10

Die Tür von Admiral Ar’alanis Büro glitt auf. Thalias hatte noch immer keine Ahnung, warum man sie so plötzlich hergerufen hatte, aber sie straffte die Schultern und trat ein. »Sie wollten mich sprechen, Senior-Captain?«

»Ja«, nickte Thrawn. »Kommen Sie. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Thalias machte einen weiteren Schritt nach vorne, und die Tür glitt mit einem Zischen hinter ihr zu. Angesichts von Thrawns Ruf, ein Kunstkenner zu sein, hatte sie erwartet, Hologramme garwianischer Skulpturen und Gemälde vorzufinden. Zu ihrer Überraschung fand sie sich stattdessen inmitten einer dreidimensionalen Karte wieder, angefüllt mit Sternen und Sternrouten.

»Hier ist die Aszendenz«, sagte er, den Finger auf einen vertrauten Sternhaufen nahe der Kartenmitte gerichtet. »Hier ist das Lioaoi-Regime« – er deutete auf eine deutlich kleinere Ansammlung von Sternen nördlich der Aszendenz –, »hier ist Rapacc« – sein Finger wanderte zu einem Punkt im östlichen Teil des Hologramms –, »das da ist Urch« – und dann noch ein Stückchen weiter nach Südosten –, »und dort haben wir die Welten der Paataatu.« Zu guter Letzt verharrte sein Finger auf einem Punkt an der südöstlichen Grenze der Aszendenz. »Fällt Ihnen irgendetwas auf?«

»Die ersten drei befinden sich nördlich von uns«, sagte Thalias, nicht sicher, warum er die Paataatu erwähnt hatte. Sie waren weit von allen anderen genannten Spezies entfernt, und außerdem hatte die Aszendenz sich bereits um sie gekümmert.

»Richtig«, erwiderte er. »Drei unterschiedliche Gesellschaften, die von den Nikardun belagert oder unterworfen wurden, und alle drei am Rand der Aszendenz gelegen.«

Thalias zog die Nase kraus. So nahe waren sie gar nicht. Jedenfalls nicht nahe genug, um eine Gefahr darzustellen.

»Zugegeben, bislang haben sich die Nikardun auf ihrem Eroberungszug nicht direkt bis an unsere Grenzen herangewagt«, sagte Thrawn, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Aber das Muster ist besorgniserregend. Falls Yiv gegen die Aszendenz vorgehen will, ist dies der perfekte Weg, um die Bühne für einen Angriff vorzubereiten.«

»Na schön«, erwiderte Thalias zögerlich. »Aber sollte er uns angreifen, können wir ihn doch genauso zurückschlagen wie die Paataatu.«

»Interessant, dass Sie die Paataatu erwähnen. Wenn man ihre Kunst und ihre gesamte Kultur betrachtet, hätte die Niederlage, die Admiral Ar’alani ihnen beigebracht hat, eigentlich jeden Widerstand gegen uns brechen sollen, zumindest für den Rest dieser Generation. Aber die Berichte von Naporar deuten darauf hin, dass sie wieder aufrüsten, möglicherweise für einen weiteren Angriff. Das führt mich zu dem Schluss, dass sie ebenfalls unter dem Einfluss von Yiv stehen.«

Thalias betrachtete erneut die Karte. Falls das stimmte, arbeiteten sich die Nikardun nicht einfach System für System durch das Chaos vor. Sollten sie tatsächlich die Paataatu unterworfen haben, könnte das bedeuten, dass sie die Aszendenz bewusst einkreisten. Es war, als würde Yiv das gesamte Chaos gegen sie mobilisieren. »Was können wir tun?«

»Wie ich dem Admiral schon sagte, wir brauchen mehr Informationen«, erklärte Thrawn. »Ich habe die Karte während der letzten Stunde genau studiert, und ich sehe vier weitere Spezies, deren gegenwärtiger Status für mehr Klarheit sorgen sollte. Ich hoffe, dass sich die Garwia bereit erklären, mich unter falschem Vorwand zu einer dieser Spezies zu bringen.«

»Das klingt … sehr gefährlich.«

»Mag sein«, erwiderte Thrawn. »Aber das Risiko ist überschaubar. Die Garwia … Sagen wir einfach, sie schulden mir einen Gefallen.«

