18

Selbst mit einer der schnellen Expressbahnen, die den Neun Familien vorbehalten waren, dauerte die Reise zur Mitth-Heim­statt beinahe fünf Stunden. Während dieser Zeit wechselten Thalias und Thurfian nur ein Mal Worte, als Thurfian sie nach der Hälfte der Fahrt fragte, ob sie etwas essen wolle. Sie lehnte ab, nicht weil sie keinen Hunger hatte – den hatte sie nämlich –, sondern weil sie ihm nichts schuldig sein wollte. Der Rest der Reise verlief in tiefem Schweigen.

Thalias war noch nie in der gewaltigen Höhle gewesen, in der die Mitth-Familie ihren Hauptsitz auf Csilla hatte. Aber sie hatte Bilder gesehen und Karten studiert, und als sie den letzten Kontrollpunkt passierten, war sie sicher, eine ziemlich genaue Vorstellung von dem zu haben, was sie erwartete.

Doch sie irrte sich.

Zum einen war die Höhle größer, als sie gedacht hatte. Viel größer. Groß genug, dass sich Wolken unter der Decke bildeten. Und das Gestein dieser Decke war so blau, dass man den Eindruck gewinnen könnte, die Heimstatt befände sich unter freiem Himmel. Dieser Eindruck wurde noch durch die Scheibe gelber Helligkeit verstärkt, welche zwischen den Wolken hervorlinste. Auf beiden Seiten der Bahnschiene befanden sich kleine Seen, und der auf der rechten Seite war groß genug, dass der leichte Wind, der durch die Felder und Obstgärten ringsum wehte, kleine Wellen auf seiner Oberfläche aufwarf.

Ein Dutzend Gebäude war rings um diese Seen verteilt, ein paar standen dicht zusammen, der Rest war weiter verstreut. Bei vier handelte es sich offensichtlich um Lagerhütten, sechs sahen aus wie Wohnhäuser, und die beiden größten waren Villen, in denen drei oder vier Familien Platz finden könnten. In der Ferne vor der hinteren Wand der Höhle stieg der Boden steil an, sodass der Eindruck von Gebirgszügen entstand, deren Gipfel bis in die dunstigen Wolken ragten.

Und in der Mitte der Höhle erhob sich majestätisch der Familiensitz über dem Grasland und den Gärten.

Er war riesig, mindestens acht Stockwerke hoch, mit Seitenflügeln, die sich über mehrere Hundert Meter erstreckten. Das Ganze erinnerte ein wenig an die alten Festungen aus der Zeit, bevor die Chiss die Raumfahrt beherrschten. Natürlich gab es hier keine Schießscharten und Kanonenstellungen, die jene Festungen so einschüchternd gemacht hatten. An ihrer Stelle erhob sich verzierter Stein, schimmerndes Glas und poliertes Metall. Kleine Beobachtungsplattformen krönten die Ecken des asymmetrischen Hauptdachs, dessen Ziegel ein prächtiges, im künstlichen Sonnenlicht strahlendes Mosaik ergaben.

»Ich nehme an, Sie sind zum ersten Mal hier«, sagte Thurfian.

Thalias fand ihre Stimme wieder. »Ja. Bislang habe ich nur den Familiensitz auf Avidich besucht. Die Bilder werden der Realität nicht gerecht.«

»Natürlich nicht«, erwiderte Thurfian. »Detaillierte Bilder der Heimstatt könnten ihre genaue Position verraten, deswegen werden alle Aufnahmen ein wenig verfremdet.«

»Das hier ist doch schon immer das Land der Mitth gewesen.«

»Richtig, aber dieses Land umfasst sechstausend Quadrat­kilometer und Dutzende Höhlen wie diese, die alle mit Tunnelbahnen versehen sind. Vertrauen Sie mir: Niemand betritt die Heimstatt der Mitth, wenn die Familie es nicht will. Das ist übrigens Ihre letzte Chance, es sich anders zu überlegen und die Prüfung abzublasen.«

Thalias reckte das Kinn vor. »Ich bin bereit.«

»Das wird sich ja zeigen.«

Die Bahngondel kam hundert Meter vor dem Anwesen zum Stehen, neben einer Plattform, deren Pflastersteine ein riesiges Mosaik formten. »Finden Sie den Weg. Falls Sie es schaffen, wird man Sie drinnen erwarten. Falls nicht, steigen Sie wieder in die Bahn, und man bringt Sie zurück zum Raumhafen.« Er stieg aus, marschierte um den Rand der Plattform herum und verschwand in Richtung Haupthaus.

