»Heinz! Weg da!«
»Was?«
»Lass los, Mensch, ich nehm die englisch!«, hörte ich die fremden Stimmen von oben rufen, als ich nach der Schule nach Hause kam und die Tür aufschloss.
Den Lastwagen der Möbelpacker hatte ich schon auf der Straße gesehen. Ich hatte vergessen, dass mein Vater heute auszog. Andererseits, warum hätte ich mir das auch merken sollen? Wenn er mich gezwungen hätte, ihm zu helfen, okay, das wäre was anderes gewesen. Auf die Idee war er aber zum Glück nicht gekommen.
Die Schlepperei erledigten ja die Herren von »Umzüge Gebuehrlich«, so stand es auf ihrem Lastwagen und den grünen Latzhosen geschrieben. Obwohl, vielleicht stand da auch »Umzuege Gebührlich«, was weiß ich. Jedenfalls hatte ich eben erst mal eine Weile vor dem Laster gestanden und mich über das Buchstabendurcheinander gewundert.
Die beiden trugen das Zeug also »englisch«, wie der
eine, der nicht Heinz war, seinem hinter ihm versteckten Kollegen, der ja dann demzufolge Heinz sein musste, zugebrüllt hatte. Auf Nicht-Heinz’ Schultern lag eine Kommode, mit der er langsam schwankend die Treppe herunterkam, während Heinz hinter ihm aufpasste, dass Nicht-Heinz nicht stolperte und die Wände des Treppenhauses ruinierte. Ob es noch andere Tragetechniken gab, die nach den Ländern benannt waren, in denen sie entwickelt worden waren? Hätte man die Kommode auch finnisch nehmen können oder ägyptisch? Und wie hätte das dann ausgesehen?
Nicht-Heinz haute drei fette Kerben in die Wand, und zwei der vier Kommodenbeine hingen auf halb acht, als er endlich unten war.
Der andere, Heinz, jubelte meiner Mutter trotzdem ein Formular unter, als wenn nichts passiert wäre: »Bitte hier noch schnell ein Autogrämmchen, Frau Schumacher, dass wir nichts kaputtgemacht haben, hahaha.« Sie unterschrieb kichernd. Dieses verschwörerische Zwinkern, wenn sie mit wildfremden Leuten zu tun hatte, war mir echt peinlich. Vielleicht gönnte sie meinem Vater aber auch einfach, dass die Kommode im Eimer war. Ihm und Claudia.
Vor einer Woche war zum ersten Mal Herr Gebuehrlich, der Chef von Umzüge Gebuehrlich, also der Sklaventreiber von Heinz und Nicht-Heinz, hier aufgetaucht und hatte stapelweise Pappkartons abgeladen, die man auseinanderfalten und dann nach einem bestimmten System aufbauen musste. Mein Vater hatte es noch am selben Abend versucht und schließlich nach ein paar
Fehlversuchen herausgefunden, wie es ging. Man hatte ihn zwar immer wieder leise »Scheißdreck!« zischen hören, und ein paar zerrissene oder zerknüllte Kartons lagen danach vor seiner Zimmertür rum, aber irgendwann hatte er angefangen, Zeug aus seiner Schreibtischschublade in eine dieser Kisten zu verpacken. Es hatte so ausgesehen, als wenn er mit seiner Kraft damit auch schon wieder am Ende gewesen war. Alle übrigen Kisten außer dieser einen waren dann in den nächsten Tagen von Heinz und Nicht-Heinz gepackt worden, als mein Vater nicht zu Hause gewesen war.
Er ging nach wie vor jeden Tag zur Arbeit, wenigstens nannte er das so. Aber ich fragte mich, was das für eine Arbeit sein sollte. Aus der Firma, bei der er bisher gewesen war, war er rausgeflogen, und von einer neuen Arbeitsstelle war bis jetzt nicht die Rede gewesen. Genau genommen gab es für ihn dann ja erst mal nichts mehr zu tun, oder? Jedenfalls nichts, wofür man mit Aktentasche bewaffnet ins Büro hätte fahren müssen. Seine Rasierwasserwolke hing noch lange in der Diele, nachdem er längst weg war, irgendwie trotzig.