Thalias verzog das Gesicht. Sie hatte ein paar Geschichten ­gehört, und sie gehörten nicht gerade zu den strahlendsten ­Momenten der Aszendenz. »Weiß der Admiral von Ihrem Plan?«

»Ja.« Thrawn lächelte schmal. »Ihre Reaktion war nicht sonderlich enthusiastisch, aber sie ist bereit, meinem Plan eine Chance zu geben.«

Mit anderen Worten, Ar’alani war bereit, ihren Kopf neben Thrawns in die Schlinge zu stecken. »Ich verstehe. Und was wollen Sie von mir? Deswegen bin ich doch hier, oder?«

»Sehr scharfsinnig«, lobte Thrawn. »Ja, ich möchte, dass Sie mich auf dieser Expedition begleiten.«

Thalias hatte bereits erwartet, dass ihre Unterhaltung auf so etwas hinauslaufen würde. Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrer Abmachung mit Syndic Thurfian. »Ich soll als zweites Paar Augen fungieren, nehme ich an?«

»Ja.« Er machte eine Pause. »Und als meine Familiengei­sel.«

Thalias Augen weiteten sich. »Als Ihre … was

»Meine Familiengeisel«, wiederholte Thrawn.

»Was soll das überhaupt sein?«

Er schürzte die Lippen. »Manchmal werden die Rivalitäten zwischen Chiss-Familien zu aggressiv. Dann tauschen sie Geiseln aus, um eine Eskalation zu verhindern. Ein Mitglied der ­einen Familie wird zu einem Meriten-Adoptivling der anderen und umgekehrt. Dabei werden sie in der Regel einem Familienmitglied als Diener unterstellt. Und sollten doch offene Feind­seligkeiten zwischen den Familien ausbrechen, werden diese Geiseln hingerichtet.«

Thalias starrte ihn an. »Ich habe noch nie von so etwas gehört.«

»Natürlich nicht.« Thrawn lächelte erneut. »Weil ich es gerade erfunden habe.«

Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

»Es ist ganz einfach«, sagte Thrawn leise. »Ich bin sicher, die Nikardun sind bestens mit der Kultur der Aszendenz und der Chiss vertraut. Um einen Feind zu besiegen, muss man ihn erst kennen, und Yiv der Wohlwollende ist offensichtlich ein erfahrener Eroberer.« Er hielt inne, einen erwartungsvollen Ausdruck im Gesicht.

Thalias schnitt eine Grimasse. Er spielte schon wieder den Lehrmeister, genau wie auf der Bergbaustation der Paccosh, und jetzt sollte sie ihm die richtige Antwort geben.

Zum Glück war die Lösung diesmal offensichtlich. »Falls sie plötzlich erkennen, dass sie doch nicht so viel über uns wissen – dass ihnen etwas Wichtiges entgangen ist –, dann könnte sie das dazu bringen, ihre gesamte Strategie zu überdenken.«

»Exakt«, bestätigte Thrawn. »Im besten Fall wird Yiv seine aktuellen Pläne aufgeben, und selbst im schlechtesten Fall sollte es uns mehr Zeit verschaffen.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Die Frage ist, sind Sie bereit, diese Rolle zu spielen?«

Die offensichtliche Antwort – ja – stieg in Thalias’ Kehle hoch. Aber noch während sie den Mund öffnete, um das Wort aus­zusprechen, erkannte sie, dass das Ganze nicht so einfach war.

Sie hatte keine Ahnung, wie eine Geisel sprach oder dachte. Vermutlich gäbe es da eine gewisse Zurückhaltung, ein unterschwelliges, aber allgegenwärtiges Gefühl der Furcht, vielleicht auch der Wunsch, die Person zufriedenzustellen, die ihr Leben in der Hand hatte. Könnte sie diese Rolle auf glaubhafte Weise spielen?