Thalias stieg ebenfalls aus und blickte stirnrunzelnd auf das Mosaik hinab. Es kam ihr vertraut vor …

Und dann erkannte sie es: eine stilisierte Karte der Aszendenz.

Finden Sie den Weg , hatte Thurfian gesagt. Meinte er damit, dass sie ihre Hoffnungen für die Zukunft ausloten sollte?

Nein, natürlich nicht. Die gesamte Heimstatt war ein Schrein der glorreichen Historie der Mitth. Hier ging es nicht um ihre Zukunft; sie sollte den Pfad nachverfolgen, der sie hergeführt hatte.

Thalias atmete tief ein. Sie konnte sich kaum noch an ihr Leben vor dem Himmelsläufer-Korps erinnern, aber sie wusste, dass sie auf der Kolonialstation auf Camco zur Welt gekommen war. Das war … dort. Vorsichtig betrat sie die Karte, wobei sie darauf achtete, keine anderen Planeten zu berühren, bis sie mit beiden Füßen auf der Markierung stand, die Camco repräsentierte.

Einen Moment lang geschah nichts, und Thalias überlegte sich schon, ob sie sich vorbeugen und den Pflasterstein mit der Hand berühren sollte, als der Bereich um den Planeten grün aufleuchtete.

Sie atmete erleichtert auf, während der Schein verblasste. So weit, so gut. Von Camco war sie zum Komplex des Expansionskommandos auf Naporar gebracht worden, um dort zur Himmelsläuferin ausgebildet zu werden. Sie ging zu der Repräsentation Naporars hinüber, wobei sie einmal mehr aufpasste, nicht auf einen anderen Planeten zu treten. Als sie ihr Ziel erreicht, wurde sie mit einem weiteren grünen Glühen belohnt. Weiter im Text …

Sie erstarrte. Nach Naporar hatte sie als Himmelsläuferin eine Reihe von Reisen außerhalb der Aszendenz begleitet, hatte militärische und diplomatische Schiffe zu fremden Welten und Völkern geführt.

Aber keine dieser Welten war auf der Karte verzeichnet. Sollte sie zu den Chiss-Systemen gehen, die diesen Zielen am nächsten lagen?

Nein, das konnte es nicht sein. Das Mosaik war eine flache Darstellung einer dreidimensionalen Region, und es ließ sich unmöglich sagen, welcher Chiss-Planet irgendeiner außerirdischen Zivilisation am nächsten lag. Also, was sollte sie dann tun?

Sie sah zu dem Anwesen hinüber. Geschichte … oder genauer, die Geschichte der Aszendenz .

Ihr Blick kehrte zu der Karte zurück. Die letzte Reise, die sie als Himmelsläuferin unternommen hatte – die Reise, auf der sie Thrawn kennengelernt hatte –, war von Rentor nach Naporar verlaufen. Sie ging zu Rentor hinüber und stellte sich mit angehaltenem Atem auf den Planeten.

Zu ihrer Erleichterung leuchtete das Mosaik um ihre Füße grün auf und dann noch einmal, als sie zu Rentor huschte.

Gut. Ihre nächste Reise hatte sie nach Avidich geführt, zu einem Treffen mit dem Aristokra der Mitth, der sie schließlich in die Familie aufgenommen hatte. Und danach war sie nach Jamiron geflogen, wo sie ihre Schulausbildung erhalten hatte.

Danach folgten noch drei weitere Planeten, und jedes grüne Leuchten brachte fast vergessene Erinnerungen an Städte und Landschaftsmerkmale, an Gerüche und Geräusche zurück. Als sie schließlich auf Csilla trat, hatte sie beinahe das Gefühl, als wäre sie wirklich noch einmal an all diesen unterschiedlichen Orten gewesen.

