ERINNERUNG IX
»Wie lange noch?«, fragte Senior-Captain Ziara.
»Zwei Minuten«, lautete die angespannte Antwort des Steuermanns.
Ziara nickte, aber innerlich verzog sie das Gesicht. Zwei Minuten. Seit Thrawns Notruf waren zwei Stunden vergangen – zwei Stunden, während derer der Hyperraum sie von jeglicher Kommunikationsmöglichkeit abgeschnitten hatte. Und jetzt noch einmal zwei Minuten. Sie wusste nicht, wie tief sich das Kreuzfahrtschiff bereits im Gravitationsfeld des Planeten befunden hatte, als Thrawn mit seinem Patrouillenboot dort angekommen war. Falls sie Pech hatten, würde die Parala nur noch hilflos mit ansehen können, wie achttausend Wesen in der dichten Atmosphäre verglühten. »Traktorstrahlen bereit?«, fragte sie.
»Einsatzbereit, Captain.«
»Wir verlassen den Hyperraum«, kündigte der Pilot an. »In drei, zwei, eins.« Der blaue Tunnel vor ihnen löste sich auf …
Und da, zehn Kilometer vor ihnen, erblickte Ziara den Schauplatz des Dramas.
Es kam dieser Tage nur noch selten vor, dass ein Schiff auf solche Weise verloren ging, aber das machte die Sache nicht weniger erschreckend. Das Kreuzfahrtschiff – es sah aus wie ein kompakter Zylinder mit zwei breiten D-förmigen Flügeln, beide mit einer Reihe von Ausbuchtungen versehen, wo sich die luxuriösesten Kabinen befanden – hing tief über den äußeren Atmosphäreschichten des Gasriesen, um dessen drei Ringe es herumgeflogen war. Bereits jetzt zog es einen sichtbaren Schweif hinter sich her, während es durch die dünnen Gase pflügte, und die Reibung bremste seine Orbitalgeschwindigkeit immer weiter ab. Nicht mehr lange, und es würde in einer tödlichen Spirale in die Tiefe stürzen. Thrawns Patrouillenboot, die Boco , flog ein paar Hundert Meter hinter dem Liner her und versuchte, das größere Schiff mit aller Kraft seiner Traktorstrahlen zu stabilisieren.
Ein sinnloses Unterfangen. Ziara musste nicht erst die technischen Daten konsultieren, um zu sehen, dass der Masseunterschied zwischen den beiden Schiffen zu groß war. Die Boco konnte den Kreuzer nicht zurück in den Orbit ziehen. Und selbst wenn die Parala sie mit ihren eigenen Traktorstrahlen unterstützte, war ein Erfolg noch lange nicht garantiert.
»Senior-Captain Ziara«, meldete sich Thrawns Stimme aus dem Brückenlautsprecher. »Danke für Ihre prompte Antwort. Würden Sie bitte am Bug des Kreuzers in Position gehen?«
»Schon unterwegs«, sagte Ziara, wobei sie dem Steuermann mit einer entsprechenden Geste die Anweisung gab. Wenig später leuchteten alle relevanten Sensordaten auf dem Hauptdisplay auf.
Es war genau so, wie sie befürchtet hatte. »Aber es wird nichts bringen«, fügte sie leise hinzu. »Selbst gemeinsam werden wir es nicht schaffen. Wurden die Passagiere schon evakuiert?«
»Bedauerlicherweise nicht«, antwortete Thrawn. »Als die Triebwerksdüsen ausfielen, befand sich der Kreuzer bereits zu tief in den Strahlungs- und Magnetfeldern, um noch Rettungskapseln abzusetzen.«
»Dann sind alle noch an Bord?«
»Korrekt«, bestätigte Thrawn. »Zumindest haben sich die Passagiere und die Mannschaft im zentralen Zylinder versammelt, wo sie am besten geschützt sind.«
Ziara stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen den Atem aus. »Konnten Sie sonst irgendjemanden erreichen?«, fragte sie, während ihre Augen die Zahlen überflogen. Noch eine Stunde, und nicht mal ein Nightdragon wäre noch in der Lage, das Kreuzfahrtschiff aus der Atmosphäre zu hieven.
»Niemand sonst kann rechtzeitig hier sein«, erklärte Thrawn. »Bitte, beeilen Sie sich. Uns läuft die Zeit davon.«
»Es ist doch jetzt schon zu spät«, murmelte jemand.