Und das war nicht alles: Falls sie mit Thrawn ging, würde Che’ri allein an Bord der Vigilant zurückbleiben. Sie bezweifelte nicht, dass das Mädchen die Reise zurück zur Aszendenz auch ohne ihre Hilfe absolvieren könnte; außerdem könnte Ar’alani sicher einen Offizier abstellen, der sich in Thalias’ Abwesenheit um Che’ri kümmerte. Aber …

Che’ri hatte während ihrer Zeit bei der Flotte schon so viele ­Hüterinnen verloren. Würde sie glauben, dass Thalias sie ebenfalls im Stich ließ, auch wenn sie zu einer wichtigen, einer notwendigen Mission aufbrach? Sie könnte versuchen, dem Mädchen die Situation zu erklären, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, dass Che’ri sie auch verstehen würde. Thalias musste entscheiden, wo ihre Pflichten lagen.

Sie betrachtete die Karte, die Trauben feindlicher Welten rings um die Aszendenz. Im Vergleich dazu wirkten ihre eigenen Selbstzweifel und Sorgen mit einem Mal unbedeutend und klein. Und was Che’ri anging … Sie würde ihr Bestes tun, um dem Kind ihre Entscheidung zu erklären.

»Ich weiß nicht, wie sich eine Geisel verhält«, sagte sie, als sie sich wieder zu Thrawn umwandte. »Aber ich werde tun, was ich kann.«

Er neigte den Kopf. »Danke.« Dann trat er an den Schreibtisch und drückte eine Taste. »Admiral, Thrawn hier. Hüterin Thalias hat sich bereit erklärt, mich zu begleiten. Würden Sie Himmelsläuferin Che’ri informieren und dafür sorgen, dass sich jemand um sie kümmert, sobald wir Solitair erreicht haben?«

»Ich würde es ihr gern selbst sagen«, warf Thalias ein. »Es ist vielleicht leichter für sie, wenn sie es von mir hört.«

»Das klingt vernünftig«, sagte Ar’alani. »Haben Sie jemand Speziellen im Sinn, der Ihren Posten übernehmen soll?«

Thalias zögerte. Den Großteil ihrer Zeit an Bord der Vigilant hatte sie mit Che’ri oder auf der Brücke verbracht. Wen kannte sie gut genug, um ihm diese wichtige Aufgabe anzuvertrauen?

Vor allem musste es jemand sein, der einen gewissen Status und Respekt genoss, andernfalls würde Che’ri womöglich glauben, dass Thalias sie einfach an die nächstbeste Person weiterreichte.

Ihr wollte nur eine Person einfallen, die beide Kriterien erfüllte.

»Dürfte ich um ein wenig Bedenkzeit bitten?«, fragte sie ausweichend.

»Natürlich«, antwortete Ar’alani. »Che’ri sollte in einer halben Stunde aus ihrer Trance erwachen. Dann erwarte ich Sie mit Ihrer Empfehlung auf der Brücke.«

»Danke, Admiral.«

»Bis dann. Ar’alani, Ende.«

Thrawn deaktivierte das Komm. »Wissen Sie schon, wen Sie fragen werden?«, erkundigte er sich, während Thalias bereits zur Tür ging.

»Ja«, sagte sie über die Schulter. »Aber ich bin nicht sicher, ob der Admiral einverstanden ist.«

Der Admiral war alles andere als glücklich über Thalias’ Entscheidung.

Aber sie hatte der Hüterin zugesichert, dass sie einen Aufpasser für Che’ri aussuchen konnte, und Ar’alanis persönliche Ehre zwang sie, Wort zu halten.

Außerdem ließ sich nicht an der Logik von Thalias’ Begründung rütteln.

Che’ri lag zusammengerollt in einem der übergroßen Sessel der Himmelsläufer-Suite, genau dort, wo Ar’alani sie zurückgelassen hatte, als Thrawn sich mit weiteren Instruktionen von der Oberfläche gemeldet hatte. »Ich bin wieder da«, verkündete sie fröhlich, als sie durch den Gemeinschaftsraum zu dem Mädchen hinüberging. »Hast du ein wenig geschlafen? Möchtest du etwas essen?«

»Alles gut«, sagte Che’ri mit leiser, müder Stimme.