Der Boden leuchtete grün. »Willkommen, Mitth’ali’astow«, ertönte eine körperlose Stimme, die direkt aus dem Mosaik zu stammen schien. »Gehen Sie weiter zur Heimstatt, um Ihre nächste Prüfung zu beginnen.«

Thalias sog tief den Atem ein. »Ich gehorche«, sagte sie. In ihrem Kopf schwirrten noch immer Erinnerungen, während sie das Mosaik überquerte und dann durch das weiche, warme Gras auf das Haus zuging.

Die Prüfungen wollten kein Ende nehmen.

Die ersten vier waren relativ einfach gewesen: schriftliche Tests ihrer allgemeinen Bildung, ihrer Problemlösungskompetenz und ihres Wissens über die Geschichte der Aszendenz. Es fühlte sich an, als wäre sie wieder in der Schule, und auch wenn Thalias nur eine durchschnittliche Schülerin gewesen war, hatte sie es doch stets geliebt zu lernen. Folglich meisterte sie diese Prüfungen mit fliegenden Fahnen, und sie fragte sich schon, ob die anderen Prüfungen auch so einfach sein würden.

Sie waren es nicht.

Als Nächstes sollte sie einen drei Meter breiten Wasserkanal überqueren, ohne nass zu werden, und ihre einzigen Hilfsmittel waren ein paar Bretter, die jeweils nur zweieinhalb Meter lang waren. Anschließend musste sie einen Baum mit harter, grober Borke hochklettern, um die Antwort auf ein uraltes Mitth-Rätsel zu erhalten. Dann sollte sie als Teil eines weiteren Familienrätsels ein ganz bestimmtes Blütenmuster in den Gärten rings um das Anwesen finden. Und so ging es immer weiter.

Während sie sich von einem Test zum nächsten hangelte, überlegte sie, ob man die Prüfungen wohl angepasst hatte, seit die Heimstatt unter die Oberfläche von Csilla verlagert worden war, oder ob es sich um die ursprünglichen Rätsel handelte, die schon die ersten Adoptivlinge absolviert hatten. Denn falls dem so war, dann musste hier unten alles dem Standort des ursprünglichen Familiensitzes nachempfunden sein bis hin zum letzten Detail.

Thalias nahm an, dass die Prüfungen mit dem Untergang der künstlichen Sonne enden würden, aber auch das stellte sich als Irrtum heraus. Man gönnte ihr sechs Stunden zum Schlafen, dann ging es weiter mit dem nächsten Block schriftlicher Tests und praktischer Logikrätsel im Freien.

Die ganze Zeit über – genau genommen seit dem Moment, als Thurfian sie bei der Mosaikkarte zurückgelassen hatte – hatte sie kein sterbliches Wesen gewesen. Sämtliche Instruktionen stammten von derselben körperlosen Stimme, die sie nach ihrer Ankunft vernommen hatte, und ihre Mahlzeiten und ihr Zimmer standen schon bereit, als sie den Anweisungen durch das gewaltige Anwesen folgte.

Zu guter Letzt, zwei Stunden nach einem kleinen Mittagessen, stellte man sie vor ihre letzte Prüfung: Sie sollte an der steilen Höhlenwand emporklettern, die einem Gebirge gleich hinter der Heimstatt in die Höhe ragte.

Anfangs kam es ihr gar nicht so schwer vor. Es gab einen klar markierten Pfad, die Steigung betrug zunächst nur ein paar Grad, und die auf dem Felsen wachsenden Bäume boten Schutz vor dem gleißenden Sonnenlicht. Thalias war so zuversichtlich, dass sie eine Wette mit sich selbst abschloss: Sie würde rechtzeitig vor dem Abendessen wieder im Hauptgebäude sein.

Doch schon hinter der ersten Baumlinie wurde die sanfte Schräge immer steiler, und bald kam sie nicht mehr voran, ohne sich mit den Händen festzuhalten. Zum Glück folgte der Pfad einem horizontalen Zickzackmuster, sodass sie sich schräg an der Felswand entlangbewegte, anstatt direkt nach oben zu klettern.