»Wir gehen parallel zur Boco «, befahl Ziara, obwohl sie selbst nicht sicher war, wie Thrawn das Blatt noch zu wenden hoffte.
»In Position, Captain«, rief wenige Sekunden später der Pilot.
»Traktorstrahl aktiviert«, fügte die Waffenoffizierin hinzu. »Status … keine Wirkung. Der Kreuzer sinkt weiter …«
Sie brach mit einem erschrockenen Keuchen ab, als ein heftiger Ruck durch die Parala ging. »Die Boco hat ihren Traktorstrahl ausgeschaltet!«
»Schub erhöhen«, befahl Ziara, den Blick fest auf den Bildschirm geheftet. Die Boco hatte nicht nur ihren Traktorstrahl abgeschaltet; sie hatte sich auch von der Parala weggedreht und flog in einer engen Kurve um das Kreuzfahrtschiff herum.
Und dann, als sie auf gleicher Höhe mit dem Kreuzer war, feuerte das Patrouillenboot seine Spektrallaser auf die Stelle ab, wo der breite Flügel mit dem zentralen Zylinder verschmolz. »Captain, er greift Sie an!«, entfuhr es dem Sensoroffizier.
»Position halten«, sagte Ziara. »Machen Sie sich bereit, die Notfallenergie in die Triebwerke umzuleiten.«
»Aber, Captain …«
»Ich sagte, Position halten«, schnappte sie. »Sehen Sie denn nicht, dass er versucht, das Schiff leichter zu machen?«
Sie hatte den Satz kaum beendet, als der Flügel abbrach und die plötzliche Veränderung in der Masse des Liners die Parala durchschüttelte. Die Boco war da bereits auf dem Weg zur anderen Seite des großen Schiffes, um die Nahtstelle des steuerbordseitigen Flügels unter Beschuss zu nehmen. Ziara beobachtete das Schauspiel und wappnete sich für einen weiteren harten Ruck …
Der Flügel brach weg und verschwand in der Atmosphäre unter ihnen. »Notfallenergie!«, rief sie. »Ziehen Sie uns hoch.«
Die Parala vibrierte und ächzte unter dem zusätzlichen Druck, aber das Kreuzfahrtschiff begann sich träge von dem Planeten fortzubewegen. Einen Moment später spürte Ziara einen weiteren kleinen Ruck, als die Boca an ihre Seite zurückkehrte und sie mit ihrem eigenen Traktorstrahl und ihrer eigenen Triebwerksleistung unterstützte. Langsam, aber sicher zogen sie den Liner erst aus der Atmosphäre und dann aus dem Gravitationsfeld des Gasriesen.
Fünfzehn Minuten später war die Krise beendet.
»Danke für Ihre Unterstützung, Senior-Captain Ziara«, meldete sich Thrawn, nachdem die beiden Schiffe schließlich ihre Düsen heruntergefahren und die Traktorstrahlen deaktiviert hatten. »Ohne Sie wäre der Kreuzer verloren gewesen.«
»Und ich danke Ihnen für Ihre Geistesgegenwart«, sagte Ziara, wobei sie das Kreuzfahrtschiff betrachtete. Seine Seitenflügel waren fort und mit ihnen die Luxuskabinen und die wertvollen Besitztümer der Passagiere, die dort untergebracht gewesen waren. »Aber falls ich Sie vorwarnen darf: Von den Überlebenden sollten Sie besser keinen Dank erwarten.«
»Sie waren noch nie auf Csilla, oder?«, fragte Ziara, als der Shuttle der blau-weißen Oberfläche der Chiss-Heimatwelt entgegenraste.