Ar’alani musterte das Gesicht des Mädchens. Als sie in Che’ris Alter gewesen war, hatte sie gerne auf möglichst dramatische Weise reagiert, wenn sie etwas haben wollte, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte oder einfach nur Aufmerksamkeit wollte. Aber der Ausdruck auf Che’ris Gesicht verriet ihr, dass das hier nicht der Fall war. »Bist du traurig, weil Thalias fortgegangen ist?«

Che’ris Lippe zuckte, und Ar’alani wusste, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. »Sie sagte, sie muss gehen«, murmelte das Mädchen. »Aber sie hat mir nicht gesagt, warum.«

Ar’alani nickte. »Ja, das hat mich früher auch immer verrückt gemacht.«

Che’ri hob stirnrunzelnd den Kopf. »Waren Sie auch eine Himmelsläuferin?«

»Nein, aber ich war auch mal zehn«, erklärte sie. »Die Erwachsenen haben immer geflüstert und Dinge vor mir geheim gehalten. Ich habe es gehasst. Aber manchmal ist es eben notwendig.«

Che’ri senkte den Blick wieder. »Sie macht etwas Gefähr­liches, nicht wahr? Captain Thrawn nimmt sie mit, und sie machen etwas Gefährliches.«

»Oh, Gefahren gibt es überall«, winkte Ar’alani ab, wobei sie versuchte, möglichst gelassen zu klingen. »Es ist keine große ­Sache.«

Zu spät erkannte sie, dass es die falsche Reaktion gewesen war. Plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, füllten sich Che’ris Augen mit Tränen, und sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Sie wird sterben«, wimmerte sie, und ihr Schluchzen ließ ihren gesamten Körper erzittern. »Sie wird sterben

»Nein, nein.« Ar’alani trat hastig vor und kniete sich neben das verängstigte Mädchen. »Ihr wird nichts geschehen. Thrawn ist bei ihr, und er wird auf sie aufpassen.«

»Es ist meine Schuld«, heulte Che’ri. »Ich hab sie angeschrien. Ich hab sie angeschrien, und jetzt wird sie sterben!«

»Beruhige dich«, säuselte Ar’alani. »Alles ist gut. Wann hast du sie angeschrien?«

Noch während sie die Frage stellte, wurde ihr die offensicht­liche Antwort bewusst: als Thalias dem Mädchen unter vier ­Augen alles erklärt und sich von ihm verabschiedet hatte. Nachdem die Hüterin die Himmelsäufer-Suite verlassen hatte und mit Thrawn zum Shuttle gegangen war, hatte sie ungewöhnlich angespannt gewirkt – ungewöhnlich selbst für eine so riskante Mission. Und Che’ri hatte sich geweigert, aus ihrem Zimmer zu kommen, als Ar’alani das erste Mal nach ihr gesehen hatte.

Zuerst hatte sie es auf die Nervosität der Hüterin und die Sensibilität des Mädchens schieben wollen. Doch wie es aussah, war ihr Abschied alles andere als harmonisch verlaufen.

Und nun, da der Zorn des Kindes verraucht war, war es in einen Zustand von Furcht, Depression und Schuldgefühlen verfallen. »Alles ist gut«, wiederholte Ar’alani. »Leute schreien sich ständig an. Das heißt nicht, dass sie einander nicht mögen.«

»Aber ich habe ihr gesagt, dass ich sie hasse«, schluchzte Che’ri.

»Sie wird nicht sterben«, versicherte Ar’alani ihr mit Nachdruck, wobei sie dem Mädchen sanft eine Hand auf den Arm legte. »Und sie wusste, dass du es nicht so gemeint hast.«

»Ich wollte nicht schreien«, schniefte Che’ri. Das Zittern ihrer Schultern ließ nach, und sie senkte die Hände von ihrem Gesicht. »Ich wollte ein paar Graph-Marker zum Malen. Aber sie meinte, sie hätte keine und dass sie auch keine mehr besorgen kann, bevor sie geht. Und ich sagte, Ab’begh hat welche und dass sie eine schlechte Mamisch ist …« Sie bedeckte erneut ihr Gesicht, und das Schluchzen setzte sich fort.

Ar’alani tätschelte ihren Arm. Sie fühlte sich wie eine frischgebackene Rekrutin bei ihrer ersten Übungsmission. Lieber hätte sie sich einem überlegenen Feind in der Schlacht gestellt, als dieses verängstigte Kind trösten zu müssen. »Hör zu.« Sie verzog das Gesicht, als sie den autoritären Ton in ihrer Stimme hörte. »Hör zu«, versuchte sie es noch mal, diesmal ein wenig sanfter. »Das hier ist nicht wie in den Büchern oder Vids. Das hier ist das echte Leben. Nur weil jemand zu einer Mission aufbricht, nachdem ihr euch gestritten habt, bedeutet das nicht, dass dieser Jemand sterben wird.«

Che’ri antwortete nicht, aber Ar’alani hatte das Gefühl, als würde ihr Wimmern ein wenig leiser werden.