Das machte den Aufstieg weniger anstrengend, dafür aber umso länger. Jegliche Hoffnung, bis zum Abendessen wieder im Anwesen zu sein, war längst verblichen.

Thalias war dem Pfad vielleicht eine Stunde gefolgt, und sie hatte gerade die vierte oder fünfte Biegung hinter sich, als ihr lange Dornen auffielen, die zu beiden Seiten des Weges aus dem Boden ragten. Sie zählte sechs in der ersten Gruppe, wobei der größte vielleicht einen Meter lang war und einen Durchmesser von fünf Zentimetern hatte; die anderen waren halb oder auch nur ein Drittel so lang und entsprechend dünner. Thalias fragte sich beim Vorbeiklettern, ob sie wohl Teil eines weiteren Rätsels wären. Der große Dorn hatte eine texturierte, vielleicht auch geschnitzte Oberfläche, und sie überlegte schon, ob sie den Pfad verlassen sollte, um ihn sich genauer anzusehen.

Doch die Stimme hatte nichts von irgendwelchen Dornen erwähnt. Zugegeben, sie hatte auch nicht gesagt, dass Thalias nicht vom Weg abweichen durfte, aber da dies ihre letzte Prüfung war, beschloss sie, auf Nummer sicher zu gehen.

Es sei denn, dies war ein Test ihrer Eigeninitiative …

Über sich konnte sie bereits eine weitere Gruppe von Dornen sehen, und sie beschloss, fürs Erste weiterzuklettern und nach einem Muster Ausschau zu halten, nach irgendeinem Anzeichen, das ihr verriet, was genau von ihr erwartet wurde.

Sie hatte angenommen, dass die Ansammlung über ihr die nächste wäre, aber zu ihrer Überraschung entdeckte sie bereits entlang des nächsten Pfadabschnitts einige kürzere Dornen. Ein paar von ihnen standen dicht gedrängt, andere ragten in größerem Abstand voneinander aus der Felswand hervor. In der Mitte der dichten Gruppen gab es stets einen längeren Dorn, aber keiner von ihnen war so lang oder so texturiert wie der erste, den Thalias gesehen hatte. Sie studierte jede Ansammlung, suchte nach dem verborgenen Muster, das es irgendwo geben musste, und kletterte weiter.

Zwei Biegungen später wurden die Dornen plötzlich größer. Einige von ihnen waren sogar noch länger und breiter als der erste, jeder umgeben von zehn oder mehr kleineren Nadeln, und sie führten zu einer Art kleinem Felsvorsprung hinüber, der sich fünfzehn Meter abseits des Pfades nach außen wölbte. Noch immer konnte Thalias kein Muster erkennen, weder was die Größe noch die Anordnung anging.

Von diesem Punkt an wurden die Dornen zu ständigen Wegbegleitern. Lange, kurze, hin und wieder riesige … Sie waren überall, manche direkt am Rand des Pfades, andere ein Stück zurückgesetzt.

Noch zwei Biegungen, entschied Thalias. Zwei Biegungen, und falls sie bis dahin kein Muster entdeckt hatte, würde sie hinüberklettern und sich die Dornen genauer ansehen.

»Herrlich, nicht wahr?«

Um ein Haar hätte Thalias den Halt verloren, so heftig zuckte sie zusammen. Sie war inzwischen auf gleicher Höhe mit dem Felsvorsprung und sah, dass eine hölzerne Sitzbank darauf stand. Auf dieser Bank hatte es sich ein alter Mann mit blasser Haut bequem gemacht, dessen Augen unnatürlich hell aus den Schatten seines Gesichts hervorstachen. Die Hände hatte er vor sich auf dem Griff eines Gehstocks gefaltet, welcher mit allerhand kunstvollen Schnitzereien verziert war und Thalias in seiner Farbe und Textur an die Dornen erinnerte. »Ja, das sind sie«, erwiderte sie, obwohl ihr Herz noch immer raste. Die erste Person, die sie seit Thurfians Verschwinden zu Gesicht bekam …

Es war, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Nein, ich bin nicht Teil der Prüfungen«, erklärte er mit einem amüsierten und irgendwie verschwörerischen Lächeln. »Sie wissen nicht mal, dass ich hier oben bin. Vermutlich suchen sie gerade überall nach mir. Aber ich wollte mich ungestört mit Ihnen unterhalten, und das hier schien mir die beste Gelegenheit.«

»Ich bin seit zwei Tagen hier«, erinnerte Thalias ihn, wobei sie versuchte, zwischen den Dornen hindurch freien Blick auf sein Gesicht zu bekommen. Irgendwo hatte sie ihn schon mal gesehen, da war sie sicher.

