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Eins
– Mitte August –
Warum ging eigentlich keiner ans Telefon?
Hier oben in meinem Zimmer pochten die Bässe, trotzdem hörte ich es im Erdgeschoss immer wieder klingeln. Unter dem roten, rissigen Lackleder, auf dem ich mich fläzte, rieselte und knirschte es. In der linken Naht war ein kleines Loch, aus dem immer, wenn ich mich auf den Sitzsack fallen ließ, einige der kleinen Styroporkügelchen herausgeschossen kamen, mit denen er gefüllt war. Ich feuchtete meinen Zeigefinger mit Spucke an, sammelte ein paar Kügelchen auf und schnippte sie durch die Gegend. Das dritte blieb an der Zimmerdecke kleben, endlich.
Nach dem elften Klingeln sprang ich dann doch auf. Vielleicht war das ja Bogi, der anrief. Ich rannte die Treppe runter und ging, obwohl es zu dem Apparat im Flur kürzer gewesen wäre, zu dem im Wohnzimmer. Also das, was bis vor Kurzem noch unser Wohnzimmer gewesen war.
Jetzt standen hier nur noch lauter halb gepackte Kartons rum. Mein Vater zog mit seiner neuen Freundin in irgendein Nest, in dem ich noch nicht mal tot überm Zaun hätte hängen wollen. Es war nicht wirklich am Arsch der Welt, aber man konnte ihn von da aus schon sehen. »Meine Lebensgefährtin«, hatte er ein bisschen verlegen gesagt, als wir uns in seinem Zimmer gegenübergestanden hatten, und ich hatte nur gedacht, dass ich dieses Wort nicht gerne für jemanden benutzen würde, in den ich verliebt war. Einen besseren Vorschlag hatte ich allerdings auch nicht. Woher auch? Ich war fünfzehn und gerade in niemanden verliebt. Also nicht so wie mein Vater in diese Claudia.
Meine Mutter und ich wussten noch nicht, wo wir demnächst wohnen würden.
Auf dem Weg zum Telefon kam ich am halb nackten Nymphensittich vorbei. »Kackfresse«, zischte ich ihm zu und hoffte, er würde es irgendwann mal nachplappern. Anstatt mich immer nur anzuglotzen und sich die Federn auszurupfen.
Ich nahm den Hörer ab und sagte nichts.
Machte ich grundsätzlich nicht. Der Anrufer hatte ja schließlich unsere Nummer gewählt. Dann sollte der jetzt gefälligst mal erklären, wer er war und was er wollte.
»Äh, Schnellstieg.«
»Was?«
»Schnellstieg. Herr Schumacher?«, sagte der Anrufer.
»Nee. Hier ist Morten.«
»Ach, ja, hallo. Morten, ach du bist das. Hier – ist der Dieter.«
»Was?«
»Herr Schnellstieg. Dieter Schnellstieg. Der Vater von Manfred. Bogi.«
»Ach so. Ja. Hallo.«
»Ja, genau. Hallo Motte.«
»Hallo.«
Das hatte jetzt ein bisschen gedauert, bis ichs kapiert hatte. Bei ihm aber auch.
Bogis Vater war dran.
Mit dem hatte ich noch nie telefoniert.
Wenn ich Bogi angerufen hatte, war er entweder selbst drangegangen, weil er schon auf meinen Anruf gewartet hatte, oder Anette, seine dämliche Schwester, oder seine Mutter. Aber nie sein Vater.
Bogi war mein bester Freund und hieß eigentlich Manfred Schnellstieg. Das sagte aber außer den Lehrern keiner. Manchmal vielleicht noch seine Eltern.
Bogi hieß so, seit Udo Mönch uns vor ein paar Jahren in der großen Pause gefragt hatte, ob wir gestern Abend auch den Film mit Manfred Bogart gesehen hätten.
»Hä?«
»Na, den Film!«, hatte Udo gesagt.
»Wie hieß der noch? Kassaplancka! Mit dem Manfred Bogart!«
Wir hatten uns krankgelacht, und Udo Mönch, dieser Vollhorst, war stinksauer abgezogen.
»Wollt ihr mich verarschen? Was soll das denn für’n Name sein, Hampfree?«, hatte er im Weggehen gekräht.
Seitdem war also Manfred Schnellstieg nur noch Bogi genannt worden. Noch einen Manfred gab es auf der Schule nämlich nicht. Da konnte er sich bei seinen Eltern bedanken, für seinen tollen Vornamen. Also echt, Leute. Manfred. Wahnsinn.
Eigentlich hätte ja Udo Mönch nach der Nummer einen Spitznamen kriegen müssen. Und zwar nicht so einen netten wie Bogi, sondern Dummklumpen oder Flachzange, aber der Typ war wirklich so blöd, dass einem zu dem überhaupt nichts einfiel, noch nicht mal das.
Was wollte Bogis Vater eigentlich von mir? Gabs Ärger, weil er den Amselfelder gefunden hatte, den Bogi im Garten versteckt hatte? Jetzt am Wochenende war unsere Turnierfahrt, für die wir uns im Kaisers vor ein paar Tagen zwei Flaschen Rotwein geholt hatten. Einen Ausweis wollten die im Supermarkt nicht sehen, obwohl die uns ja kannten und wussten, dass wir das Zeug noch nicht kaufen durften. Amselfelder, Jugo-Wein, war der zweitbilligste gewesen. Der noch billigere war aber aus Brombeeren, und Bogi hatte mal gehört, von dem bekäme man Dünnpfiff, deshalb hatten wir lieber die Finger davon gelassen.
