Und Kracauer und Eisner (die, so fällt es Nägeli berauscht auf, einen wunderhübschen Knispelmund hat) unternehmen dann (man hat Hugenberg und dessen blondes Äfflein Heinz und Putzi den Golem endlich gegen halb vier Uhr morgens im Adlon abgehängt) mit Nägeli eine halsbrecherische Taxifahrt, in deren Verlauf der Schweizer darum bitten muß, den Wagen doch rasch dort, am Saum des Tiergartens, anzuhalten. Ausstieg. Der Himmel, er stürzt dunkel und sternlos nach oben.
Nägeli kniet sich auf einem Bein hin, würgt und würgt, sich dabei am hinteren Kotflügel des schwarzen Wagens abstützend, sein Gesicht theatralisch verzerrt und seitlich von der gelben Rückleuchte des Taxis illuminiert (als spiele er plötzlich selbst in einem jener grell überzogenen, übermanieriert inszenierten, inzwischen leicht antiquierten deutschen Filme), dann Erleichterung, der Mund wird mit dem Handrücken abgewischt, es geht wieder ins Auto hinein, Kracauer legt ihm warm und freundschaftlich den Arm um die Schultern, und Lotte Eisner hält ein Fläschchen Hoffmannstropfen unter die Nasenflügel seiner schmalen schweizerischen Seele.
Nun geht sie weiter, die nächtliche Gondelei durch Berlin, unter dem durch Trunkenheit verwischten Licht der Straßenlampen, an hochaufragenden, stählernen, jäh errichteten Kolossen vorbei, an Dutzenden von clownesk geschminkten, am Straßenrand aufreizend posierenden Dirnen, an Schuhputzern, Rattenfängern, Versehrten. Lastwagen, mit johlenden jungen Menschen beladen, die von einer politischen Prügelei zur nächsten jagen, sausen über rote Ampeln.
Und über ihnen schimmert zum wiederholten Male, als führen sie immer im Kreise, die giftig grüne Neonleuchtwerbung der Philips-Gesellschaft, die Vorzüge der Pentodenröhren anpreisend.
Daß du dich das getraut hast bei diesem Hugenberg, sagt Nägeli zu Eisner. Und sie antwortet, die Wahrheit sehe so aus: man habe noch vielleicht ein halbes Jahr in Deutschland zu leben. Maximal. Deshalb sei es essentiell, sich nicht mehr selbst zu verleugnen, keine Minute länger. Ja, das gelte auch für ihn, Nägeli, sagt ergänzender Kracauer, ein Regisseur müsse an die absolute Wirklichkeit seines Stoffes glauben, ja, er müsse an Vampire und an Geister und an Wunder glauben. Erst daraus entstünde presto: Wahrheit. Nägeli nickt, schluckt den scharfen Geschmack des eben Erbrochenen hinunter, ja, sie haben recht, seine neuen Freunde.
Vorne sagt der Taxischofför nun in feige hingenöltem Berliner Dialekt etwas sehr Häßliches: die Juden seien schuld am ganzen Schlamassel, an der Misere. Nur gut, wenn man sie alle wegjage, nach Timbuktu, tief in den fernsten Urwald, wo das animalische Pack hingehöre. Wer hier nicht anständig deutsch leben wolle, der müsse eben gehen, oder gegangen werden, und er zieht sich die Handfläche an der Gurgel entlang.
Nägeli will ihm von hinten eine Ohrfeige klatschen, Lotte hält seinen Arm fest, es sei doch besser, man ignoriere derartiges, doch dann pikst ihm schon Kracauer, der vorne neben dem Fahrer sitzt, mit zwei ausgestreckten Fingern in die Augen, der Schofför schreit auf, reißt die Hände vom Lenkrad und vor das Gesicht, und der nun führerlose Mercedes zieht nach links weg, verfehlt nur äußerst knapp ein Auto auf der anderen Fahrbahn (das Hupen zieht, als sitze man in einem diabolischen Klangtunnel, erst direkt von vorne, dann seitwärts, schließlich hinten vorbei), verfehlt links einen ehrwürdigen Kastanienbaum, rechts eine Eiche, nun kollidiert das Taxi mit einer Litfaßsäule und kommt so, rauchend und mit dampfspotzender, verbogener Kühlerhaube unter einem jener grellbunten Wahlplakate zu stehen, welches die eher uneinhaltbaren Versprechungen der Liste 2 anpreist (Arbeit und Brot).
Nägeli und Eisner werden leicht nach vorne geschleudert, aber außer nasenblutendem Kracauer, dessen Lachanfall eine Zahnreihe freigibt, an der Mundblut die Spalten zwischen den Zähnen hochklettert, ist niemand zu Schaden gekommen.