»Oh, ich weiß«, sagte er. »Ich habe Sie beobachtet. Es mag vielleicht ausgesehen haben, als wären Sie allein, aber glauben Sie mir, Sie waren es zu keiner Sekunde. Zumindest nicht, bis man Sie hier hochgeschickt hat.« Er machte eine ausladende Handbewegung. »Der Berg, dem diese Felswand nachempfunden ist, spielte eine gewichtige Rolle in der Geschichte der Mitth. Womit das hier wohl der perfekte Ort wäre, um über die Zukunft der Familie zu sprechen.« Seine wedelnde Hand hielt inne, und er deutete auf den größten Dorn der Formation, die Thalias gerade studiert hatte. »Was halten Sie davon?«

»Ich … weiß nicht«, sagte sie in einem Versuch, Zeit zu gewinnen. Warum kam er ihr nur so bekannt vor? »Sie sind beeindruckend, aber ich …«

»Beeindruckend?« Der alte Mann schnaubte. »Wohl kaum. Er war ein Angeber, der seinen eigenen Ruhm stets über den der Familie stellte. Wenn man immer mehr Geprüfte aufnimmt und zu Drittrangigen macht, geht es irgendwann nicht mehr um die Bedürfnisse der Familie, sondern nur noch darum, anderen mit der Allgegenwart des Namens zu imponieren.«

»Ja, natürlich«, hauchte Thalias. Jetzt wusste sie endlich, was sie da vor sich hatte, und die Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Stromschlag. Ein Ehrenmal für ein Blutsmitglied der Familie – einen Syndic oder Konzillar oder einen ranghohen Aristokra. Sie wurden durch die großen mittigen Dornen dargestellt, und die kleinen Dornen ringsum symbolisierten die Mitth, die er in die Familie eingegliedert hatte.

Die zweite Erkenntnis folgte nur einen Moment später, und sie ließ Thalias erneut zusammenzucken. Der alte Mann, der auf der Bank saß … »Sie sind Mitth’oor’akiord«, hauchte sie. »Sie sind der Patriarch

»Sehr gut«, lobte Thooraki. »Sie haben also aufgepasst, als Sie an der Hologalerie in der großen Halle vorbeigegangen sind.« Er zog die Schultern hoch. »Leider geht es bei dieser Prüfung nicht um Ihre Auffassungsgabe, andernfalls hätten Sie sich gerade einen Bonuspunkt verdient.«

»Danke, Euer Würden«, sagte Thalias. »Aber wenn ich ehrlich sein darf, scheinen Sie mir nicht der Typ, der andere nach einem Punktesystem bewertet.«

»Sehr gut, meine liebe Thalias.« Sein Lächeln wurde noch breiter. »Ich bewerte Personen nach Können und Intelligenz.« Er legte den Kopf auf die Seite. »Apropos: Ich wurde fortgerufen, bevor Sie die Prüfung am Wasserkanal absolvierten, und ich hatte noch keine Gelegenheit, mir die Aufzeichnungen anzusehen. Würden Sie mir vielleicht erzählen, wie Sie das Problem gelöst haben?«

»Es war gar nicht so schwer«, erwiderte sie. »Der Kanal ist nur einen Meter tief, also nahm ich zwei Bretter, platzierte ihre Enden übereinander und schob das eine mit dem anderen zur gegenüberliegenden Seite des Kanals. Dann drückte ich die Bretter nach unten, und wegen der übereinanderliegenden Enden formten sie ein V in der Mitte des Kanals. Anschließend legte ich ein drittes Brett horizontal darüber.«

»Dieses Brett würde aber unter der Oberfläche liegen«, bemerkte der Patriarch.