Meine Firma, Familie Schumacher, löste sich jedenfalls gerade in ihre Bestandteile auf, so viel stand fest. Das merkte man nicht nur an der Kacklaune meiner Eltern, wobei deren Ehe sich schon auflöste, seit ich denken konnte. Sondern auch am Rumgerödel der Umzüge-Gebuehrlichs und daran, dass ich mir mit meiner Mutter am Nachmittag eine Wohnung in der Neuen Stadt anschauen sollte, in die wir dann vielleicht bald umziehen würden. Ich hatte immer noch keine Ahnung, warum ich da
unbedingt mitkommen sollte. Als ob meine Meinung da ernsthaft gefragt gewesen wäre. Vielleicht wollte meine Mutter sich nur absichern, falls ich später irgendwas zu nörgeln hatte. Dass ich das dann früher hätte sagen müssen, jetzt sei es dafür zu spät, das übliche Geschwafel. Egal. Irgendwie tat sie mir ja auch leid.
Obwohl meine Eltern sich jahrelang angepestet und schlechte Laune verbreitet hatten, wenn sie den anderen nur von Weitem gesehen hatten, schien es ihnen jetzt leidzutun, dass sie sich trennten. Das sollte mir mal einer erklären.
Am Gartentor hatte der Briefträger mir die Post in die Hand gedrückt. Ich hatte den Stapel auf die Fensterbank in der Diele geknallt, und dabei war mir die Ansichtskarte aufgefallen, die zwischen dem ganzen Kram, der an meine Eltern adressiert gewesen war, rausgeschaut hatte. Darauf waren ein gezeichneter Zylinderhut und eine Leiter zu sehen gewesen und darunter der Satz: »Trust me, I’m a chimney sweep«. Ich hatte die Karte umgedreht und links neben meinem Namen und der Adresse in Mädchenschrift Folgendes gelesen:
»Hallo Motte, altes Haus! Das war ja lustig, dich nach so langer Zeit mal wiederzusehen! Na ja, ich war vielleicht nicht ganz so leicht zu erkennen. So ist das mit der Arbeiterklasse. Vielleicht begegnen wir uns mal in der Stadt, oder so. Ich bin manchmal in der Umleitung. Wo gehst du denn abends so hin? Ich würd jedenfalls nicht die Straßenseite wechseln, wenn du mir entgegenkämst. Bis dann.
Steffi (Heugabel)
P.S. Wenn es Antilopen gibt, gibt es dann eigentlich auch Lopen? Und wie sehen die aus, wenn sie das Gegenteil sind?«
Soso, Lopen, nicht schlecht. Ansonsten konnte ich nichts zu der Karte sagen. Obwohl ich mich schon auch darüber freute. Es war ja nicht so, dass unser Briefkasten wegen meiner Post aus den Nähten platzte. Da war so eine Karte schon okay. Ach, was weiß denn ich?
Ich hatte bis jetzt nicht so oft in der Neuen Stadt zu tun gehabt und kannte auch niemanden, der da wohnte. Außer Bogi neuerdings in seinem dämlichen Krankenhaus. Obwohl, wohnen konnte man das eigentlich nicht nennen, oder? Wenn wir in die Neue Stadt zogen, könnte ich ihn öfter besuchen. Ich zuckte zusammen, als ob ich vor schlechtem Gewissen einen Stromschlag bekam.
Eigentlich hätte ich letzte Woche schon hingehen sollen. Oder nein, nicht sollen natürlich, sondern wollen. Ich würde das nachholen. Heute, spätestens morgen.
Das Problem war, dass ich oft das Gefühl hatte, Bogi und ich hätten schon über alles gesprochen. Wir saßen dann da und wussten plötzlich nicht mehr, worüber wir reden sollten, und das war uns wirklich noch nie so gegangen. Es war, als ob Bogis Leben durch die verschissene Scheißkrankheit stehen geblieben war, während es für mich weiterraste. Und wenn das noch länger so blieb, würde er mich nie wieder einholen. Dann wäre er nicht nur krank, sondern wir uns auch endgültig fremd geworden und könnten nichts dagegen tun.
Beim letzten Besuch hatte ich die meiste Zeit nur
dagesessen und Bogi zugeguckt, wie er sich an seiner Wollmütze, die anscheinend kratzte, zu schaffen gemacht hatte.
Eigentlich, hatte ich damals gedacht, war ich auch nichts anderes als Bogis dämlicher Teddybär, der auf der anderen Seite des Bettes saß. Ein Andenken an zu Hause.
Vielleicht gabs für das alles aber auch eine viel einfachere Erklärung. Nämlich die, dass ich ein blödes, gefühlloses Arschloch war, das seinen Freund alleine ließ.