»Nein«, antwortete Thrawn, der neben ihr aus dem Fenster starrte. »Meine gesamte Ausbildung fand in den Anlagen des Expansionskommandos auf Naporar statt.«
Ziara linste zu ihm hinüber. Sie konnte ihn nur im Profil sehen, aber sie glaubte, einen angespannten Zug um seine Augen und Lippen zu erkennen. »Sie wirken besorgt.«
»Besorgt?«
»Als würden Sie ein Rudel Nachtjäger am Horizont sehen«, erwiderte Ziara. »Ich hoffe, Sie wissen, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Die Besitzer der Kreuzfahrtlinie können jammern, so viel sie wollen, aber Tatsache ist, dass Sie achttausend Chiss gerettet haben, die ansonsten als Aschewolke durch die Atmosphäre dieses Gasriesen treiben würden.«
»Ich glaube, die atmosphärischen Strömungen hätten diese Aschewolke inzwischen längst in einzelne organische Moleküle zerlegt.«
»Sehr witzig«, kommentierte Ziara. »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie einen erlesenen Sinn für Humor haben?«
»Sie sind die Erste.« Thrawn nickte in Richtung Planet. »Ich habe nur nachgedacht, das ist alles. Man hat schon früher Beschwerden gegen mich eingereicht, aber ich wurde noch nie zu einer so gewichtigen Anhörung einbestellt.«
»Weil es bei den früheren Beschwerden immer um militärische Angelegenheiten ging«, erinnerte Ziara ihn. »Aber diesmal ist es mehr oder weniger ein ziviler Zwischenfall. Und wichtiger noch, er betrifft eine der Neun Familien. So etwas erregt natürlich Aufmerksamkeit.«
»Und trotzdem sagen Sie, ich habe keinen Grund, mir Sorgen zu machen?«
»Nein, weil Aristokra von mindestens fünf anderen Familien auf der Passagierliste standen«, antwortete Ziara. »Falls es zum Äußersten kommt, steht es also fünf gegen einen. Keine schlechten Aussichten, wenn Sie mich fragen.«
»Ich hoffe, so weit kommt es nicht.« Thrawn deutete auf das Aussichtsfenster. »Ist das Csaplar?«
Ziara reckte den Hals. Auf der ansonsten eintönigen Oberfläche war eine gewaltige eisverhüllte Stadt sichtbar geworden. »Ja«, nickte sie. »Hauptstadt der Chiss-Aszendenz und einstiges Zentrum von Kunst und Kultur. Wir werden bei dem Raumhafen am südwestlichen Stadtrand landen und dann mit einer Tunnelbahn zum Flottenhauptquartier fahren. Den Komplex kann man übrigens nicht von hier oben sehen – er befindet sich größtenteils unter der Erde.«
»Ja, ich weiß. Sie meinten, Csaplar wäre das einstige Zentrum von Kunst und Kultur. Ist es das heute nicht mehr?«
»Leider nein«, erklärte Ziara. »Aber früher war es mal ein wirklich faszinierender Ort.«
»Seltsam«, sagte Thrawn ein wenig verwirrt. »Ich dachte, eine Stadt mit sieben Millionen Einwohnern wäre groß genug, um der Regierung und den Künsten Platz zu bieten.«
»Möchte man meinen, nicht wahr?« Ziara blickte sich in der Hauptkabine des Shuttles um. Zu viele andere Passagiere. Aber sie würde sicher noch Gelegenheit bekommen, ihm die Wahrheit zu erzählen. »Keine Sorge. Ich bin sicher, Sie werden dort unten trotzdem etwas finden, was Ihre Zeit wert ist.«
Die Anhörung war kurz und oberflächlich, genau wie Ziara vorausgesagt hatte. Die Boadil-Familie, der die Kreuzfahrtlinie gehörte, hatte einen Repräsentanten geschickt, der lautstark darauf beharrte, dass man Thrawn bestrafen, degradieren oder gleich ganz aus der Flotte werfen müsste. Ebenfalls präsent waren drei der fünf Familien, deren Mitglieder vor dem sicheren Tod gerettet worden waren, und sie entgegneten, dass Thrawn vielmehr eine Belobigung oder Beförderung verdient hätte. Letztlich glichen sich die widerstreitenden Meinungen aus, und Thrawn verließ den Raum mit demselben Dienstrang, mit dem er ihn betreten hatte.
Einen Rückschlag musste er aber doch hinnehmen. Aus irgendeinem Grund – irgendein obskures, politisches Manöver – nahm man Thrawn das Patrouillenschiff weg. Ein unrühmliches Ende für sein erstes Kommando.