»Richtig, Euer Würden«, nickt Thalias. »Darum habe ich mit zwei weiteren Brettern auf der horizontalen Planke ein zweites V gebildet und das letzte Brett dann wieder horizontal darüber platziert.«

»Sehr gut«, freute sich der Patriarch. »Ich erinnere mich noch an einen Geprüften, der den Test auch so begann, aber nach dem ersten V legte er einfach alle anderen Bretter horizontal darüber, bis der Stapel die Wasseroberfläche durchstieß.«

Thalias’ Lippe zuckte. Auf diese Idee war sie gar nicht gekommen.

»Das war ebenso effektiv, aber längst nicht so elegant wie Ihre Methode«, fügte der Patriarch hinzu. »Die Aufzeichnungen über Ihre Zeit als Himmelsläuferin deuteten bereits an, dass Sie stets nach eleganten Lösungen suchen. Das ist auch der Grund, warum ich mich damals entschloss, Sie aufzunehmen. Ich bewundere Eleganz.«

»Sie haben mich in die Familie aufgenommen? Sie persönlich?«

»Warum denn nicht?«, fragte er. »Über eine Familie zu wachen bedeutet auch, jene zu suchen, die die Familie stärker ­machen können.«

»Ich fühle mich geehrt«, sagte Thalias. All ihre Fehler und all ihre Versäumnisse saßen ihr wie ein Kloß im Hals. »Ich kann nur hoffen, dass ich mich Ihres Vertrauens eines Tages als würdig erweisen kann.«

»Eines Tages?« Er lachte schnaubend. »Aber, aber, mein Kind. Sie haben sich schon etliche Male als würdig erwiesen. Und jetzt gerade stehen Sie zwischen meinem größten Triumph und jenen, die ihn zerstören wollen.«

»Ich verstehe nicht …« Sie unterbrach sich. »Sie meinen … Thrawn

Der Patriarch nickte. »Noch jemand, den ich persönlich ausgewählt habe.«

»Wirklich?« Thalias runzelte die Stirn. »Ich dachte, General Ba’kif hätte die Mitth auf ihn aufmerksam gemacht.«

»Und wer, glauben Sie, hat Ba’kif auf ihn aufmerksam gemacht?«, entgegnete der Patriarch. »Ganz recht. Labaki – so hieß er damals nämlich … Labaki und ich kennen uns schon lange Zeit. Ich bin derjenige, der ihm von Thrawn erzählte und ihn ermutigte, diesen Narren Thurfian zu ihm zu führen.«

Er seufzte. »Ich habe großes Potenzial in ihm gesehen, Thalias«, erklärte er. Sein Blick und sein Ton wurden abwesend. »Intelligenz, Talent, Loyalität. Eines Tages wird er das Kronjuwel in meinem Vermächtnis sein. Wer weiß, vielleicht wird er mich sogar überflügeln.« Er tippte mit seinem Stock auf den Boden. »Falls er überlebt.«

»Ich habe ihn schon in der Schlacht erlebt, Euer Würden«, sagte Thalias aufmunternd. »Vertrauen Sie mir, er wird überleben.«

»Ich habe keine Angst, dass wir ihn an einen Krieg verlieren.« Der Patriarch schüttelte den Kopf. »Sofern nichts Außerordentliches, Unkontrollierbares geschieht, wird er auf dem Schlachtfeld nie mehr als eine kurzzeitige Niederlage erleiden. Nein, die Bedrohung, um die ich mir Sorgen mache, lauert innerhalb der Aszendenz. Möglicherweise sogar innerhalb seiner eigenen Familie.« Er winkte einladend. »Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir. Ich fürchte, mir bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Vorsichtig kletterte Thalias um die Dornen herum zu dem Felsvorsprung, dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich neben ihm auf der Bank nieder. »Was kann ich tun?«

»Sie tun es bereits«, versicherte er ihr. »Sie hören mir zu – im Gegensatz zu den meisten anderen in der Familie. Und wich­tiger noch, Sie beschützen Thrawn. Sie sind ihm eine loyale ­Verbündete und Helferin. Sie verteidigen ihn gegen seine Feinde.«

