ERINNERUNG VI

General Ba’kif las den Bericht durch, dann blickte er von seinem Questis auf. »Sie meinen es wohl ernst, Junior-Commander«, sagte er tonlos.

»Sehr ernst sogar, General«, bestätigte Junior-Commander Thrawn. »Ich bin überzeugt, dass die Regierung der Lioaoi mit den Piraten zu tun hat, die während der letzten beiden Monate unsere Schiffe zwischen Schesa und Pesfavri überfallen haben.«

»Und Sie glauben, dieser Pfadfinder weiß davon?«

»Qilori«, sagte Thrawn. »Und ja. Er weiß davon, oder zumindest hat er einen Verdacht.«

»Es wäre schwer, so ein Geheimnis vor der Navigatorengilde geheim zu halten«, musste Ba’kif einräumen, während er erneut die Daten überflog. Wenn man kriminelle Absichten verfolgte, wären Mikrosprünge der sicherste Weg, sich vom Territorium der Lioaoi zu den betroffenen Aszendenz-Welten vorzuarbeiten – so musste man nämlich keine Außenstehenden involvieren, die alles ausplappern konnten. Aber eine solche Reise würde mindestens drei Wochen dauern, und zwar jedes Mal. Unter diesen Umständen wäre es nicht ausgeschlossen, dass die Piraten sich für Geschwindigkeit und Effizienz entschieden und auf die Verschwiegenheit der Gilde vertrauten, um ihr Geheimnis zu schützen. »Sind Sie sicher, dass es die gleichen Schiffe sind?«

»Der Bautyp weist genügend Unterschiede auf, um keinen direkten Verdacht zu erregen«, erwiderte Thrawn. »Aber es gibt einige nennenswerte Ähnlichkeiten, die über das rein Funktionale hinausgehen.«

Ba’kif nickte. Er hatte sich mehrmals mit Mid-Captain Ziara über Thrawns Theorien zu Kunst und Strategie unterhalten, und sie hatten zähneknirschend eingestehen müssen, dass keiner von ihnen die nötigen Kenntnisse und das nötige Genie – oder den nötigen Wahnsinn – besaß, um die Zusammenhänge herzustellen, die sich Thrawn wie von selbst offenbarten.

Aber nur, weil sie es nicht nachvollziehen konnten, hieß das nicht, dass er falschlag. »Nehmen wir mal an, Sie haben recht«, brummte Ba’kif, »und dass Sie es irgendwie beweisen können. Was dann?«

Thrawn legte die Stirn in Falten. »Sie haben Schiffe der Aszendenz angegriffen«, erklärte er, als würde er eine verborgene Falle in Ba’kifs Worten vermuten. »Wir bestrafen sie dafür.«

»Und falls die Lioaoi selbst gar nicht involviert sind?«, gab der General zu bedenken. »Was, falls die Piraten lediglich deren Schiffe gekauft oder gestohlen haben?«

»Ich hatte nicht vorgeschlagen, das Lioaoi-Regime oder seine Welten anzugreifen«, entgegnete Thrawn. »Lediglich die Piraten.«

»Sofern wir sie von den Unschuldigen unterscheiden können«, warnte Ba’kif. »Wir haben nur wenige Daten über den zeitgenössischen Schiffsbaustil der Lioaoi. Und wäre es nicht sogar möglich, dass beide – sie und die Piraten – ihre Schiffe nur von derselben Quelle beziehen?«

»Ich verstehe Ihre Bedenken«, sagte Thrawn. »Aber ich glaube, ich kann zwischen feindlichen und befreundeten Schiffen unterscheiden.«

»Neutral, nicht befreundet«, korrigierte Ba’kif säuerlich. »Es hat die Aszendenz schon große Überwindung gekostet, die Existenz anderer Spezies überhaupt zu akzeptieren. Es wird noch Jahre dauern, bis wir freundschaftliche Beziehungen mit irgendjemandem da draußen haben.«

»Dann eben feindliche und neutrale Schiffe«, sagte Thrawn. »Und falls ich keine eindeutige Unterscheidung machen kann, werde ich auch nichts unternehmen.«

Ba’kif musterte ihn einen langen Moment. Der Mann war schlau, und seine strategischen und taktischen Fähigkeiten ließen sich nicht leugnen.