»Weißt du, was?«, sagte sie. »Ich werde dir ein warmes Bad einlassen. Thalias meinte, du badest gerne. Und während du in der Wanne sitzt, mache ich dir etwas zu essen. Wie klingt das?«

»Gut«, murmelte Che’ri.

Ar’alani nickte. »Dann fange ich schon mal mit dem Bad an, und du entscheidest in der Zwischenzeit, was du essen willst.«

Das Mädchen nickte. »Admiral Ar’alani … Thalias meinte, Sie hätten schon viele Abenteuer mit Captain Thrawn erlebt.«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte sie mit einem schiefen Lächeln. »Darum weiß ich auch, dass Thalias nichts passieren wird, wenn Thrawn bei ihr ist.«

»Können Sie mir von einem dieser Abenteuer erzählen?«, fragte Che’ri zögerlich. »Sie hat mir ein paar Sachen zum Lesen gegeben, aber das war alles so förmlich, und … und ich kann nicht so gut lesen. Thalias liest gerne, aber ich …« Und schon schüttelte sich ihr Körper wieder, als sie losschluchzte.

Ar’alani schloss die Augen und seufzte leise. Wie es aussah, lag eine lange, lange Nacht vor ihr.

Die Garwia erteilten dem Shuttle innerhalb weniger Minuten Landeerlaubnis, und fast ebenso schnell forderten sie es wieder zum Abflug auf. Als Erklärung gaben sie Sicherheitsbedenken an, sollte ein Chiss-Schiff offen am Raumhafen herumstehen.

Doch während Thalias nun mit Thrawn im Vorraum des Sicherheitsbüros wartete, konnte sie nicht umhin, sich zu wundern, ob die Garwia vielleicht ihre Meinung geändert hatten. Kein Mitglied der Einheit schien mit ihnen reden zu wollen.

Thrawn hatte erklärt, die Garwia wären ihm einen Gefallen schuldig. Aber so, wie die Wesen hier die beiden Chiss mieden, bekam Thalias ernsthafte Zweifel am Ausmaß ihrer Dankbarkeit.

Ebenso kamen ihr Zweifel, was Thrawns Entscheidung anging, dass sie mehrere Schichten greller Schminke tragen sollte. Es ergab Sinn, dass der Status einer Familiengeisel auf den ersten Blick offensichtlich sein sollte, aber so wie ihr Gesicht unter Linien und Schattierungen begraben war, konnte man ihre ­Mimik kaum noch erkennen.

Andererseits könnte genau das der erwünschte Effekt sein: dass Geiseln ihrer Persönlichkeit beraubt wurden oder etwas in der Art. Trotzdem … Während sie so dasaß und das Gewicht der Schminke auf ihren Wangen und ihren Augenlidern spürte, kam sie nicht um die Frage herum, welche langfristigen Spuren das Zeug wohl auf ihrer Haut hinterlassen würde.

Vier Stunden nach ihrer Ankunft blieb einer der Garwia schließlich vor ihnen stehen. »Der zweite Verteidigungslord Frangelic wird Sie jetzt empfangen«, erklärte er auf Minnisiat. »Folgen Sie mir, bitte.«

Sie wurden in einen Raum geführt, in dem ein Garwia hinter einem großen Schreibtisch saß. Er war jünger, als Thalias bei der Erwähnung eines so prestigeträchtigen Titels erwartet hatte, und er blieb vollkommen reglos, während sie zu den beiden Gästestühlen vor dem Tisch gingen und Platz nahmen. Erst dann nickte er dem Garwia hinter ihnen zu, und Thalias hörte, wie sich die Tür wieder schloss.