»Es tut mir so leid«, sagte Ziara, als sie mit der Tunnelbahn zurück in die Stadt fuhren. »Ich hätte nicht erwartet, dass die Flotte so weit gehen würde.«
»Schon in Ordnung«, erwiderte Thrawn. Seine Stimme war ruhig, aber sie konnte die Enttäuschung zwischen seinen Worten hören. »Wenn man bedenkt, wie viele Millionen ich die Boadil gekostet habe, war wohl damit zu rechnen, dass sie ein wenig rachsüchtig sein würden.«
»Sie haben die Boadil gar nichts gekostet«, brummte Ziara. »Sie haben den Kreuzer nicht zu nah an den Planeten herangesteuert. Sie haben nicht die Warnungen der Ingenieure ignoriert, dass die magnetischen Strömungen die Elektronik stören. Sie haben nicht die Triebwerke überlastet und die Triebwerksdüsen verschmort. Wäre ich die Boadil, würde ich dem Captain das Leben zur Hölle machen, nicht Ihnen.«
Aber wie Ziara wusste, waren die Boadil nun einmal politische Verbündete der Ufsa und ihrer eigenen Familie, der Irizi … und der Captain des Kreuzfahrtschiffes gehörte zu den Ufsa. Thrawn war der einzige Sündenbock, dem sie die Schuld an dem Debakel anhängen konnten, ohne ihre Beziehungen zu belasten. Und so hatte er die ganze Wut und Empörung der Boadil zu spüren bekommen.
»Danke«, sagte Thrawn. »Aber es gibt keinen Grund, verbittert zu sein. Wir haben gemeinsam achttausend Leben gerettet. Das ist die Hauptsache.«
Ziara nickte. »Ja, da haben Sie recht.«
»Also«, fuhr er fort, nun wieder in seinem üblichen sachlichen Tonfall. »Da mir mein Kommando entzogen wurde, habe ich kein Schiff mehr, um Csilla zu verlassen. Ich nehme an, das Flottenkommando wird einen Transporter bereitstellen, der mich zu meinem nächsten Posten bringt.«
»Vielleicht wird das gar nicht nötig sein«, warf Ziara ein. »Ich habe bereits einen Antrag eingereicht, damit Sie als einer meiner Offiziere auf die Parala versetzt werden. Sollte das Flottenkommando zustimmen, können Sie mit mir kommen.«
»Danke«, sagte Thrawn, wobei er leicht den Kopf neigte. »Mir sind mehrere Hotels rings um den Raumhafen aufgefallen. Ich werde mir dort ein Zimmer nehmen, während ich auf meine neuen Befehle warte.«
»Das könnten Sie tun«, erwiderte Ziara mit geschürzten Lippen. Ihr war da gerade ein Gedanke gekommen …
Die Familie würde nicht glücklich darüber sein, so viel war klar. Aber im Moment war ihr das herzlich egal. Thrawn war zu einem Opfer familiärer Politik geworden, und wenn sie dieses Unrecht schon nicht ungeschehen machen konnte, wollte sie ihm zumindest zeigen, dass sich nicht die gesamte Aszendenz von ihm abgewandt hatte.
»Aber ich habe eine bessere Idee«, fuhr sie fort. »Wir haben mindestens ein paar Tage, vermutlich eine Woche. Warum begleiten Sie mich nicht zur Heimstatt der Irizi?«
»Zu Ihrer Heimstatt?«, echote Thrawn. »Haben Fremde dort überhaupt Zutritt?« Ein Muskel in seiner Wange zuckte. »Vor allem Fremde von rivalisierenden Familien?«
»Das weiß ich nicht, und es interessiert mich auch nicht«, erklärte Ziara. »Ich bin ein Blutsmitglied und eine angesehene Flottenoffizierin, die gerade geholfen hat, achttausend Leben zu retten. Ich weiß nicht, welche Privilegien ich mir dadurch verdient habe, aber ich würde es gerne herausfinden. Und Sie können mir dabei helfen.«
»Ich weiß nicht«, sagte Thrawn zögerlich. »Ich möchte nicht, dass Sie meinetwegen in Schwierigkeiten geraten.«
»Wenn ich mir deswegen keine Sorgen mache, brauchen Sie es auch nicht zu tun«, entgegnete sie. »Außerdem … Erwähnte ich schon, dass mein Großvater ein leidenschaftlicher Kunstsammler war?«
Thrawn lächelte. »Sie haben ein Talent dafür, die Schwächen Ihres Gegners auszunutzen, Ziara. Nun gut. Dann wollen wir uns einmal mehr kopfüber in die Gefahr stürzen.«
»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Ziara ebenfalls lächelnd. »Außerdem haben wir gerade eine Begegnung mit einem tödlichen Gasriesen überlebt. Wie schlimm kann meine Familie im Vergleich dazu schon sein?«
Der Bereich rings um den Raumhafen von Csaplar war laut und überfüllt, voller Leute, Hotels, Restaurants und allerlei Unterhaltungsangeboten. Die Heimstatt der Irizi lag ungefähr dreihundert Kilometer nordöstlich davon, am anderen Ende der Stadt, daher rief Ziara einen Zwei-Personen-Expresswagen, der sie durch das überirdische Röhrensystem dorthin bringen sollte.
