Der Chefmechaniker des Raumdocks schüttelte den Kopf, als er vor dem Aussichtsfenster stand. »Was soll ich nur mit Ihnen machen?«, rief er. »Das ist das zweite Mal innerhalb von zwei Monaten. Fliegen Sie etwa absichtlich mitten in irgendwelche Raumschlachten hinein?«
»Natürlich nicht«, entgegnete Samakro steif. »Es ist wohl kaum die Schuld der Springhawk , dass der Rat und die Aristokra uns immer wieder ins Chaos schicken, um die Feinde der Aszendenz zu bekämpfen.«
»Und es ist auch nicht Ihre Schuld, dass Sie Ihre Schlachten nicht schneller gewinnen«, konterte der Mechaniker, wobei er sich erneut dem Aussichtsfenster zuwandte; jenseits davon trieb die Springhawk als dunkle Silhouette vor der blau-weißen Scheibe des gefrorenen Csilla.
»Immerhin haben wir gewonnen«, entgegnete Samakro. »Und jetzt lassen Sie uns nicht überdramatisch werden. So schwer sind die Schäden nun auch wieder nicht.«
»Ach nein?«, brummte der Mechaniker säuerlich. »Na ja, vermutlich fliegen Sie deshalb da draußen in feindliche Raketensalven, und ich bin hier und versuche irgendwie, Ihr Schiff wieder zusammenzubauen.« Er hob einen Finger. »Sieben Sensoranlagen und zweiundachtzig Hüllenplatten müssen ausgetauscht werden, außerdem müssen wir fünf Spektrallaser reparieren. Und verstehe ich das richtig, dass Sie einen zusätzlichen Plasmatank angefordert haben?«
»Wir haben den Großteil unserer Plasmasphären verbraucht.«
»Und wo soll ich den zusätzlichen Tank unterbringen?«, schnappte der Mechaniker. »Vielleicht in Captain Thrawns Kabine?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Samakro. »Aber darum sind Sie ja hier und vollbringen technische Wunder, während ich da draußen herumfliege und unseren Feinden klarmache, dass sie sich besser nicht mit der Chiss-Aszendenz anlegen.«
»Wunder ist das richtige Wort«, kommentierte der Mechaniker nach einem weiteren Blick auf seinen Questis. Samakros kleines Kompliment schien ihn aber etwas milder gestimmt zu haben. »Das Mindeste, was Ihr Captain tun könnte, wäre, herzukommen und mich persönlich um diese Wunder zu bitten.«
»Er ist gerade in einer Besprechung mit General Ba’kif.«
Der Mechaniker schnaubte. »Wahrscheinlich planen sie, wie sie das Schiff das nächste Mal demolieren können. Aber gut. Ich werde mich an die Arbeit machen. Vielleicht finde ich irgendwo ja sogar Platz für diesen unnötigen Plasmatank.«
»Wenn irgendjemand es schafft, dann Sie«, sagte Samakro. »Wie viel Zeit werden Sie ungefähr brauchen?«
»Sechs oder sieben Wochen«, brummte der Mechaniker. »Vielleicht ein wenig kürzer, falls Ba’kif oder Supreme Admiral Ja’fosk die Ersatzteile auf die Prioritätenliste setzen.«
»Gut, dann tun Sie, was immer nötig ist, damit sie auf diese Liste kommen«, forderte Samakro. »Und danke.«
»Passen Sie nächstes Mal einfach besser auf Ihr Schiff auf.«
»Was, damit sich der Rat am Ende noch fragt, wozu er Leute wie Sie überhaupt braucht?«, konterte Samakro barsch.
»Ich würde nur zu gern sehen, wie die Konzillare versuchen, eine Hüllenplatte auszutauschen«, lachte der Mechaniker. »Unsere Flotte würde nie wieder fliegen. Und jetzt verschwinden Sie endlich – ich habe ein Schiff zu reparieren.«
Fünfzehn Minuten später brach Samakro mit einem Shuttle zur Oberfläche auf.
Sein Magen war ein harter, kalter Klumpen.
Fliegen Sie absichtlich mitten in irgendwelche Raumschlachten hinein? Er hatte die Bemerkung des Mechanikers als Sarkasmus abgetan … aber tief drinnen wurde Samakro das Gefühl nicht los, dass der Mann recht hatte. Während des Gefechts mit den Lioaoi hatte Thrawn die Springhawk zwei-, vielleicht sogar dreimal tief ins feindliche Schussfeld gesteuert. Die Schäden, die den Mechaniker so verärgerten, stammten fast ausschließlich von diesen Vorstößen.
Hatte Thrawn tatsächlich versucht, weitere Details über die Taktiken der Lioaoi in Erfahrung zu bringen, wie er behauptete? Oder hatte er vielleicht einfach nur einen Fehler gemacht? War es möglich, dass das taktische Genie, welches ihm innerhalb der Flotte zu solcher Bekanntheit verholfen hatte, allmählich abstumpfte?
Thrawn hatte erklärt, dass er Ba’kif um diese Besprechung gebeten hätte. Aber vielleicht war es genau andersherum. Vielleicht war Ba’kif bei der Lektüre des Einsatzberichts dieselbe beunruhigende Tendenz aufgefallen wie Samakro. Vielleicht hatte er Thrawn einbestellt, um ihn zur Rede zu stellen.