»Ich sehe, Sie sind weit aufgestiegen, Zweiter Verteidigungslord«, sagte Thrawn ruhig. »Meinen Glückwunsch.«

»Und Sie ebenfalls, Senior-Captain«, erwiderte Frangelic, den Kopf schräg gelegt. »Wer ist Ihre Begleiterin?«

»Meine Geisel«, korrigierte Thrawn.

Frangelic schien auf seinem Sessel nach hinten zu rutschen. »Seit wann nehmen Chiss Geiseln?«

»Es ist ein uralter Sicherheitsmechanismus, um Familienrivalitäten zu entschärfen«, klärte Thrawn ihn auf. »Wir sprechen nur selten mit Fremden darüber, aber da sie hier ist, bin ich Ihnen wohl eine Erklärung schuldig. Ich vertraue darauf, dass Sie die Sache für sich behalten.«

»Selbstverständlich. Hat sie einen Namen?«

Thrawn blickte zu Thalias hinüber, als hätte er Mühe, sich zu erinnern. »Thalias.«

»Thalias«, begrüßte Frangelic sie leise. Nachdem er sie einen Moment lang gemustert und versucht hatte, die Kreise und Linien ihrer Schminke zu durchdringen, wandte er sich wieder Thrawn zu. »Lassen Sie mich ganz offen sein. Die Ruleri haben vor einer Stunde eine Sondersitzung einberufen, und ich wurde informiert, dass Ihre Rückkehr nach Solitair ein sehr gemischtes Echo hervorgerufen hat. Viele glauben, Ihre letzte Interaktion mit dem Volk der Garwia war … Nun, niemand hat direkt das Wort Verrat benutzt, aber das scheint der allgemeine Tenor zu sein.«

»Ich habe die Sache anders im Gedächtnis«, entgegnete Thrawn. »Aber das ist Vergangenheit. Jetzt zählt nur, dass die Aszendenz und die Einheit beide einer ungewissen, vermeintlich gefährlichen Zukunft entgegenblicken. Ich habe einen Vorschlag, der für beide Seiten von Vorteil sein könnte.«

»Interessant.« Frangelic beäugte ihn. »Fahren Sie fort.«

»Ich glaube, wir werden beide von einem neuen Feind bedroht«, erklärte Thrawn. Er aktivierte seinen Questis und schob ihn über die Tischplatte. »Sie nennen sich die Nikardun, und wir wissen von drei, möglicherweise sogar vier Spezies in der Region, die entweder unterworfen wurden oder gerade von ihnen belagert werden.«

»Wir kennen diese Spezies«, sagte Frangelic nach einem langen Blick auf den Questis. »Und es gibt noch zwei weitere, deren Einstellung und Außenpolitik sich vor Kurzem drastisch geändert haben.«

»Dann sind wir uns also einig, dass eine Bedrohung besteht?«

»Wir sind uns einig, dass sich etwas verändert hat«, korrigierte Frangelic. »Die Ruleri sind sich noch nicht einig, ob diese Veränderung tatsächlich eine Bedrohung darstellt.«

»Was denken Sie

Der Garwia zögerte. »Ich glaube, die Situation bedarf genauerer Nachforschung. Aber Sie meinten, Sie hätten einen Vorschlag.«

»Richtig«, nickte Thrawn. »Sehen Sie sich diese Liste an. Das sind vier Kulturen, die uns meiner Meinung nach wertvolle Informationen liefern könnten. Aber falls die Nikardun eine Präsenz in diesen Territorien haben, würden sie sofort erfahren, wenn Chiss dort auftauchen. Das bedeutet, ich kann in offizieller Funktion keine Nachforschungen durchführen. Aber falls ich eine dieser Welten unbemerkt anfliegen könnte, sagen wir an Bord eines garwianischen Schiffes …«

Frangelics Kiefer klappte herunter, und Thalias erhaschte einen kurzen Blick auf mehrere Reihen scharfer Zähne, bevor der Verteidigungslord den Mund wieder schloss. Falls sie sich recht erinnerte, war das die garwianische Version eines Lächelns. »Ich bezweifle, dass ein Chiss wirklich unbemerkt auf einem unserer Schiffe reisen könnte«, sagte er. »Aber wie der Zufall es will, wird in zwei Tagen eine diplomatische Gesandtschaft zu einer der Spezies auf Ihrer Liste aufbrechen – zu den Vaks von Primea.«

