Bogi war wieder ins Krankenhaus gekommen, hatte seine Mutter gesagt, und dass es gut wäre, wenn ich ihn möglichst bald besuchen käme. Ich öffnete die Kühlschranktür und steckte mir mechanisch zwei Scheiben Salami in den Mund. Dann blieb ich noch einige Zeit dort verborgen und spürte die Kälte auf meinem Gesicht. Wusste, dass meine Mutter die ganze Zeit herschaute. Sie war neugierig, wie ich auf die Nachricht reagieren würde. Nach einer Weile ging ich kauend zur Spüle, trank ein Glas Wasser, goss mir ein weiteres ein und verschwand wortlos in meinem Zimmer. Meine Mutter hatte nichts mehr gesagt und mir nachgeschaut.
In meinem Zimmer setzte ich mich auf den neuen Sessel, der Sitzsack hatte den Umzug in die neue Wohnung nicht überlebt, und schaute aus dem Fenster in den Garten.
Ich trank langsam, gleichmäßig, setzte das Glas nach jedem Schluck ab. Das erste hatte ich in der Küche noch in einem Zug geleert. Ich überlegte, wie ich dem, was die
Nachricht bedeutete, die ich eben erhalten hatte, noch ausweichen könnte. Ob es eine Möglichkeit gäbe, die letzten Minuten beiseitezuschieben, oder, noch besser, ungeschehen zu machen. Sollte ich zum Volkspark fahren, der jetzt, an den ersten wirklich warmen Frühlingstagen, wieder voller Leute war, und mit irgendjemandem dort so lange blöd rumlabern, bis die eben in der Küche gesagten Worte nichts mehr bedeuteten? Die Fahrt zum Park wäre dann das Tipp-Ex, mit dem ich die Nachricht von Frau Schnellstieg überpinseln würde, und wenn ich ankäme, wäre es getrocknet, und ich könnte etwas Neues an dessen Stelle setzen, weil da nur noch leuchtendes Weiß wäre.
Ich könnte Steffi anrufen und sie fragen, ob sie sich heute Abend nach ihrer Arbeit in der Umleitung mit mir zulöten wollte. Gleichzeitig wusste ich ganz genau, dass ich mich nicht drücken konnte und mich auf den Weg zu Bogi machen sollte.
Statt mit dem Fahrrad zur Klinik zu fahren, ging ich zu Fuß. Ich hatte es nicht eilig. Obwohl ich den Weg so gut kannte, lief ich wie auf fremdem Boden. Es war, als ob Bogis Krankheit von einem auf den anderen Tag eine riesige Schneise in unser Leben geschlagen hatte.
An dem Pförtner in seinem Aquarium vorbei ging ich ins Krankenhaus, den Weg kannte ich ja mittlerweile.
Auf dem Flur sah ich schon Bogis Mutter sitzen, einen Plastikbecher vom Getränkeautomaten in der Hand, wie sie sich mit einer Krankenschwester unterhielt. Als sie mich sah, stand sie auf und kam mir entgegen. Alles Fahrige der letzten Monate war verschwunden. Sie lächelte
mich an und umarmte mich, was noch nie vorgekommen war, und ich fragte mich, ob das etwa hieß, dass Bogi schon gestorben sei.
Aber dann erzählte sie mir, dass er gestern wieder hier ins Krankenhaus gekommen sei, weil seine Schmerzen so stark gewesen waren, dass er es nicht mehr ausgehalten hatte. Jetzt ginge es ihm aber schon wieder besser, und wir würden gleich reingehen können. Sie fragte die Krankenschwester noch nach etwas, das ich nicht verstand, Leuto- oder Leukowerte, und ich wunderte mich immer noch darüber, dass Bogis Mutter auf einmal so energisch war. Die Anette käme nach der Schule auch vorbei, sagte sie, als ob das eine Nachricht wäre, die mich freuen müsse oder die für mich sonst irgendwie von Bedeutung wäre.
Dabei hatte ich mit Anette noch nie viel zu tun gehabt, und sogar das war noch übertrieben ausgedrückt. Wenn Bogi und ich zusammen gewesen waren, hatten wir seine kleine Schwester erst terrorisiert und später, als wir größer waren, ignoriert. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals mit ihr unterhalten zu haben. Auf den Gedanken wäre ich nicht gekommen. Warum auch?
Im Krankenhaus war man zu Besuch oder Patient, also entweder halb oder richtig am Arsch. Und dann gab es noch die Ärzte und Schwestern, die sich auskannten und hier wie selbstverständlich rumflitzten. Und wir, die Besucher, kriegten zu spüren, was für ahnungslose Idioten wir waren. Was ja stimmte, ich verstand nur nicht, warum man darauf so rumreiten musste.
An dem Tag, als er zum Non-Hodgkin-Bogi geworden war, hatte der alte Bogi aufgehört zu existieren, so als ob
die Scheißkrankheit plötzlich seine wichtigste Eigenschaft war. Der ganze Rest war immer unwichtiger geworden und schließlich langsam hinter diesem ganzen Mist verschwunden. So ähnlich wie bei der Sonnenfinsternis, die wir uns mit Brachtgubbi-Gallenkamp auf dem Schulhof angesehen hatten, alle mit diesen kleinen verrußten Glasscheiben vor dem Gesicht. Zu wissen, dass hinter dem Mond, der schuld an dem Schlamassel war, irgendwo die Sonne schien, hatte ja auch nichts daran geändert, dass es stockdunkel gewesen war.