Und sollte der General entscheiden, dass Thrawn nicht länger in der Verfassung war, die Springhawk zu kommandieren …
Samakro atmete tief durch. Hör auf damit , ermahnte er sich. Selbst wenn Thrawn seines Kommandos enthoben wurde, hieß das nicht zwangsläufig, dass man Samakro sein Schiff zurückgeben würde. Die Springhawk hatte noch immer einen ruhmreichen Namen, und Ufsa war nicht die einzige Familie, die diesen Namen mit einem ihrer Offiziere verbinden wollte.
Aber … es war ein interessanter Gedanke.
»Ein interessanter Gedanke«, sagte General Ba’kif, die Lippen geschürzt. »Die Frage ist nur, ist er brillant oder wahnsinnig?«
»Ich halte keines dieser Adjektive für passend, Sir«, erwiderte Thrawn; sein Tonfall spiegelte die übliche Mischung aus Respekt und Selbstsicherheit wider. »Das kleine Aufklärungsschiff würde …«
»Wirklich nicht?«, fiel ihm Ba’kif ins Wort.
»Nein, Sir«, erklärte Thrawn ruhig. »Ein Aufklärungsschiff könnte uns drei unbemerkt an allen Patrouillen vorbeibringen, die General Yiv entlang des Weges aufgestellt haben mag. Und die Daten, die wir dort sammeln würden, könnten uns nicht nur ein besseres Verständnis von der Größe der Nikardun-Dynastie geben, sondern auch Hinweise darauf liefern, wie strikt Yiv mit seinen Untergebenen verfährt und in welchem Maße er sie kontrolliert.«
»Was soll das bringen?«
»Nun«, setzte Thrawn an, »wir könnten vielleicht einige der Völker zur Rebellion anstacheln …«
»Das fällt unter die Definition eines Präventivschlags«, entgegnete Ba’kif. »Das Syndicure würde es nie erlauben.«
»… oder wir überzeugen sie, uns Basen und Vorratslager zur Verfügung zu stellen …«
»Einmischung in fremde Kulturen.«
»… oder vielleicht gibt es dort auch Völker, die nicht erobert wurden, und wir erfahren, wie sie sich den Nikardun widersetzen konnten.«
Ba’kif zog nachdenklich die Brauen zusammen. Das könnte in der Tat wichtige Informationen ans Licht bringen. Zudem würde eine reine Aufklärungsmission bei der Aristokra nicht so viel Ablehnung hervorrufen wie Thrawns andere Vorschläge.
Was aber nichts daran änderte, dass es viele Risiken und Variablen gab. Vielleicht zu viele. »Kein halbwegs kompetenter Eroberer würde Unabhängigkeit und Widerstand in seinem Territorium tolerieren«, gab er zu bedenken.
»Es sei denn, er weiß nichts davon«, sagte Thrawn. »In Yivs Fall wäre das vermutlich das einzige Szenario, in dem solcher Dissens fortbestehen könnte.«
»Sie sind also nicht nur unabhängig und leisten Yiv Widerstand, sondern auch vollkommen verschwiegen«, schnaubte Ba’kif. »Die Wahrscheinlichkeit, dass es diese theoretischen Verbündeten gibt, wird immer kleiner, Thrawn. Welche Eigenschaften müssten sie sonst noch haben? Unsichtbarkeit vielleicht? Telepathie?«
»Nichts dergleichen«, erwiderte Thrawn. Entweder hatte er Ba’kifs Sarkasmus nicht registriert, oder er ignorierte ihn. »Welche Mittel sie auch einsetzen, wir können von ihnen lernen. Darum ist es so wichtig, dass wir sie finden.«
»Falls es sie gibt.«
»Falls es sie gibt«, räumte Thrawn ein. »Ich habe bereits mit Hüterin Thalias und Himmelsläuferin Che’ri gesprochen, und sie sind beide bereit, mich zu begleiten.«
»Sie haben vertrauliche Militärangelegenheiten mit nicht autorisiertem Personal besprochen?« Ba’kif hörte, wie seine Stimme tiefer wurde.
»Himmelsläuferinnen und Hüterinnen wissen viele Dinge, über die sonst oft nur ranghohe Offiziere im Bilde sind«, verteidigte sich Thrawn. »Davon abgesehen habe ich keine vertraulichen Informationen preisgegeben. Ich habe sie lediglich gefragt, ob sie mich auf eine längere Reise zu einem noch unbekannten Ziel begleiten würden.«
Ein paar Sekunden starrte Ba’kif den jüngeren Offizier an, während er Optionen abwog, Szenarien durchspielte und Risiken einschätzte. Kein einziger Aspekt von Thrawns Plan erfüllte ihn mit Zuversicht.
Aber falls seine und Ar’alanis Informationen über die Expansionsstrategie der Nikardun auch nur ansatzweise der Wahrheit entsprachen, dann mussten sie etwas unternehmen, und je schneller, desto besser.
