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Nach einer langen Schiffsreise zurück in der Schweiz, betritt Nägeli seine kleine Wohnung im Niederdorf, kocht sich eine Tasse Tee, überfliegt den ansehnlichen Stapel Post, der sich auf seinem Küchentisch angehäuft hat, steckt sich nacheinander drei Zigaretten an und fädelt, dabei rauchend, den Film in seinen Projektor, den er an der nagelneuen Steenbeck-Maschine drüben in Oerlikon bei der Nordisk provisorisch zusammengeschnitten hat. Nachdem er ihn zweimal angesehen hat, lächelt er still und stolz in sich hinein, weil er weiß, daß es ein Meisterwerk ist.

Er schließt die Wohnungstür von außen ab, spaziert hinunter zur Limmat, die behäbig und milde aus dem See fließt, und beobachtet eine ganze Weile die Schwäne, die die Köpfe, es ist nun Spätherbst, anmutig und ornamental unter ihre Flügel schieben. Im seichten, transparent schimmernden Wasser des Flußufers entdeckt er die sich langsam drehenden Speichen eines Fahrrads. In der Ferne jenseits des Sees, im Südosten, sind die schneebedeckten Alpen zu sehen, und darüber die sich im Föhnwind auftürmenden Wolken, die er damals als Kind stundenlang angestarrt hat.

Seine Haare haben nun wieder die gewohnte Länge, er fühlt es im frisch gewordenen Wind, ertastet achselzuckend den Skalp, wie sich die kahle Stelle dort am Hinterkopf ausgeweitet hat. Er ist durch den langen Spaziergang in Hokkaidō muskulös und schmal geworden, in seinem Blick liegt etwas Abwesendes, beinahe Verträumtes.

Die Schweiz ist ihm nicht mehr ganz so fremd wie noch vor einem Jahr. Man hat ihn anscheinend vermißt, denn in der Zwischenzeit hat man sich seines Schaffens besonnen und ihm sowohl eine Gastprofessur in Bern angeboten als auch irgendeine Bronzemedaille im Welschland verliehen. Außerdem hat man ihn gebeten, an der ETH eine Vortragsreihe zu halten über die Zukunft des schweizer Kinos, und er ertappt sich dabei, sich über diese neuen, bürgerlichen, fast sogar freundschaftlichen Zuwendungen seiner Heimat zu freuen.

Er zeigt eine Rohfassung seines Films, den er so genannt hat wie dieses Buch, in einem kleinen, unscheinbaren Vorführraum im Seefeld, ganz in der Nähe des Opernhauses. Es ist unverhältnismäßig warm an diesem Spätnachmittag, Blitze zischen aus den Wolken über dem See.

Eine Klavierspielerin und ein leider recht unbegabter Cellist begleiten die schwarz-weißen, stumm flackernden Szenerien; ein japanischer Mann und eine hellblonde junge Frau sind zu sehen, er zeitunglesend in einem offenen Wagen; dann ein Golfball, der sich elliptisch droben am Himmel entfernt; der verschneite Kegel eines erloschenen Vulkans; eine dunkle Rumpelkammer, angefüllt mit wertlosem, altem Tand; verwackelte, unscharfe Tiere, die wie Braunbären aussehen; Nahaufnahmen der gegerbten Hände asiatischer Seeleute, die ihre Netze flicken; die lange gehaltene Einstellung eines zertretenen Pappbechers. Nicht alle Zuschauer bleiben wach.

Danach gibt es verhaltenen Applaus und vier gekühlte Flaschen Walliser Fendant. Ein paar aufgeschlossene Journalisten sind gekommen, einige Freunde ebenfalls, die Nägeli anderntags unter anerkennendem Gelächter die Zeitungen zeigen, in denen er als Avantgardist und Surrealist tituliert wird, in der Neuen Zürcher hingegen als debil. Und das in der Schweiz! ist dort zu lesen. Auf die Stellen im Film, in denen Amakasu und Ida miteinander Sexualverkehr haben, wird nur insofern eingangen, als daß man schreibt, das sei ein gutes Beispiel für jene skandalösen und vor allem berechnenden Tendenzen in der Kunst, die sich leider inzwischen allerorten breitmachen würden. In Deutschland ist Hugenberg von Joseph Goebbels abgelöst worden, der vergessen oder verdrängt zu haben scheint, daß Nägeli der UFA für immer einen Film schuldig bleiben wird.

Manchmal, allerdings ganz selten, denkt Nägeli an Ida und Masahiko. Er hat über Freunde von Freunden gehört, daß beide nach Amerika gereist seien und dort geheiratet hätten. Sie sei wohl Schauspielerin geworden und habe ein gutes Auskommen. Ihm sagt dieses kulturlose Land wenig. Hassen? Nein, er haßt Ida nicht mehr. Western schaut er sich ganz gerne an, vielleicht sieht er sie ja mal auf der Leinwand. Vielleicht, sagt er sich, vielleicht sollte er doch noch mal bei Hamsun klingeln.