Die Frage war nur: Hatte er vielleicht ein wenig zu viel Selbstbewusstsein? Sollte er übermütig werden, könnte ihm das eines Tages das Genick brechen. Womöglich sogar schon bei der Mission, die er gerade vorschlug.

Andererseits waren die Piraten nicht länger nur ein kleines Ärgernis. Sie mussten ausgeschaltet werden, bevor irgendjemand dort draußen den Eindruck gewann, dass man die Aszendenz überfallen konnte, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Falls Thrawn glaubte, dass er einen Weg gefunden hatte, um ihrer Herr zu werden, dann konnte Ba’kif das nicht ignorieren. »Na schön, Junior-Commander«, sagte er. »Wie viele Schiffe werden Sie brauchen?«

»Nur zwei, Sir.« Thrawn überlegte. »Das heißt, nein, es wäre besser, wenn ich drei hätte.«

Die Große Präsenz verblasste, und Qilori nahm sein Headset ab, um auf die Hauptwelt des Lioaoi-Regimes unter ihnen hinabzublicken. Sie war grün und blau und weiß, umringt von einem Schwarm von Frachtern, Botenschiffen, Andock- und Reparaturstationen und wachsamen Militärpatrouillen.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Thrawn sich vorbeugte. »Und?«, fragte Qilori vorsichtig.

Ein paar Sekunden schwieg Thrawn, dann nickte er. »Ja. Das sind die Schiffe.«

Qiloris Schultern verkrampften sich, und seine Wangenlappen blähten sich auf. »Sind Sie da auch wirklich sicher?«

»Absolut sicher«, antwortete Thrawn. »Der Aufbau der Patrouillenschiffe weist genug Ähnlichkeit mit den Piratenschiffen auf, um jeden Zweifel auszuräumen.«

»Ich verstehe«, murmelte Qilori. Nicht dass er selbst ­irgendwelche Ähnlichkeiten feststellen konnte; für ihn hatten diese Schiffe so gut wie nichts mit denen der lioaoischen Korsaren gemein.

Doch seine Einschätzung zählte hier nicht. Thrawn war überzeugt von seiner Theorie; falls er der Aszendenz Bericht erstattete, würde sie höchstwahrscheinlich gewaltsam Vergeltung üben. Und wer konnte sagen, wie viele Pfadfinder dabei ins Kreuzfeuer geraten würden?

Es sei denn, Thrawn bekam keine Gelegenheit, irgendjemanden zu informieren. Ihr Frachter befand sich bereits zu tief im Gravitationsfeld des Planeten, um seinen Hyperantrieb einsetzen zu können, und ihr gegenwärtiger Kurs führte sie sogar noch weiter hinein. Thrawn müsste jetzt gleich den Kurs wechseln und zurück in Richtung freier Raum fliegen, dann könnte er vielleicht noch entkommen, bevor die Lioaoi sich fragten, warum ein Chiss-Frachter so plötzlich seinen Anflug abbrach.

Aber Qilori bezweifelte, dass Thrawn klug genug war, um die Beine in die Hand zu nehmen und zu verschwinden.

Und einmal mehr hatte er recht.

»Ich will mich genauer umsehen«, sagte Thrawn, während er die Steuerkontrollen übernahm und sie tiefer in das Gravitationsfeld hineinsteuerte, auf zwei Patrouillenschiffe zu, die in der Nähe einer Reparaturplattform schwebten. »Ich vermute, das Schiff auf der Plattform war an dem jüngsten Angriff im Massoss-System beteiligt.«

»Das ist eine ganz schlechte Idee«, warnte Qilori ihn, die Wangenlappen fest an die Seiten seines Gesichts gepresst. »Falls das Lioaoi-Regime gemeinsame Sache mit den Piraten macht, ist das hier ein riesiges Wespennest, in dem Sie besser nicht herumstochern sollten.«

»Soll das heißen, Sie glauben, dass das Regime involviert ist?«, fragte Thrawn kühl, wobei er seine glühenden Augen auf den Navigator richtete.