Sie fuhren also nicht um die Stadt herum, sondern mitten hindurch.
Eigentlich sollte sie das nicht tun, das wusste Ziara. Nur ranghohe Syndics, Flaggoffiziere und die Patriarchen der Neun Familien kannten die ganze Wahrheit über die Hauptstadt der Aszendenz, und Thrawn war nichts von alledem. Außerdem gab es mehr als genug unterirdische Routen, die sie ans Ziel bringen könnten, ohne dass sie auch nur einmal an die Oberfläche kamen.
Doch ihre Wut über Thrawns unfaire Behandlung durch die Flotte und die Aristokra hatte etwas in ihr geweckt: den sonderbaren und überraschend starken Wunsch, sich den Regeln der Chiss-Hierarchie zu widersetzen.
Und außerdem – das sagte sie sich, während sie den Raumhafen hinter sich ließen und durch das Labyrinth von Gebäuden und Parks und überirdischen Röhrensystemen aufbrachen – wäre es eine interessante taktische Übung zu sehen, wie lange Thrawn brauchte, um die richtigen Rückschlüsse zu ziehen.
Wie sich herausstellte, dauerte es nur ein paar Minuten. Ziara behielt sein Gesicht genau im Blick, während er aus dem Fenster starrte, und nachdem sie vielleicht ein Drittel der weitläufigen Metropole durchquert hatten, kniff er plötzlich die Augen zusammen. »Etwas stimmt hier nicht«, sagte er.
»Was meinen Sie?«, fragte sie.
»Ich kann nirgendwo Leute sehen«, antwortete Thrawn. »Schon nicht mehr, seit wir den Bereich um den Raumhafen verlassen haben.«
»Natürlich sind da Leute.« Ziara deutete auf einen Expresswagen, der in einer parallelen Transportröhre dahinglitt. »Sehen Sie, da sind schon mal zwei.«
»Sie sind die Ausnahme«, erklärte Thrawn. »Die anderen Wagen, die wir passiert haben, waren leer.«
»Vielleicht waren sie auch nur zu weit entfernt, um das Innere zu erkennen«, entgegnete Ziara. Sie hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, weil ihr das Spiel so viel Spaß machte. »Sie sehen ja, dass das Äußere der Wagen teils verspiegelt ist.«
»Nein«, beharrte Thrawn. »Die leeren Wagen sitzen höher auf den Schienen als die vollen. Außerdem sind wir bereits an drei Haltestellen vorbeigekommen, und nirgends standen wartende Passagiere.«
Er drehte sich herum und fixierte sie mit einem so durchdringenden Blick, dass sie reflexartig von ihm zurückwich. »Was ist mit unserer Hauptstadt passiert, Ziara?«
»Das Gleiche, was mit dem gesamten Planeten geschehen ist«, sagte sie leise. »Es tut mir leid … Ich hätte das nicht tun sollen. Aber Sie haben es verdient, die Wahrheit zu erfahren.«
»Welche Wahrheit? Dass Csilla verwaist ist?«
»Oh, die Stadt ist noch bewohnt, keine Sorge«, entgegnete sie. »Die meisten Leute sind noch hier, aber vor über tausend Jahren kam es zu einem gewaltigen Exodus. Was man Ihnen in der Schule beigebracht hat – dass Veränderungen der Sonnenstrahlung und das langsame Gefrieren der Oberfläche die Einwohner von Csilla unter die Erde gezwungen hat –, entspricht im Großen und Ganzen der Wahrheit. Was aber nicht in den Geschichtsbüchern steht, ist, dass die Gesamtbevölkerung damals vier Milliarden Chiss umfasste und dass nur ein kleiner Bruchteil auf dem Planeten blieb.«
»Was geschah mit den anderen?«
»Sie wurden auf andere Planeten umgesiedelt«, erklärte Ziara. »Hauptsächlich Rentor, Avidich und Sarvchi. Das Syndicure und das Flottenkommando blieben hier und mit ihnen der Fracht- und Handelshafen. Einige der Familien verlagerten ihre Heimstätten auf Welten, wo sie bereits eine starke Präsenz hatten, aber die meisten weigerten sich, Csilla ganz zu verlassen.«