Zwei eher herbeigeschlenderten als -geeilten Schutzmännern werden von Lotte Eisner Dollarscheine in die Hände gedrückt, diese verziehen sich wieder (es gibt drüben am Nollendorfplatz soundso Wichtigeres – ein Schlägertrupp der kurzzeitig verbotenen Braunhemden ist auf ein Kommando der ebenfalls verbotenen Hamburger Roten Marine getroffen, dort strömt das Blut in viel größeren Mengen), Kracauer gibt dem neben seinem ramponierten Taxi kauernden, nun einem teutonischen, komödiantischen Vergil ähnelnden Schofför noch einen kleinen Tritt, man hastet die Allee hinab, links, rechts, wieder links, weitere Lachanfälle, weitere Umarmungen, und dann, in einer konspirativen Wohnung in der Tauentzienstraße, auf deren hellgrünen Samttapeten bald die ersten Lichtschauer des Morgens erzittern werden, liegen die drei rauchend rücklings auf dem Teppich vor dem Kamin, und Lotte und Siegfried sind sich sicher, in ihm den Richtigen gefunden zu haben, und sie pflanzen in die Intimität dieses Augenblicks den Gedanken, Nägeli, den sie für den Allerbesten halten, müsse einen Gruselfilm drehen, eine Allegorie, bitte sehr, des kommenden Grauens.
Und Nägeli, der einerseits Hugenbergs zweihunderttausend magische Dollar vor sich leuchten sieht (die leider an die Auflage gekoppelt sind, er müsse Heinz Rühmann besetzen) und andererseits die gigantische Ironie dieser Idee ganz und gar wunderbar findet, lacht, pustet Rauch deckenwärts, und es ist die ersehnte Befreiung: Er habe die ganze Zeit gedacht, der blonde Süßholzraspler komme ihm nicht vor die Kamera, und ja, das sei genau die Idee, die er seit Monaten suche; er werde einen Gruselfilm drehen, man müsse es der UFA nur auf irgendeine Weise schmackhaft machen, er werde Rühmann einfach nicht mehr erwähnen, ja, er werde nach Japan fahren und dort drehen, er sei ja, so habe er Hugenberg vorhin verstanden, dazu eingeladen, alles werde bezahlt. Und es sei doch ganz evident: der Untote im Film müsse ein gutaussehender, schlanker Asiat sein, also exakt das Gegenteil von Heinz Rühmann.
Ja, man müsse lediglich groß denken, alles andere komme ganz von alleine, gluckst Lotte Eisner, eine weitere Flasche Champagner öffnend, und Kracauer, der zum Eierpochieren hinüber in die Küche gewandert ist, ruft herüber, Mensch, ja, es könne doch auch eine Frau die Untote geben, eine Asiatin, Anna May Wong zum Beispiel, dann sei man Rühmann endgültig los. Die Eier sind ihm mißglückt, so schlägt er ein weiteres halbes Dutzend einfach in die Bratpfanne und trägt binnen kürzester Zeit munter die Internationale pfeifend die Omelette in den Salon herein.
Zweihunderttausend seien noch gar nicht genug, man müsse doch das Reich schröpfen, Nägeli solle Hugenberg nochmals treffen und drei-, ach was, vierhunderttausend Dollar verlangen für die Erfüllung der UFAschen Weltmachtsfantasien. Aber das sei doch ein gigantischer Schwindel, protestiert protestantischer Nägeli, er habe allenthalben rein gar nichts in dieser Richtung vorzuweisen und noch viel weniger eine Idee, worauf Lotte einwirft, unlauter seien vielmehr die anderen, die furschlugginer Reichsminister, die Kulturdozenten, die Großkapitalisten, ja, selbst die Journalisten (sie fasse sich da gerne an die eigene Nase), die die eklatante Korruption und das viehische Gefüge der Macht, die Anbiederungen und den Erhalt ihrer ängstlich verteidigten Sicherheit unterstützten mit ihrem belanglosen, mittelmäßigen Geschreibsel.
Speien müsse sie, speien, wenn es nicht so traurig wäre. Kracauer lächelt und berührt Eisner sanft am Arm. Irgendwann singen die Vögel, und die Diskussionen verflüchtigen sich, werden leiser und eins mit dem aufkommenden Arpeggio des frühmorgendlichen Straßenlärms.
Und so kommt es, daß Nägeli, nachdem er acht Stunden völlig regungslos mit dem Gesicht nach unten auf Kracauers Sofa ausgeschlafen hat, sich unter nadelpfeifenden Kopfschmerzen leichtfertig und telefonisch mit Hugenbergs Büro verbinden läßt, dort um einen Termin ersucht und diesen am späten Nachmittag auch wahrnimmt, obwohl ihm sein schweizerisches Gewissen suggeriert, er möge es um Himmels willen nicht tun, sondern zurückeilen in sein sicheres Zürich, noch sei Zeit, letzte Chance, in diesen deplazierten faustischen Pakt nicht einzuwilligen, noch könne man alles holterdipolter abbrechen, basta, bapkes, finito finale. Aber natürlich fährt er doch zu Hugenberg. Auf dem Weg dorthin säumen ungezählte Hakenkreuzfahnen die Fassaden Berlins, wie geistlose Schwalben hängen sie dort.