4.

Masahiko Amakasu lag zu Hause, den Ellenbogen auf ein Kissen gestützt, im großen Zimmer neben der Küche, schenkte sich ein halbvolles Glas Whisky ein, legte eine Schallplatte mit einer Bach-Sonate auf den Apparat und sah sich den Film auf seinem Heimprojektor bis zur knappen Hälfte an. Er kam nicht weiter als bis zu jener Stelle, an welcher der junge Mann, aus dessen Bauch der Griff des Messers unanständig ragte, sich erbrechen mußte. Amakasu konnte kein Blut sehen, abscheulich war das, wie gelähmt war er vom kinematographisch festgehaltenen, entmenschten Imago des Realen.

Die ganze Chose erinnerte ihn an eine Serie von braunstichigen Fotografien, die er einmal kurz in den Händen gehalten hatte; darauf war zu sehen gewesen, wie ein Delinquent im imperialen China mittels Lingchi gepeinigt und in den Tod geschickt worden war – man hatte den Verurteilten, der seinen Blick während der Folter ekstatisch wie Sankt Sebastian himmelwärts richtete, auf barbarische Weise mit Messern traktiert; die Haut war abgeschält worden, die Extremitäten einzeln, Finger um Finger, abgeschnitten. Entsetzt hatte Amakasu die Bilder so rasch fallen lassen, als seien sie mit Kontaktgift bestrichen gewesen; es gab bestimmte Dinge, die man nicht abbilden durfte, nicht vervielfältigen, es gab Geschehnisse, an denen wir uns mitschuldig machten, wenn wir deren Wiedergabe betrachteten, es war genug gewesen, es war alles da.

Er hatte sich letztens aufgrund starker Sehtrübung von einem befreundeten Arzt behandeln lassen, der ihm nach eingehender, von wedelnden Handbewegungen begleiteter Untersuchung eine mittelschwere Infektion diagnostiziert und ihm gleich noch im Vorzimmer mit der Pinzette unter fast unerträglichen Schmerzen einige Wimpern ausgerissen hatte; die fraglichen Wimpern waren anscheinend nach innen, Richtung Augapfel gewachsen. Nun konnte er zwar wieder scharf sehen, aber die Erinnerung an jene Prozedur, die nicht einmal eine Minute gedauert haben konnte, löste in ihm ein ähnlich tiefes Unwohlsein aus wie die filmische Dinglichmachung dieses Selbstmords.

Amakasu hatte sich in den letzten Wochen sicherlich ein Dutzend europäische Spielfilme angesehen; Murnau, Riefenstahl, Renoir, Dreyer. Darunter war auch Die Windmühle des Schweizer Regisseurs Emil Nägeli gewesen, eine einfache Geschichte aus einem kargen Schweizer Bergdorf, die in ihrer langatmigen Erzählweise an Ozu und Mizoguchi erinnerte und für ihn den Versuch einer Definition des Transzendentalen, des Spirituellen darstellte – Nägeli war es ganz offensichtlich gelungen, mit den Mitteln der Filmkunst innerhalb der Ereignislosigkeit das Heilige, das Unaussprechbare aufzuzeigen.

Manchmal verweilte Nägelis Kamera lange und grundlos bei einem Kohleherd, über einem Holzscheit, am Hinterkopf des rund geflochtenen Haares einer Magd, auf ihrem weißen, von blondem Flaum bestaubten Nacken, um dann durch ein offenstehendes Fenster magisch hinauszugleiten, Richtung Tannen und schneebedeckte Berghöhen, als sei sie immateriell, als sei die Kamera jenes Regisseurs ein schwebender Geist.

Oft war Amakasu beim Betrachten dieses Schweizer Films eingenickt; er wußte nicht mehr, ob es nur für ein paar Sekunden gewesen war oder gleich minutenlang; sein Kopf war zur Seite gefallen, und nach dem kurzen Empfinden, er würde fliegen oder vielleicht unter Wasser spazierengehen, war er erschrocken und ruckartig wieder erwacht; die schwebenden, in allen Grauvariationen flackernden, beinahe gegenstandslosen Mosaike des Films hatten sich mit seinen Traumbildern vermengt und sein Bewußtsein mit der violetten Politur einer unbestimmten Angst überzogen.

Jetzt aber hatte er jenen abscheulichen Selbstmordfilm vor sich, diese Dokumentation eines realen, tatsächlichen Todes. Amakasu schaltete den Projektor mit einer knappen Handbewegung aus, zündete sich eine Zigarette an, blieb im feuchten Wind des Tischventilators sitzen und erwog, die Filmrolle nicht nach Deutschland zu schicken, sie lieber im Kellerarchiv des Ministeriums zu verschließen, sie dort liegen zu lassen und für immer zu vergessen. Allmählich wurde er zu jener Sorte Mensch, die allen Glauben verloren hat, außer vielleicht den Glauben an das Unechte.

Die eisernen Geheimnisse seines Landes, jene Schweigsamkeit, die alles meint und nichts sagt, war ihm zuwider, aber gleichermaßen waren ihm, wie jedem Japaner, die Ausländer aufgrund ihrer Seelenlosigkeit zutiefst suspekt – wenn man sie und ihre aufdringliche Irrelevanz jedoch für die eherne Pflicht dem Kaiser und der Nation gegenüber benutzen konnte, nun, dann mußte man das wohl tun.

Ein Nachtfalter hatte sich in der Küche verirrt und schwirrte geräuschvoll klappernd eine Runde um den Kühlschrank. Amakasu trocknete Teller und Glas ab, stellte das Geschirr vorsichtig ins Regal zurück und lauschte dem Regen, der beständig auf das Dach des Hauses klopfte. Doch, es war alles richtig so mit den Deutschen. Er würde den Film nach Berlin schicken, gleich morgen. Am Ende lief es doch darauf hinaus, daß wirkliche Empfindungen sich eher um eine Fotografie oder einen Film kristallisieren als etwa um eine verbale Äußerung oder gar um einen Slogan. Das Leiden des Offiziers in dem Film war gleichzeitig verzückt und unerträglich, eine Transfiguration des Schreckens zu etwas Höherem, Göttlichem – die Deutschen würden das doch gut verstehen in ihrer makellosen Todessehnsucht.

Amakasu ging durch den Flur hinüber zum Badezimmer, putzte sich die Nase und drehte einen Propfen aus Seidenpapier, um sich damit in einem dostojewskischen Anflug von Selbstvergessenheit die Ohren zu reinigen. Er roch daran, roch nichts an den gelb verfärbten Stellen, knüllte das Papier zusammen und warf es in die Schüssel der modernen westlichen Toilette, betätigte die Spülung und beobachtete, wie der Maelstrom des Wassers wirbelnd und unanständig gurgelnd das Ganze zu den letzten Takten der Bach-Sonate hinabsaugte.