Er deutete in Richtung Berge. »Die Machtübergabe von einem Patriarchen zum nächsten soll immer reibungslos verlaufen. Und normalerweise tut sie das auch. Aber manchmal gibt es Reibungen. Während wir hier sitzen, schmieden mehrere Kandidaten im Geheimen Pläne. Sie bereiten Argumente vor, schieben ihre Spielfiguren über das Brett, um in Position zu sein, wenn mein Stock an die Kunsthandwerker überreicht wird, auf dass sie ihn in den Fels unserer Heimstatt einbetten. Einige von ihnen sehen in Thrawn ein nützliches Werkzeug, andere eine Gefahr.« Er schüttelte den Kopf. »Sollte einer von ihnen den Platz des ­Patriarchen einnehmen …« Er ließ den Satz unbeendet.

»Ich verstehe nicht«, murmelte Thalias. »Er ist ein erstklassiger Krieger. Wie kann ein Familienmitglied eine Gefahr in ihm sehen?«

»Die Gefahr ist, dass er sich übernimmt – dass er sich auf ­irgendein Abenteuer einlässt, welches uns Mitth politisch angreifbar macht. Sollte das geschehen, würden unsere Rivalen diese Schwäche ohne Zögern ausnutzen. Dieses Risiko zu eliminieren ist einigen Anwärtern auf den Sitz des Patriarchen wichtiger als der Ruhm, den Thrawn dem Hause Mitth bringen könnte.«

Thalia nickte. »Sie bevorzugen den langsamen, sicheren Weg.«

»Was töricht ist«, erklärte der Patriarch, die Mundwinkel verächtlich nach unten gezogen. »Der sichere Weg garantiert lediglich ein langsames Abrutschen in die Bedeutungslosigkeit. Die Mitth müssen Risiken eingehen – wohldurchdacht und gut abgewogen natürlich, aber trotzdem Risiken. Andernfalls werden wir unsere Position unter den Herrschenden Familien nicht halten.«

Einen Moment lang war nur das Rauschen des Windes zwischen den Bäumen unter ihnen zu hören. »Was können wir tun?«, fragte Thalias schließlich.

»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht«, gestand der Patriarch. »Ich habe bereits alles getan, was ich tun kann. Mein Leben neigt sich dem Ende zu, und auch meine Macht und meine Autorität verblassen.« Er lächelte traurig. »Sehen Sie mich nicht auf diese Weise an, Kind. Es ist, wie es sein soll – wie es sein muss. Wenn meine Hand das Zepter nicht mehr halten kann, muss es ohne Verzögerung oder Unsicherheit an meinen Nachfolger weitergereicht werden. Jegliche Verwirrung würde uns zu einem leichten Opfer für die anderen Familien machen.«

»Ich verstehe«, sagte Thalias mit einem Frösteln. Selbst bei der Flotte hatte sie gesehen, wie Familienpolitik die Beziehungen zwischen erfahrenen Kriegern der Flotte beeinflusste. Im Syndicure musste es noch viel schlimmer zugehen. »Was kann ich tun, um ihn zu schützen?«

»Er hat Freunde«, erwiderte der Patriarch. »Verbündete. Er weiß aber nicht, wie er sie mobilisieren kann, sollte es nötig werden. Diese Aufgabe müssen Sie übernehmen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wusste von Anfang an, dass Politik nicht seine Stärke ist. Aber nicht mal ich hätte gedacht, dass er diesen ewig wechselnden Strömungen gegenüber so blind sein würde.«

»Ich werde mein Bestes tun«, versprach Thalias. »Vorausgesetzt, ich bin nach dem heutigen Tag noch immer eine Mitth.«

»Noch immer eine Mitth?«, wiederholte der Patriarch mit zusammengezogenen Brauen. »Wovon reden Sie, Kind? Natürlich werden Sie noch eine Mitth sein. Sie haben bei der Bewältigung der Prüfungen vielleicht keine Brillanz bewiesen, aber Ihre Leistung war mehr als ausreichend. Sie sind jetzt offiziell eine ­Geprüfte, Thalias, und nur noch einen Schritt von der Position einer Drittrangigen entfernt.«

»Danke.« Thalias neigte den Kopf, als eine Flut von Emotionen über sie hinwegbrandete.

