17.

Lange nachdem sich Lehrer Kikuchi in Asche verwandelt hatte, war der junge Masahiko einmal hinaus zu den Klippen von Tōjinbō gefahren. Ein später Schnee war von Norden herantreibend niedergegangen, es war empfindlich kalt, die Fahrt mit der Eisenbahn endete in Sakai, dort hatte sich das verschneite Kastell von Maruoka in einen undurchdringlichen Winternebel verhüllt. Masahiko, in Schal und Mantel geborgen, hatte, um sich zu wärmen, die Handschuhe aneinandergeklopft und auf dem Bahnhofsvorplatz einen unbeheizten Autobus bestiegen, der ihn hinaus zu den Klippen brachte; er war der einzige Fahrgast.

Kürzlich dreißig geworden, hatte er vor ein paar Monaten mit der Angewohnheit des Rauchens begonnen und zündete sich nun – der Autobus hatte sich, in ein trübes Dieselwölkchen gehüllt, wieder Richtung Stadt entfernt – eine Zigarette an, und er hielt sich das gelbe Flämmlein des Streichholzes vors Gesicht, während sich das Meer vor ihm aschen und diesig und ruhig erstreckte. Zweifellos lag kein Eichenlaub zu seinen Füßen.

Die basaltenen Klippen erstreckten sich links und rechts wie der aufgetürmte Schorf einer vor Jahrtausenden in die Erde geschnittenen, lange angetrockneten Wunde. In der Windstille des späten Nachmittags stand schwankend am Abhang ein junges Mädchen, das sich nach wenigen Sekunden der Unsicherheit und des Zögerns, einem fallenden Schatten gleich, die Klippen hinunterstürzte.

Masahiko trat die Zigarette aus und lief stolpernd schnellen Schrittes zu der Stelle, an der die Frau eben noch gestanden hatte, blickte über den Rand hinab zu den zerfurchten, unmißverständlich scharfen umbrafarbenen Felsen dort unten, und als er, obwohl er wie ein Seemann die ausgestreckte Handfläche über den Augenbrauen hielt, bis auf ein purpurnes oder rotes Taschentuch nichts und niemanden ausmachen konnte, kletterte er vorsichtig rückwärts hinunter, eine halbe Stunde lang, bis er, unten angelangt, fast auf einem nachgiebigen, leise knackenden Seetangbett ausglitt, dadurch aber wußte, da es langsam dunkel wurde, daß er das Meeresufer erreicht hatte.

Er entfachte ein Streichholz nach dem anderen, hielt schützend die behandschuhten Finger um die Flamme. Eine Taschenlampe wäre jetzt hilfreich. Verflucht, die Schachtel mit den Zündhölzern war leer. Er rief ein paarmal, keine Antwort, nichts, nur das sanfte helle Scheuern des einsamen und kalten Meeres. Er suchte das Ufer ab und die Böschung, dort hinten hatte sich etwas bewegt, es war eine dunkelgraue Seemöwe, die im Algensalat nach Nahrung pickte.

An einem nassen Felsen entdeckte er etwas oxidiertes dunkelbraunes Blut, womöglich war sie hier aufgeschlagen, hier mit dem Kopf – er zog den Handschuh aus und berührte die Stelle mit der Fingerspitze, unmöglich zu sagen, ob der Fleck frisch war oder schon seit Jahren dort vorhanden. Es war nun gänzlich dunkel, der mondlose Himmel war nicht mehr von der See zu unterscheiden.

Er lief ein paar Hundert Schritte die Küste hinab nach Westen, die Hände vor der Brust halb erhoben, bis er vor einer Felshöhle stehenblieb, aus der der schwache Lichtschein einer flackernden Kerze oder einer Öllampe drang. Vorsichtig betrat er die gelb beschienene Uferfläche und näherte sich dem Eingang.

Im Innern kauerte eine junge Frau; den Rücken an die Wand gelehnt winkte sie ihn herbei, ihr Haar war zerzaust und struppig, außer einem ledernen Fetzen, der ihren Oberkörper bedeckte, war sie nackt. Sie hatte sich die Beine und die Arme und das Gesicht karmesinrot bemalt. Unmöglich, daß es dieselbe war, die vorhin oben auf den Klippen gestanden hatte. Plötzlich packte sie ihn, drückte ihn zu Boden und setzte sich rittlings auf Masahikos Schultern. Er wand sich, warf sich hin und her, aber sie war außerordentlich muskulös; er spürte ihre harten, sehnigen Schenkel, er konnte ihr nicht entkommen. Ihrem Schoß entströmte ein abscheulicher Geruch von Verwesung und Pestilenz.

Es war, als täten sich plötzlich Risse in der Zeit auf; schwarzgraue Wolken erschienen am Horizont; Mais sproß an den unmöglichsten Stellen; da wuchsen Schlingpflanzen um eine koloßhafte Statue des steinernen Buddha; geflügelte, von einem Kind gezeichnete Tiere, halb Maus, halb Drache, einige liefen verkehrt herum auf dem Kopf; es roch allerorten ätzend nach Ammoniak; ein hochgewachsener, dunkler Baum von einem Mann, dessen Gesicht im Schatten lag, hauchte ein paarmal: Hah.

