ERINNERUNG XI
Einst, so hieß es, hatten die Herrschenden Familien den Korridor des Schweigens im großen Versammlungskomplex benutzt, um die Verräter der Aszendenz zu ihren Gefängnissen oder ihrer Exekution führen zu lassen. Aufgrund des Aufbaus und der Akustik war es praktisch unmöglich, ein Gespräch mit jemandem zu führen, der mehr als drei Meter entfernt war, insbesondere wenn sich andere Personen ebenfalls in der Nähe unterhielten.
Seit jenen Tagen waren natürlich Jahrtausende vergangen, und dank der sozialen Aufklärung und politischen Reifung war der Korridor des Schweigens zu einem Versammlungsort für Sprecher und Syndics geworden, die politische Gespräche führen, aber keine Schwäche zeigen wollten, indem sie das Büro einer rivalisierenden Familie anderen aufsuchten.
Als Konzillar Thurfian Konzillar Zistalmu am Ende des Korridors auftauchen sah, überlegte er, ob der Irizi wohl die Ironie des Vorschlags erkennen würde, den er ihm unterbreiten wollte.
Zistalmu bahnte sich bedächtig einen Weg vorbei an den anderen Gruppen in dem Korridor, wobei er stets darauf achtete, die nötige Distanz einzuhalten; niemand wollte sich vorwerfen lassen, hier ein fremdes Gespräch belauscht zu haben. Zu guter Letzt erreichte er Thurfian und stellte sich dicht vor ihn. »Aristokra Thurfian.«
»Aristokra Zistalmu«, erwiderte Thurfian. »Ich will gleich zur Sache kommen. Ich weiß, die Irizi sind an Senior-Commander Thrawn herangetreten, um ihn zu einem Austritt aus der Mitth-Familie zu überreden.«
Ein überraschtes Flackern huschte über Zistalmus sonst so emotionslose Miene. »Ich dachte, solche Angebote wären vertraulich, es sei denn, ein Übertritt wird offiziell bekannt gegeben.«
»Jemand hat das Gespräch aus Versehen mitgehört«, sagte Thurfian. »Außerdem hat Thrawn abgelehnt, soweit ich weiß.«
»Nicht offiziell«, entgegnete der Irizi. »Das Angebot ist noch offen.«
»Nein, er hat es abgelehnt«, wiederholte Thurfian. »Sie haben seine Akte gesehen. Er zögert nicht, wenn er einen taktischen Vorteil wittert. Falls er bis jetzt noch nicht Ja gesagt hat, dann lautet seine Antwort Nein.«
»Vielleicht.« Zistalmu musterte ihn. »Sie haben mich hoffentlich nicht nur aus Schadenfreude hierher eingeladen.«
»Im Gegenteil«, winkte Thurfian ab. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie Interesse daran haben, ihn zu zerstören.«
Diesmal wahrte Zistalmu seine undeutbare Miene, aber Thurfian war sicher, dass es ihn eine gewaltige Willensanstrengung kostete. »Ich verstehe nicht.«
»Es ist ganz einfach«, begann Thurfian. Er wusste, dass er gewaltige Schwierigkeiten bekommen würde, sollte Zistalmu einem der anderen Mitth-Konzillare oder -Syndics von dieser Unterhaltung erzählen. Aber er hatte Zistalmu genau studiert – er kannte seine Ziele, seine Methoden –, und darum war er verhältnismäßig sicher, dass der Irizi nichts dergleichen tun würde. »Ich habe Thrawns Akte nämlich ebenfalls gelesen. Er hat das Potenzial, in der Flotte Großes zu leisten. Aber er trägt auch das Potenzial in sich, die Mitth zu ruinieren. Vielleicht sogar die gesamte Aszendenz.«
Zistalmu bedachte ihn mit einem spöttischen Lächeln. »Der Ruin der Mitth klingt nicht so schlimm.« Dann verschwand das Lächeln. »Aber die Aszendenz? Das ist etwas anderes.«
»Dann sehen Sie die Sache also genauso?«
»Ich weiß nicht, wie Sie anhand einer simplen Bemerkung eine solche Schlussfolgerung ziehen wollen«, entgegnete Zistalmu. »Aber gut, seien wir ehrlich … Ja, ich sehe, dass er uns großen Ruhm, aber auch großes Unheil bringen kann.«
»Dem Rest der Irizi scheint das aber nicht aufzufallen.«
Zistalmu hob die Hand. »Das Rekrutierungsangebot war ein Versuch, ihn den Mitth abspenstig zu machen. Ein kleiner familienpolitischer Winkelzug. Ich bezweifle, dass sich irgendjemand so gründlich mit seiner Akte auseinandergesetzt hat wie Sie oder ich. Also, was schlagen Sie vor?«
»Im Moment? Lediglich, dass wir wachsam bleiben sollten.« Die Anspannung zwischen Thurfians Schulterblättern ließ nach. »Was nicht allzu schwer sein dürfte, wenn man bedenkt, dass unsere Familien uns mit der Beobachtung des Militärs betraut haben. Wir machen einfach weiter wie gehabt, und falls wir merken, dass sich eine Gefahr zusammenbraut, koordinieren wir unsere Reaktion.«
»Stellen Sie sich das nicht zu einfach vor?«, warnte Zistalmu, die Augen nachdenklich zusammengekniffen. »Aus irgendeinem Grund genießt er die Unterstützung von General Ba’kif und Commodore Ar’alani. Das sind mächtige und einflussreiche Verbündete.«
»Ich weiß«, nickte Thurfian. »Ba’kif ist vermutlich unantastbar, aber Ar’alani war früher eine Irizi. Sie lässt sich vielleicht noch unter Druck setzen.«
»Ich bezweifle es«, sagte Thurfian. »Ich habe seit ihrer Beförderung ein paarmal mit ihr gesprochen, und sie scheint es mit ihrer Familienneutralität wirklich ernst zu meinen.«
»Dann konzentrieren wir uns auf Thrawn«, erklärte Thurfian. »Und vielleicht auf ein paar seiner weniger hochrangigen Unterstützer.«
»Über die Sie zweifelsohne mehr wissen als ich.« Zistalmu schürzte die Lippen. »Also gut. Wir beobachten ihn und warten ab, was passiert.« Er sah sich um. »Und natürlich werden wir mit niemandem darüber sprechen.«
»Natürlich«, erwiderte Thurfian. »Danke, Aristokra. Ich hoffe, wir werden nie gezwungen sein, wirklich etwas zu unternehmen. Aber falls doch …?«
»Dann werden wir es tun.« Zistalmu breitete die Arme aus. »Ich nehme an, Sie wissen, wie ironisch es angesichts der Geschichte dieses Korridors ist, ausgerechnet hier eine solche Unterhaltung zu führen.«
»Durchaus«, lächelte Thurfian. »Bis zum nächsten Mal, Aristokra.«
»Bis zum nächsten Mal.« Mit einem Nicken wandte Zistalmu sich ab, um wieder zu seinem Büro zurückzumarschieren.
Als Thurfian sich in die entgegengesetzte Richtung wandte, kam ihm ein Gedanke. Die Geschichten über den Korridor des Schweigens waren geprägt von Aristokra, die sich des Hochverrats schuldig gemacht hatten. Mit ihrer Unterhaltung hatten sie praktisch besiegelt, dass es wieder einen Prozess wegen Hochverrats geben würde. Die Frage war nur, wer würde dann auf der Anklagebank sitzen: Thrawn … oder Thurfian und Zistalmu?
Die Zeit würde es zeigen.