»Einige Mitglieder des Syndicure halten Sie für unberechenbar und unkontrollierbar«, sagte er, während er den Questis zu Thrawn zurückschob. »Manchmal bin ich versucht, ihnen recht zu geben.«
»Die Nikardun sind eine ernst zu nehmende Bedrohung«, erklärte Thrawn leise. »Möglicherweise sogar die größte Gefahr, der die Aszendenz sich in jüngster Vergangenheit gegenübergesehen hat. General Yiv ist kompetent und charismatisch, und er unterwirft andere Spezies nicht nur, er macht sie zu seinen Werkzeugen.«
»Sagen wir, Sie finden diese potenziellen Verbündeten, von denen Sie sprachen. Wie wollen Sie das Syndicure zu einer Zusammenarbeit mit ihnen überreden, da wir doch seit Jahrhunderten jegliche Verbindung zu fremden Spezies abgelehnt haben?«
»Zuerst mal sollten wir sie finden«, erwiderte Thrawn. »Um die Aristokra können wir uns danach kümmern.«
Ba’kif seufzte. Unberechenbar und unkontrollierbar … »Sind Sie sicher, dass niemand Ihre Abwesenheit bemerken wird?«
Ein Nicken. »Mid-Captain Samakro beaufsichtigt die Reparaturen an der Springhawk . Das Schiff sollte mindestens sechs Wochen im Dock bleiben.«
»Was haben Sie nur mit dem Schiff angestellt? Oder war das von Anfang an Teil Ihres Plans?« Ba’kif hob die Hand. »Nein, sagen Sie’s nicht. Ich werde ein Aufklärungsschiff für Sie organisieren und alles vorbereiten. Aber weihen Sie Thalias und Che’ri erst in die Mission ein, nachdem Sie abgeflogen sind, verstanden?«
»Verstanden.«
»Eine Sache noch.« Das ganze Gewicht seiner langen Laufbahn schwang in Ba’kifs Worten mit. »Sie setzen nicht nur Ihr eigenes Leben aufs Spiel, sondern auch die Leben dieser beiden Frauen – von denen eine für die Aszendenz von größtem Wert ist. Sind Sie bereit, die Verantwortung für ihren Tod zu übernehmen, sollte die Mission aus dem Ruder laufen?«
»Ich kenne die Risiken«, erklärte Thrawn. »Natürlich möchte ich niemandes Tod auf dem Gewissen haben – aber lieber riskiere ich durch mein Handeln ihr Leben, als dass ich durch meine Passivität die gesamte Aszendenz in Gefahr bringe.«
Ba’kif nickte. Das war genau die Antwort, die er erwartet hatte. Und so ungern er es auch zugab, er musste Thrawn recht geben. »Das Schiff wird bereitstehen, wenn Sie Ihre Reisebegleiter und Vorräte abgeholt haben«, versprach er. »Ich werde Ihre Order mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehen. Niemand außer mir wird von der Mission wissen.«
»Danke, Sir«, sagte Thrawn, als er aufstand. »Und danke auch dafür, dass Sie mich nicht mit der Tatsache belasten wollten, dass Ihre Laufbahn ebenfalls auf dem Spiel steht.«
»Meine Laufbahn können Sie meine Sorge sein lassen«, grollte Ba’kif. »Kümmern Sie sich einfach um Ihre Himmelsläuferin und die Aszendenz. Jetzt gehen Sie schon. Und möge das Glück des Kriegers Sie begleiten.«
»Ich frage mich, worüber sie reden«, murmelte Che’ri. Sie hatte auf ihrem Questis gemalt, aber jetzt reckte sie den Hals in Richtung General Ba’kifs Büro, mehrere Meter den Gang hinab, so als könnte sie auf magische Weise alles hören, was hinter der verschlossenen Tür vor sich ging, wenn ihre Ohren nur ein paar Zentimeter näher herankamen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Thalias. Kurz überlegte sie: Sollte sie das Mädchen daran erinnern, dass sie diese Frage schon mehrere Male gestellt hatte und sich an der Antwort nichts ändern würde, bis Thrawn das Büro wieder verließ? Doch letztlich entschied sie sich dagegen.
Nicht dass es sonderlich schwer war, sich das Thema des Gesprächs vorzustellen. Thrawns Frage, ob sie und Che’ri bereit wären, ihn auf einer geheimen Mission zu begleiten, wäre schon kurios genug gewesen, auch wenn er nicht unmittelbar danach ein Treffen mit General Ba’kif gehabt hätte. Aber er hatte ein Treffen mit Ba’kif, und die einzig logische Schlussfolgerung war, dass die beiden die Details ebenjener geheimen Mission besprachen.
»Sie kommen«, flüsterte Che’ri plötzlich.
Thalias blickte zu der noch immer geschlossenen Tür hinüber, und eine bittersüße Erinnerung stieg in ihr hoch. Als sie in Che’ris Alter gewesen war, hatte sie denselben Trick beherrscht: Sie hatte das Vierte Auge eingesetzt, um ein paar Sekunden im Voraus zu erkennen, was gleich geschehen würde. Die meisten Leute – oder zumindest die, die regelmäßig mit Himmelsläuferinnen zu tun hatten – achteten nicht weiter darauf; aber einige andere hatten sie jedes Mal aufs Neue entgeistert angestarrt. Diese Mischung aus Faszination und Grauen auf ihre Gesichter zu zaubern war eines von Thalias’ liebsten Hobbys gewesen.
Die Tür öffnete sich, und Thrawn trat auf den Korridor hinaus. Ba’kif folgte ihm, blieb aber auf der Schwelle stehen, und die beiden Männer wechselten noch ein paar unverständliche Worte, ehe Thrawn sich mit einem Nicken herumdrehte und auf Thalias und Che’ri zukam.