Er grub und drückte ihr mit den Fingern in die Seiten, schlug mit den Fäusten auf sie ein; es half nichts, sie hielt ihn gefangen wie ein schauriger Sukkubus, doch dann ließ sie plötzlich heulend von ihm ab, nahm ihn in den Arm, streichelte sein Gesicht und liebkoste ihn, gurrte nun flatternd unverständliche, sanfte Worte des Trostes und der Fürsorge.

Sie sei eine Aristokratin, ja, brach es aus ihr heraus, nachdem sie sich wieder an die Höhlenwand hingekauert hatte, und sie werde hier gegen ihren Willen festgehalten, es sei ganz erbärmlich und ihre Not sei groß, es täte ihr unendlich leid, sie habe doch nur versucht, ihn hierzubehalten, sie habe seit Monaten keine Menschenseele mehr gesehen, schließlich begann sie bitterlich zu weinen und klagte, sie ernähre sich von Seetang und Regenwasser, und manchmal, wenn der Hunger nicht mehr auszuhalten sei, fange und töte sie eine Seemöwe und trinke deren warmes Blut.

Masahiko sah, daß am feuchten Lehmboden der Höhle Dutzende kleine Vogelknochen verstreut lagen und unzählige Fischgräten, in den dunklen Ecken waren kleine Steine sorgfältig zu Tempelgebilden aufgetürmt worden, und er bemerkte, daß sie vergeblich versucht hatte, aus feuchtem Treibholz ein Feuer zu entfachen.

Und die Frau, die sich die Klippen hinabgestürzt habe, vorhin, das sei nicht sie gewesen? Nein, natürlich nicht, sie habe das Ufer monatelang nicht verlassen, es gebe von diesem Ort kein Entkommen, die Wand sei viel zu steil, um hinaufzuklettern. Anfangs habe sie jeden Morgen versucht, den Strand entlangzulaufen, auf der Suche nach Hilfe und Nahrung, aber nach einer Weile käme da nichts mehr, nur ein undurchdringlicher, entsetzlicher Nebel, keine Menschenseele, es sei das Ende der Welt.

Diese drei Kerzen hier, jene paar Streichhölzer und das zerrissene Wams seien das einzige, das sie noch besitze, danach würde die schreckliche Dunkelheit herrschen in ihrer Höhle. Aber wie sei sie denn dorthin gekommen, wer habe sie dort ausgesetzt? Sie könne sich an nichts mehr erinnern, sagte sie, eines Tages habe man sie aus ihren Zimmern in Maruoka ausgesperrt, sie sei im Gang des Kastells vor ihrer Tür eingeschlafen und hier an diesem verschneiten Strand wieder erwacht, ihr Körper und ihr Antlitz mit roter Farbe bemalt.

Sie müßten hier fort, sagte Masahiko, er werde ihr helfen zu entkommen, und er drückte ihr eine halbe Tafel Schokolade in die schmutzige Hand, aber sie antwortete, nein, es habe keinen Zweck, es sei ihr Schicksal, für immer hier am Rand der Erde zu bleiben, rohe Seemöwen und Würmer zu essen, und der Nachthimmel werde ihr Sarg sein, und der Mond ihre Totenlampe.

Masahiko nahm sie nun seinerseits tröstend in den Arm und flüsterte, er werde jetzt Hilfe holen, sie solle sich nur noch ein paar kurze Stunden gedulden, und er legte ihr seinen Mantel um die Schultern und fütterte sie vorsichtig mit der Schokolade. Bitte geh nicht, rief sie, es war ein zitterndes Lamentieren, und er antwortete sanft, sie solle nicht aufgeben, es gebe immer Hoffnung, ihretwegen sei er schließlich an dieses trostlose Ufer gekommen, und er sei sehr bald mit einem Arzt, mit Decken und mit Reis zurück.

Und während sie immerfort weinte und flehte, verließ er die Höhle und betrat den Strand, lief dann zurück zu der Stelle, an der er den Blutfleck auf dem Felsen entdeckt hatte, und während das Schluchzen nur noch ganz leise von Ferne klang, kletterte er den Abhang hinauf, mühsam seinen Weg ertastend, bis er nach einer guten Stunde des Aufsteigens den Klippenvorsprung erreicht hatte und sich an diesem wieder hinauf zur Ebene zog, die ihm nun wie ein beständiger, sicherer Ort erschien, behütet vor jener entsetzlichen Traumwelt dort unten.

Es hatte wieder begonnen zu schneien, und er marschierte durch eine eintönig gewordene Kristallwelt in die ungefähre Richtung Sakais zurück, oder dorthin, wo er die Stadt vermutete, und mit jedem Schritt, den er sich von den Klippen entfernte, vergaß er die Geschehnisse in der Höhle und vergaß die weinende, einsame, ruinierte Frau darin, der er versprochen hatte, rasch zurückzukehren.

Erst etliche Monate später, zu Hause in Tokio, war sie ihm wieder erschienen, an seinem Bett stehend, in den angsterfüllten Augenblicken kurz vor dem Erwachen; oder manchmal, im lauernden Dunkel eines Kinosaales, wenn ein Film noch nicht begonnen hatte, dann sah er sie vor sich, wie sie dort hinten kauerte, das rotbemalte Gesicht von ihm abgewandt, unterhalb der Leinwand, neben dem gerafften samtenen Vorhang.