Qilori erwiderte den Blick und verfluchte sich dafür, dass er überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Die erste Lektion, die man lernte, wenn man sich der Navigatorengilde anschloss, lautete: Sprich niemals mit einem Kunden über einen anderen Kunden. Egal, ob barbarisches Verbrechen, unschuldiger Frachtflug oder militärische Übung – alles musste absolut vertraulich behandelt werden.

Aber in diesem Moment war ein Verstoß gegen das Protokoll das kleinste von Qiloris Problemen. Als er nach ihrer Ankunft aus der Trance aufgetaucht war, hatte er durch die Große Präsenz gespürt, dass noch weitere Pfadfinder in der Nähe waren. Falls sie sich an Bord von Korsarenschiffen befanden – und falls diese Schiffe einsatzbereit waren –, dann könnten sie Qilori mühelos durch den Hyperraum folgen, ganz gleich, mit wie vielen Finten und Kurswechseln Thrawn es auch versuchte.

Ja, sie würden die lästigen Chiss verfolgen und vernichten, und keiner von ihnen würde Rücksicht darauf nehmen, dass sich auch ein unschuldiger Pfadfinder an Bord befand.

»Keine Ahnung, ob das Regime involviert ist«, sagte er. »Aber glauben Sie mir, dieser Ort ist nicht sicher für uns.«

Doch Thrawn hörte schon nicht mehr hin. Stattdessen starrte er aus zusammengekniffenen glühenden Augen zu den Schiffen und der Reparaturplattform hinüber.

»Das ist mein Ernst«, versuchte Qilori es noch einmal. »Falls diese Kerle vermuten, dass Sie auf Piratenjagd sind …«

»Sie glauben, sie vermuten es nur?«, fragte Thrawn. Er legte den Kopf schräg. »Dann sollten wir alle Zweifel ausräumen.« Er aktivierte das Komm …

Und dann schien es plötzlich, als hätte der Chiss den Verstand verloren. »Achtung!«, rief er. »Ich habe die Piraten entdeckt. Ich wiederhole: Ich habe die Piraten entdeckt. Sehen wir zu, dass wir von hier fortkommen, damit wir Meldung machen können!«

Qilori keuchte. Was bei …? »Thrawn?!«

Thrawn schaltete das Komm ab. »So«, sagte er, und seine Stimme und seine Miene waren mit einem Mal wieder so ruhig und kühl wie zuvor. »Jetzt haben die Lioaoi Gewissheit.«

»Was bei den Tiefen haben Sie getan?«, krächzte Qilori. »Sie haben gerade unser Todesurteil unterzeichnet. Sie werden uns verfolgen und …«

»Da gehen sie hin«, sagte Thrawn, wobei er auf das Hauptdisplay deutete.

Qilori blickte gerade rechtzeitig zu dem Schirm hoch, um zu sehen, wie ein Schiff mit einem Flackern im Hyperraum verschwand. »Das war mein zweites Schiff«, kommentierte Thrawn. »Einer Ihrer Kollegen ist an Bord, um es zurück zur Aszendenz zu führen.« Er leitete eine Wende ein, und ihr Frachter neigte sich anmutig von dem Planeten fort. »Und jetzt sind wir an der Reihe.«

»Beeilen Sie sich besser«, murmelte Qilori. Er sank auf seinem Sessel zusammen, während Thrawn die Triebwerke auf volle Leistung hochfuhr. Die Patrouillenschiffe waren bereits in Bewegung, und als Qilori zu den Andockbuchten im äußeren Orbit hochblickte, sah er drei Korsarenschiffe mit glühendem Düsenschweif herbeirasen. Sie schienen fest entschlossen, Thrawn den Fluchtweg in den Hyperraum abzuschneiden.

Entweder hatte Thrawn sie ebenfalls gesehen, oder er hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet. In jedem Fall lenkte er den Frachter auf einen Vektor, der ihn geradewegs an der potenziellen Falle vorbeitragen würde.

Nicht dass es ihm viel bringen würde. Falls die Korsaren Pfadfinder an Bord hatten, würden sie Thrawn ins Chiss-Territorium folgen, ganz gleich, was er tat oder versuchte. Sie würden ihn erwischen, ebenso wie das andere Schiff, das bereits davongeflogen war, und danach würden die Lioaoi in aller Ruhe ihre Angriffe und Überfälle in der Region fortsetzen.