»Guten Tag, Hüterin Thalias.«
Sie zuckte zusammen. Syndic Thurfian stand hinter ihr, auf den Lippen dieses Lächeln, das sie schon viel zu oft gesehen hatte; es wirkte nie wirklich freundlich, und stets war es der Vorbote schlechter Neuigkeiten. »Guten Tag, Syndic«, sagte sie. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Falls Sie ein paar Minuten Zeit haben, würde ich Sie gerne in mein Büro bitten«, erklärte Thurfian. »Es gibt da eine Sache, die wir besprechen müssen.«
Thalias’ Magen zog sich zusammen. Warum ausgerechnet jetzt? »Es tut mir leid, aber der Commander hat mich herbestellt«, sagte sie in möglichst neutralem Tonfall, während sie auf den näher kommenden Thrawn deutete. »Ich glaube, er hat eine offizielle Aufgabe für uns.«
»Das wage ich zu bezweifeln.« Thurfian lächelte noch immer. »Sie haben wohl vergessen, dass sein Schiff gerade im Dock ist und überaus kostspieligen Reparaturen unterzogen wird. Sofern General Ba’kif kein neues Schiff für ihn aus dem Ärmel geschüttelt hat, kann Senior-Captain Thrawn gar keine Verwendung für Sie haben.«
»Unterschätzen Sie nicht Captain Thrawns Einfallsreichtum«, entgegnete Thalias. Sie konnte spüren, wie sich Schweiß unter ihrem Kragen sammelte. Thurfian hatte sich wirklich den denkbar schlechtesten Augenblick für seinen Überfall ausgesucht. »Davon abgesehen bin ich seinem Kommando unterstellt, nicht Ihrem.«
»Dann fragen wir ihn doch einfach.« Thurfian blickte über ihren Kopf hinweg und sagte: »Senior-Captain Thrawn!« Die Freude in seiner Stimme war ebenso gekünstelt wie sein Lächeln. »Ich müsste mir für eine Stunde oder so Ihre Hüterin ausborgen. Sie haben doch nichts dagegen, oder?«
»Keineswegs«, antwortete Thrawn nach einem kurzen Blick in Thalias’ Richtung. »Ich nehme an, Che’ri soll mit ihr kommen?«
Thurfian zögerte kurz. »Äh, nein, nur Thalias. Warum sollte ich Che’ri brauchen?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Thrawn. »Darum habe ich gefragt. Aber es ist gut, dass Sie sie nicht brauchen. Während der letzten Wochen musste sie immer wieder ihren Unterricht vernachlässigen, und ich hatte gehofft, dass Sie den Stoff aufholen kann, jetzt, da die Springhawk repariert wird.«
Thurfians Stirn glättete sich. »Oh. Natürlich.«
»Und ich sollte ihr dabei helfen«, sagte Thalias hastig. Ihre Gedanken überschlugen sich auf der Suche nach einer Ausrede.
»Es wird nicht lange dauern«, versprach Thurfian. »Bis später, Captain Thrawn.«
»Bis später.«
Der Syndicure-Komplex war ungefähr hundert Kilometer vom Flottenhauptquartier entfernt, was einer zwanzigminütigen Fahrt mit einer der Tunnelbahnen entsprach. Weder Thalias noch Thurfian sprachen während dieser Fahrt, da sich in dem Wagen noch ein halbes Dutzend anderer Offiziere und Aristokra befand, die eine Unterhaltung belauschen mochten.
Sie hatten ihr Ziel schon fast erreicht, als Thalias endlich eine gute Idee kam.
Na ja, wohl eher verzweifelt also gut. Aber es war eine Idee.
Sie zog sich zwei Minuten auf eine Toilette zurück, um alles vorzubereiten. Zwei Minuten, die ihr allen Mut abrangen. Doch dann war es vollbracht, und von diesem Moment an konnte sie nichts mehr tun, außer zu hoffen, dass sie nicht gerade ihr eigenes Schicksal besiegelt hatte.
Die Bahn erreichte die Haltestation, und Thurfian führte sie – noch immer in Schweigen gehüllt – durch die Korridore der Macht zu seinem Büro.
»Also gut, da wären wir«, sagte Thalias, nachdem er sie in sein Büro gewunken und ihr einen Stuhl angeboten hatte. »Was soll das alles?«
»Oh, bitte.« Er schloss die Tür, ging um sie herum und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Tun Sie nicht so, als hätten Sie keine Ahnung. Sie haben mir einen Bericht versprochen. Und jetzt würde ich ihn gerne hören.«
Mit diesen Worten aktivierte er seinen Questis und schob ihn über die Tischplatte auf Thalias zu. »Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen. Alles, was Sie in Erfahrung gebracht haben. Alles über Senior-Captain Thrawn.«
Eine Minute lang saß die junge Frau mit regloser Miene da, ihr Körper unnatürlich steif. Es war offensichtlich, dass sie nach einem Ausweg aus der Falle suchte.
Natürlich war sie nicht ganz aus freiem Willen in diese Falle getappt. Hätte sie Thurfians Angebot nicht angenommen, wäre er geradewegs zurück ins Personalbüro marschiert und hätte ihr den Posten als Hüterin an Bord der Springhawk wieder aberkannt. Sie hatte also keine andere Wahl gehabt, als sich einverstanden zu erklären.
Allerdings schien sie geglaubt zu haben, dass sie sich vor ihrer Verpflichtung drücken könnte. Ihre Körperhaltung und ihre Mimik verrieten, dass sie es selbst jetzt noch glaubte. Oder zumindest hoffte.
