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Mit der Eisenbahn im nördlichen Hokkaidō angelangt, läßt Nägeli sich mit der Fähre hinübersetzen auf die Kurilen, jene Inselkette auf dem Weg nach Sibirien. Am Hafen läuft er auf ein Fischerboot zu, gestikuliert etwas hilflos, verneigt sich, deutet zum nordöstlichen Horizont. Die Krabbenfischer nehmen ihn ein Stück mit, bis zur nächsten Insel, und der darauffolgenden, und er überlegt, ihnen zum Dank die Tasche mit den Kameras zu schenken, nachdem er ihre gegerbten, gutmütigen Gesichter und ihre Netze gefilmt hat, aber er besinnt sich eines Besseren, kann sein, daß er die Apparate noch brauchen wird.

An der Grenze zu Rußland wird das Fischerboot von grimmig dreinschauenden sowjetischen Marinesoldaten angehalten, man kommt mit dem Beiboot und überprüft die Mannschaft, auf die vom Küstenwachschiff aus ein schweres Maschinengewehr gerichtet wird. Nägeli radebrecht, er habe zwar kein Visum, sei aber Schweizer Naturforscher, ob er nicht wenigstens bis kurz vor Kamchatka mitfahren dürfe? Der diensthabende sowjetische Offizier läßt ihn natürlich nicht weiterreisen und beginnt, den Sack mit den Kameras zu untersuchen. Bevor es zu weiteren Verwicklungen kommt, verschenkt Nägeli alle seine Zigaretten an die Soldaten, gibt dem Offizier seine restlichen Dollars, die Fischer und auch Nägeli verbeugen sich, und unter tausend Entschuldigungen machen die Japaner kehrt und setzen ihn an der Küste Hokkaidōs wieder ab. Sie warnen ihn noch freundlich vor den Braunbären, die zu dieser Jahreszeit manchmal Menschen anfallen würden.

Kreuz und quer durchs wilde Hokkaidō bewegt er sich, in dem jetzt, im japanischen Frühsommer, die Abhänge und Steilküsten von violett blühenden, wilden Lilien und Primeln umwachsen sind. So wandert Nägeli pfad- und planlos immer weiter umher, baut sich des Abends Unterkünfte aus Ästen und Zweigen oder schläft unter Sternen, füllt seine Wasserflasche an den Bächen, fängt Fisch mit den bloßen Händen und ißt ihn roh, versucht, die Braunbären, die sich hin und wieder in seiner Nähe zeigen, vorsichtigen Schrittes zu filmen.

Die Natur erscheint ihm ungestüm und satt und voller Kraft, und nachts träumt er von unermeßlichen erloschenen Vulkanen, deren Hänge sich ungeordnet in der Ferne zeigen. Manches Mal sieht er tatsächlich ihr orangefarbenes, beruhigendes Leuchten am Nachthimmel, Hunderte Kilometer entfernt. Eine Fuchsfamilie folgt ihm mehrere Tage lang in sicherem Abstand, nestbauende Vögel zwitschern fi-di-bus ihren am Himmel gen Westen ziehenden Genossen zu.

Einige Male fühlt er beim Gehen, wie eine kleine Hand nach seiner greift, wie sein Daumen umschlossen wird von einer Kinderhand, schaut er hin, so ist selbstverständlich niemand da, wandert er weiter, so wird er den ganz konkreten Eindruck nicht los, jemand Kleines gehe mit und neben ihm; sein Instinkt sagt ihm, er werde beobachtet, dreht er sich aber um, so ist er ganz alleine.

Er ist sich sicher, diese sonderbaren Empfindungen seien der Einsamkeit der Natur geschuldet, und er kümmert sich nicht weiter darum. Doch unvermittelt ist sein Vater wieder da, nach langen Wochen und Monaten; da ist der sonnengebräunte, sorgfältig ausrasierte Nacken mit den eisgrauen, einen halben Millimeter kurzen Haarstoppeln, den fröhlichen Altersflecken, dem Zwinkern im Blick, ja, verflucht noch mal, sein Vater hat Humor gehabt unter all der rekursiven, eleganten Brutalität.

Und plötzlich ist er sich sicher, daß sein Vater ihn eines Tages nicht mehr gemocht hat, weil er, Emil, ihm irgendwann seine Hand entzogen hatte, weil es sich für ein größeres Kind, so hatte er gedacht, nicht mehr schickte, an der Hand des Vaters zu gehen. Ja, denkt er, das war der Bruch zwischen ihnen gewesen, und es war ganz allein seine Schuld und nicht die seines Vaters, den er auf einmal sehr vermißt.