fingern hin und her. Ausgerechnet wenn er Dienst hatte, mussten die Chiss hier auftauchen. Er war wirklich vom Pech verfolgt.
»Qilori, wo steckst du?«, rief der Disponent. »Komm schon, Qilori, ich weiß, dass du hier bist …«
»Er ist da drüben«, sagte ein Navigator zwei Tische weiter.
Qilori warf ihm einen vernichtenden Blick zu, dann grollte er: »Ja, ich bin hier.«
»Na, dann los«, forderte der Disponent ihn auf. »Nimm deine Sachen, und dann nichts wie runter mit dir. Du darfst auf den heißen Stuhl.«
»M-hm.« Qilori brummte erneut, und seine Wangenlappen legte sich vor Abscheu flach an seinen Schädel, während er aufstand und den Raum durchquerte. Die anderen Pfadfinder wollten ihn verspotten, das wusste er – er hatte selbst schon gejohlt und gelacht, wenn jemand anderes eine undankbare Mission aufgehalst bekam –, aber keiner von ihnen wagte es, solange der Disponent hier war.
Prack teilte Missionen gerne mal in letzter Sekunde einem anderen zu, wenn jemand, den er nicht leiden konnte, Aufmerksamkeit erregte. Und er konnte kaum jemanden leiden. »Wo wollen sie hin?«, fragte Qilori, als er den Disponenten erreichte.
»Bardram Skoft«, antwortete Prack.
»Was haben sie denn da zu suchen?«
»Ich weiß es nicht, und es interessiert mich nicht. Du hast fünfzehn Minuten.« Er bedachte Qilori mit einem schiefen Lächeln. »Viel Spaß.«
Fünfzehn Minuten später schlang Qilori seine Reisetasche über seine Schulter, während die Einstiegsschleuse aufglitt und zwei Blauhäute in schwarzer Uniform daraus hervortraten. »Sind Sie unser Pfadfinder?«, fragte einer von ihnen in der Handelssprache Minnisiat.
Zumindest erwarteten diese Kerle nicht, dass außer ihnen noch jemand Cheunh sprach. »Ja.« Qilori deutete auf seine Rangschärpe. »Ich bin Qilori von Uandualon, ein Klasse-fünf…«
»Sehr gut«, sagte die Blauhaut. »Kommen Sie. Wir haben es eilig.«
Die beiden wandten sich um und verschwanden wieder durch die Luke. Qilori verfluchte im Stillen Prack, während er den Blauhäuten folgte.
Niemand hier draußen konnte die Chiss leiden. Zumindest niemand, den Qilori während all seiner Jahre als Navigator getroffen hatte.
Es lag nicht nur daran, dass sie sich für etwas Besseres hielten; schließlich waren die meisten Spezies in diesem Irrglauben gefangen. Nein, die Sache mit den Chiss war folgende: Sie schienen nicht mal zu glauben, dass es hier draußen irgendjemanden gab, dem sie sich überlegen fühlen könnten – als wären alle anderen Spezies im Chaos nur besonders schlaue Tiere, die die Aufmerksamkeit der Aszendenz nicht wert waren.
Sie suchten kaum Kontakt. Sie ignorierten ihre Nachbarn. Sie interessierten sich nur für sich selbst.
Die Brücke sah genauso aus wie auf allen anderen Handelsschiffen und diplomatischen Kreuzern der Chiss, die Qilori je begleitet hatte: klein, effizient, mit Konsolen für Steuer, Navigation, Verteidigung und Kommunikation. Der Captain saß auf einem Sessel hinter den Steuer- und Navkonsolen, und alle Stationen wurden von Chiss-Offizieren bemannt – mit Ausnahme der Navigationskonsole.
Der Platz war für Qilori reserviert.
»Pfadfinder«, sagte der Captain, wobei er zum Gruß den Kopf neigte. »Wir starten, sobald Sie Ihren Platz eingenommen haben.«
Qiloris Wangenlappen legten sich flach an, während er Platz nahm und die Finger über den Kontrollen spreizte.
Also gut. Dann mal los.
Es war eine unspektakuläre Reise. Auf Befehl des Captains hin stülpte sich Qilori das Headset über, das ihn von äußeren Sinneseindrücken abschirmte, dann versank er in Trance und lauschte dem Gewisper der Großen Präsenz, die überall um ihn und in ihm war.
Wie so oft war die Große Präsenz überaus geizig mit ihrem Wissen und ihren Einsichten, weswegen sich die Reise weiter in die Länge zog, als Qilori lieb war. Zum Glück war der Raum in diesem Teil des Chaos relativ ruhig mit nur ein paar der Anomalien, deretwegen Schiffe auf langen interstellaren Reisen überhaupt Navigatoren wie die Pfadfinder anheuerten. Letztlich erreichten sie Bardram Skoft ein paar Minuten vor dem vom Captain gesetzten Zeitlimit – aber immer noch etliche Stunden schneller als mit Mikrosprüngen. Alles in allem, überlegte Qilori, während er sein Headset abnahm, hatte er sich seine Bezahlung mehr als verdient.
Er blinzelte die Lichtpunkte fort, die ihn nach jeder Trance heimsuchten, und schüttelte die Steifheit aus seinen Handgelenken. Vor ihm füllte der Planet das Aussichtsfenster, während das Schiff in einen Orbit sank. Die Brücke hatte sich größtenteils geleert, nur Qilori und der Steuermann waren noch hier. »Wo sind alle hin?«, fragte er.