Pech für sie. Ihre Hoffnungen interessierten ihn nicht, ebenso wenig ihre Vorbehalte. Ihn interessierte nur, was Thrawn im Schilde führte. Thurfian war die Spielchen des Senior-Captains leid, und er brauchte einen Knüppel, den er dem Emporkömmling zwischen die Beine werfen konnte. Thalias’ detailliertes Wissen über seine jüngsten Aktionen könnte dieser Knüppel sein. »Kommen Sie schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit«, sagte er in die angespannte Stille hinein. »Je früher wir hier fertig sind, desto früher können Sie zu Ihrem großen Helden zurückkehren.«
»Ich dachte, das könnte warten, bis diese ganze Operation abgeschlossen ist«, murmelte Thalias. Sie machte keine Anstalten, den Questis zu nehmen.
»Ich habe nie einen Zeitplan vorgegeben«, erinnerte Thurfian sie. »Die Abmachung war ganz klar: Ich bringe Sie an Bord der Springhawk , und Sie werden meine Spionin.«
Das Wort ließ Thalias sichtlich zusammenzucken, aber auch das interessierte Thurfian nicht. »Alles, was Sie über Senior-Captain Thrawn wissen müssen, steht in den offiziellen Akten«, erklärte sie. »Wenn Sie danach noch weitere Fragen haben, will ich gerne versuchen, sie zu beantworten.«
»Ich habe seine Akte gelesen«, konterte er. »Und Sie versuchen, mich hinzuhalten.«
»Ich halte Sie nicht hin.« Thalias stand auf. »Aber ich habe andere Verpflichtungen. Falls Sie mich also entschuldigen …«
»Setzen Sie sich!« Thurfians Stimme war so kalt wie die Oberfläche von Csilla. »Sie wollen nicht über Thrawn sprechen? Fein. Dann reden wir eben über Ihre Familie.«
»Meinen Sie nicht eher unsere Familie?«
»Ich meine Ihre ursprüngliche Familie«, lächelte er. »Die Familie, in die Sie hineingeboren wurden. Die für Sie gesorgt hat, bis man Sie fortbrachte, um eine Himmelsläuferin aus Ihnen zu machen.«
Thalias blieb auf halbem Weg zwischen ihrem Stuhl und der Tür stehen, und widerstreitende Emotionen huschten über ihr Gesicht. Natürlich konnte sie sich nicht an diese Jahre erinnern, aber Thurfian wusste, dass die Ungewissheit ihm helfen würde. »Was ist damit?«, fragte sie schließlich.
Er verbarg ein Lächeln. Sie versuchte, ruhig und desinteressiert zu klingen, aber die angespannten Muskeln an ihrem Hals und ihren Wangen verrieten ihr plötzliches Interesse. »Ich dachte, Sie wollen vielleicht wissen, wie es ihnen so geht«, sagte er. »Und wie Sie ihnen helfen könnten.« Er hielt inne und wartete auf eine Reaktion.
Doch Thalias blieb stumm. Es würde nicht leicht werden, sie zur Einsicht zu bringen. Zum Glück hatte Thurfian jede Menge Erfahrung darin, Personen wie sie zu manipulieren.
»Es geht ihnen nicht allzu gut, müssen Sie wissen«, fuhr er fort. »Die Familie war schon immer arm, aber der jüngste Preisverfall bestimmter Mineralien hat sie schwer getroffen. Die Mitth-Familie verfügt über die nötigen Mittel, um ihr wieder auf die Beine zu helfen.«
»Ich erinnere mich nicht mal an sie.«
»Natürlich nicht«, nickte Thurfian. »Sie waren zu jung, als man Sie mitgenommen hat. Aber ist das wirklich wichtig? Es ist und bleibt Ihre Familie. Ihr Blut.«
»Die Mitth sind jetzt meine Familie.«
»Vielleicht.« Er zog die Schultern hoch. »Vielleicht auch nicht.«
Thalias’ Augen wurden schmal. »Was soll das heißen? Ich bin ein vollwertiges Mitglied der Mitth.«
»Wohl kaum«, entgegnete Thurfian. »Sie sind ein Meriten-Adoptivling und ein relativ neuer obendrein. Bevor Sie sich ein vollwertiges Mitglied nennen können, haben Sie noch einen langen Weg vor sich.«
Thalias’ Blick wanderte zu dem Questis. »Wollen Sie damit andeuten, meine Position bei den Mitth steht und fällt mit meinem Verrat an Thrawn?«
»Verrat? Nicht doch.« Seine Empörung war nur halb gespielt. »Thrawn ist ein Mitglied unserer Familie« – Zumindest für den Moment , wie er in Gedanken hinzufügte –, »und sich über ihn zu unterhalten kommt wohl kaum einem Verrat gleich. Im Gegenteil. Seine fragwürdigen Aktivitäten zu verschweigen, das wäre Verrat.«
»Dann lassen Sie es mich kurz machen«, sagte Thalias. »Senior-Captain Thrawn hat in meiner Gegenwart nie etwas Fragwürdiges, Illegales oder Unethisches getan. Ebenso wenig hat er je etwas getan, was dem Ansehen der Mitth schaden würde. Zufrieden?«
Thurfian stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Sie enttäuschen mich, Thalias. Ich hatte gehofft, dass es für Sie eine Zukunft bei den Mitth gibt. Aber falls Sie nicht mal bereit sind, unsere Familie vor einer potenziellen Bedrohung zu schützen, gibt es keinen Grund, warum Sie noch hier sein sollten. Nun gut, es ist Ihre Entscheidung. Dann werde ich Thrawn von nun an eben selbst im Auge behalten.«