Als ich nach dem letzten Besuch aus Bogis Zimmer gekommen war, war mir auf dem Gang seine Mutter begegnet. Irgendwie hatte sie sich, seit Bogi krank war, noch mehr verändert als er. Sie hatte zwar noch Haare auf dem Kopf, aber sie war ganz bleich, und ihre Augen waren dunkler und größer als früher, obwohl sie sie immer zusammenkniff. Sie hatte mich am Arm festgehalten und mich die ganze Zeit über so komisch angestarrt und mir einen Vortrag darüber gehalten, wie wichtig ich jetzt für Bogi sei. Nicht nur für ihn, sondern auch für dessen ganze Familie. Ich sei doch Bogis bester Freund und deshalb eigentlich fast so was wie ein Mitglied der Familie. Dass ich das ja die ganze Zeit über schon gewesen sei und wir jetzt aber alle noch fester zusammenhalten müssten, weil Bogi die Krankheit nur besiegen könnte, wenn wir alle gemeinsam ihm ganz viel Kraft schicken und Hoffnung geben würden. Oder so ähnlich, ich hatte nicht alles verstanden und auch ziemliche Probleme gehabt, mich zu konzentrieren, weil sie mir so auf die Pelle gerückt war, und wenn ich was nicht leiden konnte, dann das. Mir war das alles ziemlich unangenehm gewesen. Auch, weil ich nicht gewusst hatte, was genau sie damit meinte, dass ich Bogi mit der
restlichen Familie Schnellstieg zusammen Kraft schicken sollte. Mit der Post, oder was?
Es wäre jedenfalls einfacher gewesen, dachte ich, dass ich, wenn ich schon ein Arschloch war, wenigstens eines wäre, das sich über das alles keine Gedanken machte, als deswegen auch noch ein schlechtes Gewissen zu haben. Da war ja dann das Arschlochsein genau genommen sinnlos. Na ja, für Bogi machte das alles letztlich keinen Unterschied.
Vor dem Haus wartete, als meine Mutter und ich dort ankamen, schon Herr Leuwagen von der Maklerfirma. Um uns alles zu zeigen, das Haus und die Wohnung und so.
»Sind wir zu spät?«, flötete meine Mutter, obwohl sie genau wusste, dass wir nicht zu spät sein konnten,
weil wir ja gerade noch zehn Minuten lang im Auto gesessen und gewartet hatten, bevor wir zum Haus gegangen waren. Wir waren natürlich zu früh hier gewesen.
Herr Leuwagen war höchstens zehn Jahre älter als ich, tat aber so, als sei er mein beschissener Onkel, oder was weiß ich. Dabei hätte man meinen richtigen Onkel mal danebenstellen sollen. Onkel Schorsch, der so aussah, als hätte er einen Medizinball verschluckt. Und bei dem in der Garagenwerkstatt ich mal ein Heft gefunden hatte, das »Monsterbrüste« hieß. Egal jetzt.
Der Immobilienarsch hatte mich mit »Na, Meister!« begrüßt und hätte sich, wenns nach mir gegangen wäre, da schon gehackt legen können. Solche Idioten wie Leuwagen hatte ich auch in der Klasse. In den Pausen standen die immer zusammen, mit ihren Scheißfrisuren und ihren
Polohemden und Kaschmirpullovern und ihren teuren Jeans, die trotzdem scheiße aussahen, und den weißen Socken und Bommelschuhen. Die redeten dann darüber, in welche Studentenverbindung sie mal gehen würden und auf welche Uni, am besten in England oder Amerika, um da ihr Drecks-BWL
oder Jura zu studieren. Einer von denen war in meiner Klasse, Harald von Tremsdorf, der andauernd versuchte, irgendwelche Aufkleber zu verteilen, die aber nie einer haben wollte. Weil die immer nur von der CDU
oder von »Das Meisterhandwerk« waren. Was auch immer man sich darunter vorzustellen hatte. Der Einzige, der Harald von Tremsdorf mal um einen ganzen Stapel von den Dingern gebeten hatte, war Walki. Harald war ganz glücklich gewesen. Später lauerten wir Tremsdorf dann auf, Jan und ich hielten ihn fest, während Walki (»Hier Harald, Meisterhandwerk am Arsch!«) ihn mit den Dingern vollklebte, Haare, Brille und alles, und auf den Mund, der übrigens ziemlich eklig war und so aussah, als ob da eigentlich noch ein Schnuller reingehört hätte. Walki meinte sogar, er sähe aus wie das Arschloch seiner Katze, da wollte ich aber nicht weiter drüber nachdenken.