Falls Qilori Glück hatte, würden die Korsaren ihn und den anderen Pfadfinder von Bord holen, bevor sie die Schiffe vernichteten. Aber er bezweifelte es.

»Kinoss«, sagte Thrawn. »Das ist das nächstgelegene System, und es sollte dort schnelle Kurierschiffe geben, die unsere Nachricht nach Csilla und Naporar bringen können.«

»Wie Sie meinen«, brummte Qilori, wobei er die Hände auf die Kontrollen legte. Vielleicht könnte eines der Chiss-Schiffe zumindest eine Nachricht absetzen, bevor die Korsaren sämtliche Übertragungen blockierten und sie in tausend Stücke sprengten.

Doch auch das bezweifelte er.

Es war die anstrengendste Trance, die Qilori je erlebt hatte. Nicht nur, dass er ein Netz von dunklen, verwirrenden Bildern durchdringen musste, um den richtigen Pfad zu finden, nein, diesmal wurde er auch noch von Visionen ihrer Verfolger und deren Pfadfinder heimgesucht. Mehrmals kam er beinahe vom Weg ab, und zweimal musste er sogar in den Normalraum zurückkehren, um von Neuem eine Verbindung zur Großen Präsenz aufzubauen.

Thrawn enthielt sich während dieser Flugunterbrechungen jeglichen Kommentars. Vermutlich träumte er von dem Ruhm, der ihm sicher wäre, falls er die Piratenbedrohung neutralisierte; vielleicht glaubte er auch, Qilori würde diese Pausen absichtlich einlegen, um den Feind zu verwirren.

Der andere Chiss-Frachter war bereits dort, als sie schließlich das Kinoss-System erreichten. Es hielt auf den Planeten zu, und Qilori konnte das Flackern seiner Düsen sehen, während er sich vollends aus der Trance löste. Was er ebenfalls sah, war, dass Thrawn die Kontrollen übernommen hatte und sich anschickte, dem Frachter zu folgen.

Sinnlos. Noch bevor die Triebwerksdüsen bei voller Leistung waren, tauchten auf dem Heckdisplay vier lioaoische Korsarenschiffe auf.

»Ah«, sagte Thrawn, nach wie vor mit unerträglicher Ruhe. »Unsere Gäste sind eingetroffen.«

»Was für eine Überraschung«, murmelte Qilori.

»Wohl kaum.« Thrawn deutete auf den Schirm. »Ihr letzter Angriff hat klargemacht, dass sie Pfadfinder an Bord haben. Darum wollte ich die Hauptwelt der Lioaoi unbedingt erreichen, bevor diese Navigatoren zu ihren Stationen zurückkehren können.«

»Heißt das … Sie wollten , dass sie uns verfolgen?«

»Natürlich«, erwiderte Thrawn, als wäre das völlig offensichtlich. »Hätten sie reguläre Navigatoren, hätten wir ihren Ankunftspunkt nicht genau bestimmen können – sofern sie uns überhaupt gefolgt wären. Aber bei den Pfadfindern konnte ich sicher sein, dass sie genau an denselben Koordinaten aus dem Hyperraum springen würden wie wir. Genau dorthin, wo wir sie haben wollen.«

»Wo wir sie haben wollen? Direkt hinter uns?«, schnappte Qilori, dann blickte er erneut auf das Heck-Display.

Einen Moment später versteiften sich seine Wangenlappen. Wo gerade noch vier Schiffe gewesen waren, zählte er plötzlich fünf. Die vier lioaoischen Korsaren, die er bereits gesehen hatte … und ein Chiss-Kreuzer.

»Mid-Captain Ziara, hier spricht Junior-Commander Thrawn«, sagte Thrawn ins Komm. »Ihre Ziele warten bereits auf Sie.«

»In der Tat, Commander«, antwortete eine weiche weibliche Stimme. »Halten Sie Ihren gegenwärtigen Kurs bei. So sollten Sie ihre Zerstörung unbehindert beobachten können.«