Er zog eine Augenbraue nach oben. »Mir ist aufgefallen, dass er sich schon wieder mit General Ba’kif unterhalten hat, also sollte ich besser gleich damit anfangen. Heute Abend werde ich sicher ein paar Stunden Zeit finden, um Sie aus der Familie ausgliedern zu lassen.«
Thalias versuchte, ihre Reaktion zu verbergen, aber sie schaffte es nicht. Seine beifällige Drohung, sie wieder zu ihrer alten Familie zurückzuschicken, zeigte Wirkung. Er würde ihr eine Stunde Zeit geben, damit sie darüber nachdenken konnte, wie ein Leben ohne die Mitth wohl aussehen würde, bevor er ihr eine letzte Chance gab …
Unvermittelt zog sie ihren eigenen Questis hervor. »Also gut«, murmelte sie. »Sie haben gewonnen.«
Thurfian musste ein triumphierendes Lächeln unterdrücken. Wie einfach es doch manchmal sein konnte. »Sehr schön«, sagte er, wobei er sie wieder zu ihrem Stuhl winkte. »Das heißt, jetzt, da ich so darüber nachdenke … Vielleicht wäre es besser, wir unterhalten uns zuerst mit General Ba’kif. Sie können ja unterwegs mit Ihrem Bericht anfangen.«
»Ja, wir werden eine kleine Reise machen. Aber nicht zum Flottenhauptquartier.« Sie hob ihren Questis. »Sondern zur Mitth-Heimstatt.«
Thurfians Triumphgefühl verblasste. »Was?«, fragte er verwirrt.
»Sie haben es selbst gesagt«, erinnerte sie ihn. »Ich habe keine stabile Position innerhalb der Familie. Also habe ich Vorkehrungen getroffen, um das zu ändern.«
Das Blut schien plötzlich kälter durch seine Adern zu fließen. »Und wie?«, fragte er. Falls sie den falschen Leuten von seinem Interesse an Thrawn erzählt hatte …
Nein, das konnte es nicht sein. Dafür wussten Meriten-Adoptivlinge nicht genug über das labyrinthartige Geflecht der oberen Familienränge. Oder? »Falls Sie glauben, Sie könnten irgendjemand beschwatzen, der über mir steht …«
»Ich werde niemanden beschwatzen«, verkündete sie. »Ich werde die Prüfungen ablegen.«
Er starrte sie an. »Die Prüfungen ?«
»Ein Meriten-Adoptivling kann jederzeit darum bitten, die Prüfungen abzulegen«, erklärte Thalias. »Und falls er sie besteht, steigt er in den Rang eines Geprüften auf.«
»Sie müssen mich nicht über die Politik meiner eigenen Familie belehren«, entgegnete Thurfian steif. »Aber ich sollte Sie vielleicht daran erinnern, dass Sie Ihren Adoptivstatus verlieren, falls Sie die Prüfungen nicht bestehen.«
»Dessen bin ich mir bewusst.« Er hörte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme, dennoch war ihr Kinn entschlossen vorgereckt. »Aber wollten Sie mich nicht sowieso aus der Familie ausschließen?« Sie hob erneut ihren Questis. »Ich habe beim Büro des Patriarchen ein Gesuch eingereicht, und es wurde akzeptiert.«
»Fein«, presste Thurfian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Zur Hölle mit dieser Frau. »Ich werde Ihnen sagen, wie Sie zur Heimstatt kommen …«
»Das Büro des Patriarchen erwartet, dass Sie mich begleiten.«
Er stieß einen gezischten Fluch aus. Sie hatte ihn vollkommen ausmanövriert.
Sie … oder Thrawn.
Hatte er ihre Konfrontation vielleicht vorausgeahnt? Thurfian konnte sich nicht vorstellen, dass Thalias diese List allein ausgeheckt hatte. Aber falls wirklich Thrawn dahintersteckte, wie hatte er sie dann überredet, ihre Zukunft bei den Mitth aufs Spiel zu setzen?
Nun, was immer er getan hatte, es war ein weiterer Grund, warum dieser Mann aufgehalten werden musste.
»Natürlich«, sagte er, während er aufstand. »Ich würde es mir um nichts in der Welt entgehen lassen.«
Che’ri war nie gut darin gewesen, die Mienen von Erwachsenen zu interpretieren, aber sogar sie erkannte die Überraschung und die Sorge auf Thrawns Gesicht, als er seinen Questis beiseitelegte. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie nervös.
Er zögerte einen Moment, bevor er antwortete: »Offenbar wird Hüterin Thalias uns nicht begleiten.«
»Oh«, machte Che’ri. Sie blickte an ihm vorbei zu dem kleinen Schiff, zu dem er sie geführt hatte. Die letzten Kisten wurden gerade an Bord gebracht, und er hatte gesagt, dass sie starten würden, sobald Thalias hier wäre.
Und jetzt kam sie nicht? »Was sollen wir tun?«
Thrawn drehte sich ebenfalls zu dem Schiff herum. »Diese Mission ist von großer Wichtigkeit, Che’ri«, erklärte er ruhig. »Thalias hat nicht viel gesagt – ich nehme an, sie konnte nicht frei sprechen –, aber sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie die nächsten paar Tage beschäftigt sein wird.«
»Fliegen wir trotzdem?«, fragte sie, während sie weiter versuchte, in seinem Gesicht zu lesen.