Egal, Herr Leuwagen jedenfalls zeigte meiner Mutter und mir jetzt die leere Altbauwohnung und erzählte dabei lauter Zeug, das ich sowieso nicht verstand. Zum Beispiel, dass die Vierzimmerwohnung, die wir uns gerade ansahen, »im Endeffekt« mehr Zimmer hätte als die Fünfzimmerwohnung im ersten Stock. Soso. Vier Zimmer waren also mehr als fünf. Ich meine, mir wars egal, ich brauchte nur eins, aber ich bekam trotzdem Lust, der Knalltüte ein
paar Fragen zu stellen, zum Beispiel, was das eigentlich sein sollte, ein Endeffekt. Ich sagte dann aber doch nichts, weil ich meiner Mutter hoch und heilig versprochen hatte, die Klappe zu halten. Oder wenn, dann nur nette Sachen. Meine Mutter sagte dauernd so was wie »Aha« und »Ach, das ist aber praktisch«. Ehrlich gesagt schleimte sie sich bei dem Makler ziemlich ein. Weil sie um die Wohnung kämpfte. Sie hatte mir erzählt, dass es noch andere Interessenten gäbe und dass es nicht sicher war, dass wir sie bekämen. Jetzt meinte sie wohl, sie würde das durch ihr Getue irgendwie günstig beeinflussen. Ich solle mir bitte Mühe geben, hatte sie im Auto noch gesagt, bevor wir ausgestiegen waren. Mühe wobei? Beim Gucken?
Zum Kotzen. Um eine Wohnung kämpfen zu müssen, in der sie wohnen konnte, und deswegen dieser Arschkrampe von Makler schöne Augen zu machen.
Die Wohnung war, na ja, eine Wohnung eben. Ganz schön eigentlich, und das Zimmer, in das ich ziehen sollte, ging rechts neben der Eingangstür vom Flur ab, ich würde also gleich verschwinden können, wenn ich reinkäme, und müsste nicht noch durch die Küche und erst mal die Weltlage diskutieren.
Meine Mutter war, seit das bei uns zu Hause alles aus dem Ruder gelaufen war, ziemlich anstrengend geworden. Ich wollte ihr einfach nicht dauernd begegnen. Aber als ich sie jetzt da stehen sah, in dem leeren großen Zimmer mit den hohen Decken, wie sie so in den Garten runterschaute und sich dabei wahrscheinlich ihr zukünftiges Leben vorzustellen versuchte, überlegte ich sogar kurz, zu ihr hinzugehen und sie in den Arm zu nehmen. Aber ich ließ
es dann doch. Ich wollte nicht zu sehr in die ganze Sache reingezogen werden.
Egal, wir standen dann mit Herrn Leuwagen draußen vor dem Haus, der irgendwas von »… ich komme auf Sie zu, Frau Schumacher« faselte. Meine Mutter verabschiedete sich zwitschernd von ihm, und wir gingen in Richtung Auto, das um die Ecke geparkt war, weil unser Polo ihr vor dem Makler peinlich gewesen war. Den Mercedes hatte natürlich mein Vater mitgenommen, war ja klar.
Leuwagen hatte noch »Tschüss, mein Freund« gerufen, aber ich war, weil ich so was befürchtet und Leuwagens Hand, die sich bei der Begrüßung wie ein toter Fisch angefühlt hatte, nicht noch mal hatte schütteln wollen, schon mal ein Stück vorausgegangen. Ich hatte dann einfach so getan, als hätte ich ihn nicht gehört. Leck mich doch.
Meine Mutter schaute sich auf der Straße um und sagte: »Schön still hier, was meinst du, Morten?« Was sie danach sagte, hörte ich nicht, weil ein Zug vorbeidonnerte, die Gleise liefen mitten durch die Neue Stadt durch. Sie stockte kurz, sah mich an und musste lachen. Und ich dann auch. Dann zogen wir jetzt eben hierher und ließen die Züge durch unser Wohnzimmer brettern. War mir auch recht. Hinter uns klingelte die Schranke, die der Wärter in seinem Häuschen hochkurbelte. Das sah lustig aus, so, als würde er mit den Händen Fahrrad fahren. Wir guckten ihm noch eine Zeit lang zu, dann setzten wir uns ins Auto und fuhren wieder in die Waldstadt rauf.