»Sie bereiten den Botschafter für die Begrüßungszeremonie vor«, erklärte der Chiss. »Die skoftische Kultur verlangt, dass die höchstrangigen Militäroffiziere den Botschafter begleiten müssen, und es gibt vielleicht noch einige andere Protokolle, die beachtet werden wollen.«
»Vielleicht?« , echote Qilori. Er zog die Brauen zusammen und starrte durch das Aussichtsfenster. Es war eine ganze Menge anderer Schiffe da draußen – mehr als er je bei einer abgelegenen Welt wie dieser gesehen hatte. »Rühmt ihr Chiss euch nicht damit, immer schon im Voraus auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein?«
»Normalerweise ist das auch der Fall«, erwiderte der Steuermann. »Aber die skoftische Regierung hat vor Kurzem gewechselt und mit ihr die Protokolle. Unser Botschafter muss sie erst neu lernen.«
»Ah.« So war das also. Es hatte einen Regimewechsel gegeben, und nun schickte die ganze Nachbarschaft ihre Botschafter, um den neuen Machthabern viel Glück zu wünschen und sie einzuschätzen. »Ich wusste gar nicht, dass der alte Präfekt zurückgetreten ist.«
»Er wurde ermordet«, klärte der Steuermann ihn auf. »Was ist das für ein Schiff?«
»Was?« Qilori blies überrascht die Wangenlappen auf. Ermordet? »Und niemand hat ein Problem damit?«
»Unter den Skofti kommt so etwas häufiger vor«, sagte der Steuermann ruhig. »Dieses Schiff. Von welchem Planeten stammt es?«
Qilori kniff die Augen zusammen, noch immer fassungslos, wie beiläufig die Blauhäute einen Mord abtaten. »Ich glaube, das ist ein lioaoischer Kreuzer.«
»Ein neuer Bautyp?«
»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?«
»Sie sind ein Navigator«, entgegnete der Chiss. »Sie sehen viele Schiffe von vielen Planeten.«
»Ja, aber meistens nur von innen«, erklärte Qilori mit gefurchter Stirn. »Warum dieses plötzliche Interesse?«
»Dieser Kreuzer teilt mehrere Eigenschaften mit den Schiffen einer Piratenbande, die am Rand der Chiss-Aszendenz Frachter überfällt.«
»Wirklich?«, fragte Qilori, und er tat sein Bestes, verwirrt zu klingen. In den diversen Navigatorengruppen machten schon seit Längerem Gerüchte die Runde, wonach sich das Lioaoi-Regime der Piraterie zugewandt hatte, um seine schwächelnde Wirtschaft zu stützen. Die meisten dieser Geschichten stammten von den Fährmännern der Leere, die die meisten Aufträge in jener Region übernahmen, aber Qilori hatte auch schon gehört, wie seine Brüder von den Pfadfindern darüber munkelten.
Natürlich konnte er das dem Piloten nicht verraten. Die Regeln der Navigatorengilde waren in diesem Punkt eindeutig: Vertraulichkeit und Neutralität mussten gewahrt bleiben. »Klingt ziemlich unwahrscheinlich.«
»Sie halten es für unwahrscheinlich, dass eine Piratengruppe ihre Schiffe von einem lokalen Hersteller kauft?«
»Oh«, machte Qilori erleichtert. Der Chiss hatte also gar nicht in Erwägung gezogen, dass die Lioaoi direkt mit den Piraten zu tun haben könnten. »Jetzt versteh ich, was Sie meinen. Das könnte durchaus sein.«
»Ja«, sagte der Steuermann. »Waren Sie je im Territorium der Lioaoi?«
»Ein- oder zweimal, ja.«
»Kennen Sie den Weg dorthin noch?«
»Von der Chiss-Aszendenz aus? Natürlich. Ich bin ein Navigator, schon vergessen? Ich kenne den Weg zu jedem System hier draußen.«
»Fürs Erste reicht der Weg zum Lioaoi-Regime«, erwiderte der Chiss. »Was wäre, wenn ich dieses System aus einer anderen Richtung anfliegen wollte, nicht von der Aszendenz aus, sondern … sagen wir, von Bardram Skoft aus?«
»Wollen Sie denn dorthin?«
Einen Moment lang blickte der Steuermann aus dem Fenster. »Noch nicht«, antwortete er dann in nachdenklichem Tonfall. »Aber vielleicht später. Wie heißen Sie?«
»Qilori von Uandualon«, erklärte Qilori mit zusammengezogenen Brauen. Was sollten diese Fragen? Worauf wollte die Blauhaut hinaus?
»Kann man Sie immer in der Navigatorenstation antreffen, in der wir Sie angeheuert haben?«
»Ich ziehe von einer Station zur anderen«, erklärte Qilori. »Das machen die meisten so. Aber Station Vier-Vier-Sieben ist meine offizielle Basisstation, ja.«
»Gut«, nickte der Chiss. »Vielleicht werden wir Ihre Dienste in Zukunft wieder benötigen.«
»Ich freu mich schon drauf«, brummte Qilori. Er studierte das Gesicht des Chiss. Die wenigsten Blauhäute machten sich die Mühe, nach seinem Namen zu fragen, geschweige denn danach, wo er zu finden war. Und die Zahl derer, die sich mit fremden Schiffstypen auskannten, war sogar noch geringer.
Wer war dieser Kerl?
»Und Ihr Name?«, fragte er. »Für den Fall, dass Sie nach mir suchen.«
»Junior-Commander Thrawn«, stellte sich der Chiss vor. »Und ja, ich werde definitiv auf Sie zurückkommen.«