»Besonders bekömmlich« hatte auf der Amselfelderflasche gestanden, und »ohne Stiele und Stengel gekeltert«. Ich konnte mir, wenn ich ehrlich war, unter bekömmlich nichts vorstellen. Irgendwas für alte Leute anscheinend. Überhaupt: Wein aus Stengeln? Wahrscheinlich bedeutete »bekömmlich« auch einfach, dass man davon nicht gleich im Strahl kotzte, sondern erst später.
»Der haut total rein, der Blackbirdfielder.« Bogi hatte in letzter Zeit dieses Englischding, und ich hatte gedacht: Jaja, alles klar, Bogi, woher willst’n das wissen, wenn wir das auf der Fahrt zum allerersten Mal ausprobieren wollen?
Während wir telefonierten, stellte ich mir vor, wie Herr Schnellstieg jetzt bei sich zu Hause an dem alten Apparat in der Diele stand. Wie er sich verdrehte auf seinen beigen Cordschlappen mit der zahnfleischfarbenen Sohle. Das mit der Zahnfleischfarbe konnte ich beweisen, weil Bogi und ich mal im Badezimmer der Schnellstiegs den Hausschuh von Bogis Vater zum Vergleich neben das Gebiss seiner toten Oma gehalten hatten, das da noch rumgelegen hatte. Mal sah ich Bogis Vater jetzt ganz deutlich vor mir, dann wieder nur verschwommen. Wie wenn man durch die Milchglasscheiben der beiden Schwingtüren guckte, die bei den Schnellstiegs den Windfang hinter der Haustür von der Diele trennten. Jedenfalls war es, wenn man in das Haus kam, erst mal so, als ob alle hinter der Scheibe Geister wären, gar keine echten Menschen, oder als ob sie im Nebel standen. Erst später, wenn man zu ihnen reingegangen war, bekamen sie eine klare Form, und man konnte sie voneinander unterscheiden.
»Ist was mit der Turnierfahrt?«, fragte ich.
»Nein. Pass mal auf. Der Manfred, der, äh, Bogi musste leider ins Krankenhaus. Der kann nicht mit.«
Sogar die Schnellstiegs nannten ihren eigenen Sohn mittlerweile Bogi.
Wieso denn Krankenhaus? Der war doch gestern noch in der Schule gewesen. »Bis morgen«, hatten wir uns verabschiedet. Und heute war Samstag, wir sollten nachher zu dem Fußballturnier fahren. Ich verstand kein Wort.
»Bist du noch da?«, fragte Herr Schnellstieg.
»Ja.«
»Ja. Die, äh, haben da beim Manfred was gefunden, was sie jetzt mal untersuchen müssen. Weil, wenn das … Deshalb ist der jetzt in der Klinik. Im Sankt Joseph.«
»Ah, Sankt Joseph«, wiederholte ich, als ob ich mich mit Krankenhäusern auskennen würde.
»Mhm …«, räusperte sich Bogis Vater. »Petra! Kannst du mal kommen?«, rief er dann, »ich geb dir mal Manfreds Mutter, ja?«
»Hallo, Motte?« Jetzt war Bogis Mutter dran. Ich schluchzte. Wahnsinn, jetzt ging diese Flennerei wieder los. Passierte mir in letzter Zeit dauernd, ohne dass ich wusste, warum. Einfach so, ohne Stiele und Stengel gekeltert.
»Ja, pass auf, Motte, du musst wirklich nicht weinen. Der Manfred war doch gestern Nachmittag beim Arzt, wegen der Impfung. Und da hat man was gefunden, wo sie jetzt im Krankenhaus mal nachgucken wollen. Aber wahrscheinlich ist es gar nichts.«
Ich zog den Rotz hoch und sagte nichts. Frau Schnellstieg auch nicht. Wir atmeten eine Weile in unsere Telefonhörer. Bogis Opa hatte mal erzählt, die Nazis hätten gewollt, dass man statt Telefonhörer Fernsprechhantel sagte. Und dass der Telefonhörer sowieso gar nicht Telefonhörer hieße, sondern Handapparat. Die hatten Probleme.
Dann weinte Bogis Mutter plötzlich auch, obwohl sie mir doch vor fünf Sekunden noch gesagt hatte, das müsse nicht sein. Ganz leise nur, aber ich merkte es. Wenn der andere nicht zeigen will, dass er heult, hört man das Schniefen erst recht.
Was denn jetzt? Wir heulten, und ich wusste noch nicht mal, weswegen genau. Die Ärzte sollten besser mal nachgucken, hatte sie gesagt. Aha. Irgendwann legte ich einfach auf.
Ich ging die Treppe hoch und in mein Zimmer zurück. Jetzt hat sich gerade alles verändert, dachte ich. Nee, dachte ich nicht. Keine Ahnung, was ich wirklich dachte. Vielleicht fragte ich mich auch nur, ob auf dem Sitzsack immer noch mein Abdruck zu sehen war.
Bevor ich die Tür schloss, stoppte ich kurz. Hinter mir hatte ich was gehört. »Coco!«
Der Nymphensittich. So ein Idiot. Coco am Arsch.