»Das liegt bei dir.« Er blickte zu ihr hinab. »Bist du bereit, mit mir zu kommen – nur wir zwei, in den Tiefen des Chaos?«
Einen Moment lang waren Che’ris Mund, ihre Zunge und ihr Gehirn wie eingefroren. Eine Himmelsläuferin ging nie allein irgendwohin, das war die erste Regel und das erste Versprechen, das man ihr zu Beginn ihrer Ausbildung gemacht hatte. Es gab nur wenige Mädchen wie sie, und sie war zu wertvoll, um sie auf einem Schiff einzusetzen, das kein Schlachtkreuzer oder diplomatischer Transporter war. Was Thrawn von ihr verlangte, hatte nie zuvor jemand getan. Nie.
Aber er sagte, dass es wichtig wäre. Offenbar wichtig genug, um alle Regeln zu brechen. »Dürfen wir das denn?«, fragte sie zögerlich.
Er zuckte mit den Schultern, und ein schmales Lächeln huschte über seine Lippen. »Physisch und taktisch? Natürlich«, erklärte er. »Ich kann fliegen, du kannst navigieren, und das Schiff ist ausreichend bewaffnet, um die Schwierigkeiten zu überwinden, die uns höchstwahrscheinlich erwarten.«
»Ich meine, werden wir deswegen Ärger kriegen?«
»Du nicht«, versicherte er ihr. »Himmelsläuferinnen genießen praktisch Immunität. Man wird dich vielleicht tadeln, aber das ist auch alles.« Er machte eine Pause. »Falls es dir weiterhilft, Thalias hat nicht gesagt, dass wir auf sie warten sollen, und auch nicht, dass wir die Mission aufgeben sollen.«
»Was passiert, wenn ich nicht mitkomme?«
»Dann muss ich die Mission aufgeben«, antwortete Thrawn sachlich. »Eine Reise, die eine Himmelsläuferin innerhalb weniger Tage zurücklegen könnte, würde Wochen dauern, wenn man auf Mikrosprünge angewiesen ist. So viel Zeit habe ich nicht.« Er presste die Lippen zusammen. »Und die Aszendenz vermutlich auch nicht.«
Diese Taktik kannte Che’ri nur zu gut. Erwachsene stellten oft vage Drohungen oder noch vagere Versprechen in den Raum; sie deuteten an, dass irgendetwas Schreckliches passieren würde, falls sie keine weitere Stunde in ihrer Trance blieb oder auf ihre Ruhetage verzichtete oder was auch immer.
Doch als sie in Thrawns Gesicht hochblickte, überkam sie das unheimliche Gefühl, dass er keine Spielchen mit ihr spielte. Ihr kamen sogar Zweifel, ob er überhaupt wusste, wie man dieses Spielchen spielte.
Und falls Thalias wirklich erwartete, dass sie allein mit Thrawn ging …
»Also gut«, sagte sie. »Könnten wir …? Schon gut.«
»Was?«
»Ich hab mich nur gefragt, ob wir ein paar bunte Graph-Marker mitnehmen könnten, das ist alles.« Che’ri spürte, wie ihre Wangen vor Scham heiß wurden. Von all den törichten Dingen, um die sie hätte bitten können …
»Ich habe bereits zwei Schachteln an Bord bringen lassen«, sagte Thrawn. »Und vier Zeichenblöcke, auf denen du malen kannst.«
Che’ri blinzelte. »Oh. Ich … danke.«
»Gern geschehen.« Thrawn deutete auf das Schiff. »Wollen wir?«
»Du bist besorgt.« Thrawns Stimme durchbrach die Stille im Cockpit des Aufklärungsschiffes.
Che’ri antwortete nicht, hielt die Augen fest auf die schillernden Sterne vor dem Aussichtsfenster gerichtet und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie falsch sich das alles anfühlte.
Himmelsläuferinnen flogen nicht allein. Nie. Sie hatte immer eine Mamisch dabei, jemanden, der auf sie aufpasste und ihr zu essen machte und sie tröstete, wenn sie aus einem Albtraum erwachte. Immer.
Thalias war nicht hier. Che’ri hatte gehofft, dass sie in letzten Minute noch auftauchen und verlangen würde, dass Thrawn sie mitnahm.
Aber niemand war gekommen, als die Rampe sich schloss und die Startkontrolle ihnen grünes Licht gab, und dann war Thrawn aus der kalten blauen Atmosphäre von Csilla in die noch kältere Schwärze des Weltalls geflogen.
Nur sie beide waren an Bord. Keine Offiziere. Keine Krieger.
Keine Mamisch.
Che’ri hatte sich nicht immer gut mit ihren Hüterinnen verstanden; ein paar hatte sie überhaupt nicht leiden können. Aber selbst die schlimmste von ihnen wäre ihr jetzt lieber, als diese Reise allein durchzustehen.
»Sie haben dich nie verstanden, richtig?«, fragte Thrawn, als die Stille sich wieder in die Länge zog.
Che’ri zog die Nase kraus. Als hätte er irgendeine Ahnung davon, wie das war.