»Das wäre perfekt«, erwiderte Thrawn. »Können Sie mich an Bord bringen?«

»Ich kann es versuchen.« Frangelics Blick huschte zu Thalias. »Und Ihre Geisel ebenfalls?«

»Natürlich. Ich würde Sie aber bitten, von jetzt an nur noch als meine Begleiterin von ihr zu sprechen, vor allem in der Öffentlichkeit.«

»Selbstverständlich.« Frangelic beugte sich wieder über den Questis. »Die Ruleri werden auf einer Eskorte zu Ihrem Schutz bestehen«, fuhr er wie im Selbstgespräch fort. »Leider wird keiner meiner Untergebenen Sie oder Ihre Methoden verstehen.« Er hob den Kopf und »lächelte« erneut. »Außerdem werden sie ein anderes Bild von Ihnen haben als ich.« Er zögerte, dann schob er den Questis zu Thrawn zurück. »Folglich werde ich Sie persönlich begleiten müssen, wenn Sie nach Primea reisen. Ich werde mit dem obersten Diplomaten der Gesandtschaft reden und die nötigen Vorkehrungen treffen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Thrawn. »Falls Sie die Anwesenheit eines Chiss bei einer garwianischen Mission erklären müssen, sollten Sie mich als interstellaren Kunstexperten vorstellen, der von Ihren Akademikern eingeladen wurde, um die Kunstwerke der Vaks zu studieren.«

»Ist das nicht ein wenig weit hergeholt?«, fragte Frangelic skeptisch.

»Nicht im Geringsten«, entgegnete Thrawn. »Es gibt Theorien in der akademischen Welt, wonach die Vaks und die Garwia vor zwanzig- bis dreißigtausend Jahren in regem Kontakt standen. Spuren eines solchen Kontakts zu finden, etwa in parallelen künstlerischen Strömungen oder Genres, könnte diese Theorien bestätigen. Das könnte Historikern helfen, die Geschichte des Hyperraumverkehrs in diesem Teil des Chaos zurückzuverfolgen.«

»Interessant«, murmelte Frangelic. »Ist das wirklich wahr, oder haben Sie es gerade erfunden?«

»Die Theorien sind real«, versicherte Thrawn ihm. »Sie mögen obskur und höchst strittig sein, aber falls jemand auf Primea Nachforschungen anstellt, wird er definitiv Aufzeichnungen darüber in den Archiven finden.«

»Ich hoffe, Sie haben recht«, sagte Frangelic. »Nun gut. Mein Adjutant wird Ihnen eine Unterkunft zuweisen, während ich uns einen Platz auf dem Diplomatenschiff besorge.«

»Danke.« Thrawn stand auf. »Ich muss Admiral Ar’alani über meine Fortschritte informieren, bevor die Vigilant den Orbit verlässt. Oh, und dürfte ich Sie außerdem bitten, einen mittelgroßen Frachtcontainer an Bord des Schiffes bringen zu lassen?«

»Einen Frachtcontainer ?«, echote Frangelic. Mit einem Mal wurde sein Ton wieder misstrauisch. »Was wollen Sie denn alles auf diese Reise mitnehmen?«

»Nicht sehr viel«, versicherte Thrawn ihm. »Der Container ist für den Rückflug.«

»Aha«, machte Frangelic, noch immer hörbar skeptisch. »Vielleicht erklären Sie mir vor dem Abflug noch genauer, was Sie damit meinen.«

»Oder während der Reise«, erwiderte Thrawn. »Wir werden ja sehen, wann sich eine passende Gelegenheit ergibt.«

»Ja, das werden wir«, sagte Frangelic. »Benachrichtigen Sie jetzt erst mal Ihren Admiral. Ihr Schiff sollte unseren Orbit schnellstmöglich verlassen«, fügte er in kühlem Tonfall hinzu. »Die Ruleri können über persönliche Abneigungen hinwegsehen, aber es wäre nicht klug, ihre Geduld auf die Probe zu stellen.«

»Ich verstehe«, nickte Thrawn. »Sobald ich Meldung gemacht habe, wird die Vigilant abfliegen. Jetzt komm mit, Begleiterin. Du kannst meine Sachen auspacken und Abendessen machen, während ich mit dem Admiral spreche.«