Einzig der Deutschlehrer Herr Kikuchi, der sich nicht mehr sicher war, ob er überhaupt noch für den deutschen Nachrichtendienst arbeitete, da die von ihm über Jahre verfaßten und an die deutsche Legation weitergegebenen Berichte über Stimmungen und Befindlichkeiten seiner Landsleute weder quittiert noch kommentiert wurden, fand einen Weg zum jungen Masahiko und erkannte in ihm ein phänomenales Genie.
Kikuchi hatte vor dem ersten Weltkrieg als junger Mann Ballett getanzt, in Wien, bei den Gastspielen Michel Fokines, nun, zurück in seinem Heimatland, lange temperiert durch die befreienden männlich-sportlichen Erfahrungen in Zentraleuropa, unterrichtete er die verdorbene, in seinen Augen zur Mittelmäßigkeit tendierende und krankhaft angepaßte junge Elite Japans.
Aber wie es nun einmal so war, wurden seine Briefe mitnichten ignoriert, sondern aufmerksam gelesen, und zwar von Wilhelm Solf, dem damaligen Botschafter des Deutschen Reichs in Japan, und als in den Berichten mit größerer Häufigkeit ein hochintelligenter Knabe zur Erwähnung kam, der sowohl ausgesprochen perfekt Deutsch sprach und las und der, sich dem deutschen Kulturkreis zugehörig fühlend, auch Sanskrit mit Freude und Wissensdurst erlernte, ließ der Indologe Solf ausrichten (dies war die allererste Resonanz der Deutschen, die Herr Kikuchi erfuhr), man möge sich doch bitte um diesen jungen Schmetterling kümmern, ihm Zuspruch und Freundschaft zuteil werden lassen, manchmal würde das wohlwollende Wirken eines einzigen Erwachsenen ausreichen, um eine Kinderseele zum Erblühen zu bringen. Kikuchi freilich tat nichts lieber als das.
Solf fuhr überdies an einem freien Tag in die Nähe des Internats, um den jungen Masahiko heimlich beobachten zu können, von einer Parkbank aus, bei einem vom Lehrer Kikuchi beaufsichtigten Stadtausgang des Knaben. Während die Sonnenstrahlen heitere Lichtkleckse über den Rasen der Parkanlage warfen, verfütterte Solf zum Schein den Inhalt einer aufgerollten Papiertüte Leinsamen an eine Eichhörnchenschar, die sich zuerst schüchtern, dann immer forscher unter der Bank der so achtlos fallen gelassenen Körner bediente, während des Botschafters schweifende Augen, hinter einer Sonnenbrille verborgen, den Jungen dort drüben vermaßen, der sich äußerlich zwar nur unwesentlich von anderen japanischen Heranwachsenden unterschied, aber gleichwohl beim ausgelassenen Federballspiel mit seinem Lehrer Kikuchi etwas von seinem außergewöhnlichen Charakter durchscheinen ließ, das den Diplomaten zutiefst beeindruckte.
Solf zog es vor, den Umstand zu ignorieren, daß der dem Federball hinterherhechtende Lehrer Kikuchi ganz offensichtlich verliebt war, notierte statt dessen die Präzision der Umgarnung, derer sich Masahiko bediente, um den weißhaarigen Mann sozusagen beseelt bei der Stange zu halten. Die elastische Choreographie war ein Meisterwerk der Manipulation; hielt sich der Lehrer etwas zurück, so streifte der Junge, gab er den Federball zurück, mit dem Arm sein Gegenüber; wurde zur Attacke übergegangen, so ließ er sich rücklings fallen und zog keuchenden Kikuchi mit sich hinab ins seidige Grasbett.
Das Spiel des wakashudō, der alten Tradition des schönen jungen Mannes, des bishōnen, der seinem Lehrer gefügig ist, war perfekt inszeniert, und es zu beobachten erfüllte Solf mit wohligen Schauern und der Gewißheit, dieser Knabe hier sei es, den es zu protegieren und instrumentalisieren gelte, zur sukzessiven Heranzüchtung eines Mannes, der sich Jahrzehnte später, selbst nach seinem, Solfs Tode, noch außerordentlich nützlich zeigen werde.
Und so geschah es, daß Masahiko Amakasu begann, für das Deutsche Reich zu arbeiten, ohne es zu wissen. Kikuchi wurde – der Junge hatte die Schule bereits zugunsten der Militärakademie verlassen – unter unbekannten Umständen verhaftet und kurze Zeit später wieder freigelassen, mit einer Apanage ausgestattet und vom Schuldienst freigestellt.
Masahiko, indes, sollte fortan in Solfs Schattentheater bleiben; die klandestine Überweisung eines gewissen Betrags hier, dort die Beförderung seines Vaters zu einer Stelle von besserem Rang an der Universität, und wiederum hier, bitte schön, die Eröffnung eines neuen, modernen Frisörsalons in der Hauptstadt unter der Leitung seiner Mutter – Masahiko blieb ahnungslos. Selbst als ihm, mit vollen Ehren und Auszeichnungen von der Akademie graduiert, nahegelegt wurde, nun doch eine vielversprechende Karriere im Ministerium anzutreten – vorausgesetzt natürlich, er würde die Aufnahmeprüfung bestehen –, wußte niemand außer Solf von den Verstrickungen des jungen Mannes zum Deutschen Reich. Und auf wundersame Weise bestand er jene vier aufeinanderfolgenden Prüfungen mit Bravour, bei denen nicht etwa Masahikos erstaunliche Bildung abgefragt wurde, sondern einzig und allein seine Einstellung und unverbrüchliche Treue zum Kaiser, dem Abkömmling der Sonnengöttin Amaterasu.
Der Samen also war gepflanzt, einer schlafenden Rakete gleich, und nichts sollte sein dereinstiges Wachstum, seinen Sternenflug ersticken können, weder Masahikos vordergründige Verachtung der westlichen Welt noch die ganz offensichtlich auf Expansion und auf die Erniedrigung anderer Völker ausgerichtete Seele Deutschlands, die der junge Mann so genau erfühlen konnte, als habe er wiederum seine Seele mittels ätherischer Konduktoren in sie eingestöpselt.