»Du würdest gern mehr tun, als sie dich lassen«, fuhr er fort. »Und du möchtest wissen, was mit dir wird, wenn du eines Tages keine Himmelsläuferin mehr bist. Das beschäftigt dich.«
»Ich weiß, was passieren wird«, entgegnete sie barsch. »Sie haben es mir gesagt. Eine Familie wird mich adoptieren.«
»Das ist, was die Familie tun wird«, entgegnete Thrawn. »Es ist nicht, was du tun wirst. Du würdest gerne fliegen, habe ich recht?«
Che’ri runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie das?«
»Die Bilder, die du mit Thalias’ Markern gemalt hast«, erklärte er. »Vögel und Blitzfliegen sind deine Lieblingsmotive.«
»Sie sind hübsch«, sagte Che’ri steif. »Viele Kinder malen Blitzfliegen.«
»Aber du malst auch Landschaften und Seen so, wie man sie aus der Luft sieht«, erklärte Thrawn ruhig. »Das tun nicht viele Kinder in deinem Alter.«
»Ich bin eine Himmelsläuferin«, murmelte sie. Thalias hatte kein Recht gehabt, Thrawn ihre Bilder zu zeigen. »Ich sehe ständig Dinge aus der Luft.«
»Nicht wirklich.« Thrawn hielt inne, um ein paar Schalter an seiner Konsole umzulegen.
Plötzlich gingen alle Lichter vor ihm aus, und stattdessen erwachte die Konsole vor Che’ri zu leuchtendem Leben.
Sie ruckte hoch. Was bei den …?
»Vor dir ist das Steuerhorn«, sagte Thrawn. »Leg eine Hand auf die linke Seite und eine auf die rechte.«
»Was?« Sie starrte wie benommen auf das Steuerhorn und die glühenden Lämpchen.
»Ich werde dir zeigen, wie man fliegt«, erklärte er. »Betrachte das hier als deine erste Lektion.«
»Sie verstehen nicht«, stieß Che’ri hervor. Ihre Stimme war ein angsterfülltes Flehen. »Ich habe Albträume von solchen Sachen!«
»Albträume über das Fliegen?«
»Über das Abstürzen.« Ihr Herz pochte wie wild. »Ich stürze ab, ich werde vom Wind herumgewirbelt, und dann ertrinke ich …«
»Kannst du schwimmen?«
»Nein«, wimmerte sie. »Vielleicht ein bisschen.«
»Siehst du?«, sagte Thrawn. »Es ist die Furcht, die diese Albträume verursacht. Furcht und Hilflosigkeit.«
Inmitten ihrer betäubenden Panik stieg Wut in ihr hoch. Erst Thalias und jetzt Thrawn. Warum glaubte jeder , mehr über ihre Albträume zu wissen als sie selbst?
»Du fühlst dich im Wasser hilflos, also träumst du, dass du ertrinkst. Du fühlst dich in der Luft hilflos, also träumst du, dass du abstürzt.« Er deutete auf das Steuerhorn. »Machen wir Schluss mit der Hilflosigkeit.«
Che’ri starrte ihn an, und ihr wurde klar, dass das kein Scherz war. Er meinte es wirklich ernst. Sie richtete ihre geweiteten Augen wieder auf die Konsole. Was sollte sie nur tun?
»Nimm das Steuer.«
Mit einem Mal wurde ihr noch etwas klar. Er gab ihr keine Befehle. Er ermutigte sie.
Und sie hatte wirklich schon immer fliegen wollen.
Che’ri biss die Zähne zusammen und schloss vorsichtig die Finger um das Steuerhorn.
»Gut«, sagte Thrawn. »Jetzt beweg es ganz leicht nach links.«
»Nach Backbord«, korrigierte Che’ri. Den Begriff hatte sie schon oft genug gehört.
»Nach Backbord«, stimmte er mit einem Lächeln zu. »Siehst du, wie sich die Position der Sterne verändert?«
Sie nickte. Ihr Schiff hatte sich ein wenig nach links geneigt, in die gleiche Richtung, in die sie das Steuerhorn gedreht hatte.
»Die Anzeige über dem Steuer – die da – zeigt dir den genauen Winkel deiner Bewegung. Jetzt drück das Steuer ein kleines bisschen nach vorne.«
Diesmal verriet ihr die Bewegung der Sterne, dass sich die Nase des Schiffes nach unten gesenkt hatte. »Kommen wir nicht vom Kurs ab?«
»Das können wir ganz leicht wieder korrigieren«, versicherte Thrawn ihr. »Jetzt zu diesen Reglern hier. Der linke kontrolliert den Schub. Im Moment ist er auf feine Korrekturen eingestellt, das heißt, wenn du ihn bewegst, wird das Schiff ein klein wenig schneller oder langsamer. Indem du an diesem Schalter drehst, kannst du die Einstellung ändern. Aber jetzt drück den Regler erst mal ein bisschen nach vorne – nur ein kleines bisschen. Siehst du die Anzeige auf dem Display? Die zeigt dir, wie sich die Geschwindigkeit ändert.«
Che’ri war schwindelig, als sie ihre erste Lektion eine halbe Stunde später beendeten. Aber es war eine aufregende Form von Schwindel, und sie verspürte keinerlei Müdigkeit während der nächsten drei Stunden, als sie ihr Viertes Auge einsetzte, um das Schiff zum Rand des Chaos zu navigieren.
Nachdem sie fertig war, aßen sie gemeinsam zu Abend, und Che’ri fragte, ob Thrawn ihr morgen wieder eine Flugstunde geben würde.
In dieser Nacht träumte sie vom Fliegen, aber zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, war es kein Albtraum.