»Also zogen sie sich auch unter die Oberfläche zurück?«
»Richtig«, nickte Ziara. »Die neue Heimstatt meiner Familie – na ja, sofern man nach tausend Jahren noch von neu sprechen kann – befindet sich noch immer auf demselben Stück Land, nur eben in einer riesigen Höhle, zwei Kilometer unter dem Boden. Die Irizi sind ein wenig zwanghaft, was ihr Territorium und ihre Geschichte angeht.«
»Wie viele Leute leben heute denn noch auf Csilla?«
»Sechzig bis siebzig Millionen«, antwortete Ziara. »Obwohl die offiziellen Unterlagen sie noch immer mit acht Milliarden beziffern.« Sie deutete auf die Stadt unter ihnen. »Das da? Das ist alles nur Show.«
»Für wen?«
»Unsere Besucher. Unsere Handelspartner aus anderen Systemen.« Sie schluckte. »Unsere Feinde.«
»Dann lebt eine Handvoll Chiss also weiter an der Oberfläche, nur um den Schein zu wahren«, murmelte Thrawn. »Die Stadt wird beheizt und beleuchtet, und es fahren Expresswagen durch die Röhren, um den Anschein einer blühenden, lebendigen Stadt zu erwecken.« Er blickte Ziara an. »Ich vermute, die Röhre, in der wir uns befinden, geht in einen der unterirdischen Tunnel über?«
Sie nickte. »In der Regel befinden sich nur ein paar Hundert Leute gleichzeitig in Csaplar. Sie wechseln sich nach einem Rotationsprinzip ab, damit sie nicht zu lange den Bedingungen hier oben ausgesetzt sind. Der Rest der Stadt – die echte Stadt – ist auf Höhlen verteilt, die meisten von ihnen in der Umgebung des Syndicure-Komplexes. Eine weitere Illusion für unsere diplomatischen Besucher.«
»Und die meisten zivilen Besucher und Händler bleiben natürlich in der Nähe des Raumhafens«, sagte Thrawn mit einem langsamen Nicken. »Die rege Aktivität dort und am Regierungssitz täuscht über die Leere im Rest der Stadt hinweg.«
»Richtig«, bestätigte Ziara. »Jetzt wundern Sie sich bestimmt, warum das alles ein so großes Geheimnis ist.«
»Nein, die Vorteile einer solchen Strategie sind mir durchaus bewusst«, erwiderte Thrawn. »Sollte der Planet je angegriffen werden, würde der Feind enorme Ressourcen auf etwas verschwenden, was im Grunde eine leere Hülse ist.« Er blickte Ziara direkt an. »Mich interessiert vielmehr, warum Sie mir das alles erzählt haben. Mein Rang ist sicherlich nicht hoch genug für solche Geheiminformationen. Erst recht nicht nach dem heutigen Tag.«
»Ich habe es Ihnen erzählt, weil niemand Informationen besser einsetzen kann als Sie«, sagte Ziara. Das Trotzgefühl war inzwischen verblichen, und ein vages Unbehagen hatte sich in ihr breitgemacht. Die Regeln waren eindeutig: Offiziere von Thrawns Rang sollten nichts von alledem wissen. »Je mehr Sie über eine Situation wissen, desto besser können Sie eine Strategie und Taktik entwickeln, wie man mit der Situation adäquat umgeht. Außerdem ist es nur noch eine Frage der Zeit, ehe man Ihnen die entsprechende Sicherheitsfreigabe zuspricht.« Ihre Lippe zuckte. »Und wenn es so weit ist, tun Sie bitte so, als wären Sie überrascht.«
»Das werde ich«, versprach er. »Da wir gerade von Überraschungen sprechen: Weiß Ihre Familie, dass Sie einen Gast mitbringen?«
Ziara schüttelte den Kopf. »Nein, aber das sollte kein Problem sein.«
Thrawn zog die Augenbraue hoch. »Das ist nur eine Vermutung, oder?«
»Ja«, gestand sie. »Es ist nur eine Vermutung.«