»Aber nur, falls Sie nicht auf der letzten Etappe noch abstürzen«, brummte der Patriarch, und der verschmitzte Humor von vorhin schimmerte durch die dunklen Wolken seiner Warnung. »Sie klettern besser weiter. Und sehen Sie sich die Stöcke auf dem Weg zum Gipfel genau an. Studieren Sie die Muster, den Fluss der Familiengeschichte. Meditieren Sie über das Leben und die Triumphe der Mitth.«

»Und ihre vereinzelten Niederlagen?«

Der Patriarch wurde wieder ernst. »Ganz besonders über ihre Niederlagen«, sagte er leise. »Prägen Sie sich die Lücken in der Erbfolge ein, die Ungleichmäßigkeiten, wo die Bemühungen eines Aristokra unterbrochen wurden. Versagen ist ein brutaler, aber effektiver Lehrer.«

»Aber nur, wenn man bereit ist, aus diesem Versagen zu lernen.«

»Wohl wahr.« Der Patriarch streckte den Arm aus und drückte ihre Hand. »Danke für diese Unterhaltung, Thalias, Geprüfte der Mitth. Und passen Sie weiter auf Ihren Kommandanten auf. Ich habe das sichere Gefühl, dass er der Schlüssel zur Zukunft der Aszendenz ist – egal, ob diese Zukunft nun einen Triumph oder eine fatale Niederlage bereithält.«

»Ich werde ihm helfen«, gelobte Thalias. »Komme, was da wolle, ich werde ihm helfen.«

Die Sonne war längst untergegangen, aber der westliche Horizont wurde noch immer von einem schwachen Glühen erhellt, als Thalias den Pfad am Fuß der Felsen herabstieg. Thurfian hatte ihren Abstieg offensichtlich beobachtet, denn kaum dass sie sich dem Anwesen näherte, tauchte er auch schon an der Tür auf und führte sie zu einer wartenden Bahngondel bei der Mosaikkarte.

»Es gab eine Planänderung«, erklärte er. »Ich werde im Syndicure gebraucht, und der Patriarch meinte, ich sollte Sie mitnehmen.«

»Gibt es Probleme?«, fragte Thalias.

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Thurfian. »Aber Admiral Ar’alani hat eine Nachricht geschickt und darum gebeten, dass Sie schnellstmöglich auf die Vigilant zurückkehren sollen.« Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Außerdem scheint es, als wäre Thrawn von der Bildfläche verschwunden, während ich hier abgelenkt war.«

»Das war ganz sicher nicht meine Absicht«, erklärte Thalias, obwohl sie wusste, dass er ihr kein Wort abkaufte. »Aber was ist mit den Prüfungen? Wann werde ich erfahren, ob ich sie bestanden habe?«

»Sie denken wie ein Schulmädchen«, kommentierte Thurfian säuerlich. »Die Prüfungen sind kein Aufsatz, der korrigiert und am Ende des Unterrichts benotet wird.« Er verzog den Mund. »Und ja , Sie haben bestanden. Sie sind jetzt eine Geprüfte der Mitth-Familie. Meinen Glückwunsch. Steigen Sie ein.«

»Danke«, murmelte Thalias.

Sie setzte sich an eines der Fenster und blickte zu dem Hauptgebäude und den hohen Felsen zurück, bis der Tunnel die Sicht auf die künstliche Welt der Höhle blockierte. Thalias hätte sich nie träumen lassen, dass sie einmal den Patriarchen ihrer Adoptivfamilie treffen würde, geschweige denn, dass sie eine lange und ernste Unterhaltung mit ihm führen würde. Dieses Gespräch – und ihr Versprechen an ihn – würde für immer in ihrem Herzen verschlossen bleiben.

Sie wusste, in ihrem Leben begann gerade ein neues Kapitel, aber sie wusste auch, im Leben der Mitth-Familie ging eine Ära zu Ende.