Als Bogis Mutter die Tür zu seinem Zimmer öffnete, fielen mir als Erstes die beiden breiten Schläuche oder Kabel auf. So wie sie vor Bogis Gesicht entlangliefen, wirkte es, als ob sie es in drei Teile teilten. Frau Schnellstieg sagte, dass sie mal gerade etwas erledigen müsse und ungefähr eine Stunde weg wäre. Ob ich solange dableiben könne. »Äh, ja, klar«, sagte ich. Obwohl mir nach Weglaufen zumute war, sonst nichts.
Ich war überrascht, dass Bogi eigentlich ganz munter in seinem Bett saß und Fernsehen schaute.
Er hatte schon länger keine Haare mehr auf dem Kopf, auch keine Wimpern oder Augenbrauen, und wir hatten beim letzten Mal, als ich bei ihm zu Hause gewesen war, Witze darüber gemacht, dass er wie Professor Bunsenbrenner aus der Muppet Show aussah.
Da hatte ich auch versucht, ihm zu erklären, warum ich ihn in letzter Zeit wieder seltener besucht hatte, aber gleich nachdem er geahnt hatte, worauf das hinauslaufen würde, hatte er das Thema gewechselt.
Jedenfalls vertrieb sich Bogi gerade die Zeit. Als ob er zu viel davon hätte. Aber so war es ja eigentlich das ganze letzte halbe Jahr über gewesen. Es war für ihn und seine Leute hauptsächlich mit Warten vergangen. Abwarten, die Quacksalber machen lassen, und hoffen, dass der Spuk irgendwann vorbei war.
Bogi hatte jetzt einen eigenen Fernseher im Zimmer, und wir guckten den Tierfilm, der gerade lief. Krokodile fraßen Löwen. Oder umgekehrt.
Dann sagte Bogi, dass er Hunger habe, und ich fragte ihn, ob ich die Schwester holen solle. Aber er hatte keine Lust mehr auf den Krankenhausfraß, sondern wollte was von McDonald’s. Ob ich ihm Cheeseburger und Nuggets und Pommes und eine warme Apfeltasche und einen Erdbeershake besorgen könnte. Ich war mir nicht sicher, ob das erlaubt war. Außerdem hatte ich Bogis Mutter versprochen, hier bei ihm zu warten. Ich machte mich dann aber trotzdem auf den Weg, der McDreck an der Richterallee war ja nur ein paar Minuten weg. Bei allem, was ich tat, hatte ich das Gefühl, dass ich mich selbst dabei beobachtete.
Später sah ich Bogi dabei zu, wie er meinen Burger auch noch aß. Er zerriss die Papiertüte, wie er es schon immer gemacht hatte, sorgfältig, an dem Klebefalz entlang, sodass er am Ende ein Papiertablett hatte. Das war seine Art, die Gier in den Griff zu kriegen. Wir sprachen über alles Mögliche, Bogi wollte Einzelheiten aus »Bilitis« hören.
Ich hatte es bis jetzt immer noch nicht geschafft, ihm zu erzählen, wie der Kinobesuch damals für mich gewesen war. Er wusste nur, dass ich aus der Sache nicht gerade als der Held im Zelt rausgegangen war. Irgendwann sagte
Bogi, ohne dass ich einen Zusammenhang mit dem, worüber wir vorher gesprochen hatten, erkennen konnte:
»Die Amselfelderflaschen liegen noch hinter den Paddeln vom Schlauchboot. Am Schuppen.«
Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Ob Bogi meinte, dass ich jetzt sofort in die Waldstadt rauffahren und den Rotwein holen sollte, damit er ihn auf den Cheeseburger und die restliche Pampe draufkippen konnte? Ich wartete einfach ab, ob er noch mal darauf zurückkäme, was aber nicht passierte. Dann erzählte ich ihm, wie ich mich mittlerweile schon oft ohne ihn betrunken hatte und ganz schön blau gewesen sei. Beim ersten Mal, mit Asbach Cola, hatte ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt, sodass ich mir geschworen hatte, das Zeug nie mehr anzurühren. Aber dann hatte der Vorsatz nicht lange gehalten, ich hatte mich langsam dran gewöhnt, und es war bei den nächsten Malen mit Steffi in der Umleitung immer lustiger geworden. Er guckte mich die ganze Zeit an.
Ich erzählte ihm auch von der Begegnung mit Neandertal-Klaus, wie wir den Joint geraucht hatten und wie ich beim nächsten Mal Kiffen den Flash schon gleich nach dem ersten Zug gehabt hatte, und Bogi schien die Worte aufzusaugen wie ich damals den Rauch, als könne er es dadurch miterleben. Von dem Abend, als Steffi mich besucht hatte und meine Mutter nicht zu Hause gewesen war, erzählte ich ihm nicht, auch nicht, dass ich jetzt wusste, wo genau Steffis Heugabelnarben waren, und dass dieser blöde Ruß wirklich überall hinkroch. Obwohl ihn das noch mehr interessiert hätte als alles andere.
Irgendwas musste meine Mutter davon mitbekommen
haben, weil ich in letzter Zeit von ihr und sogar zwei ihrer behämmerten, parfümierten Freundinnen, die das doch erst recht nichts anging, gefragt worden war, ob ich jetzt eine »kleine Freundin« hätte. Was Steffi betreffend ja sogar stimmte. Trotzdem ging es sie einen Scheißdreck an. Außerdem wusste ich doch selber nicht, ob Steffi jetzt automatisch meine Freundin war, weil ich von dem Ruß wusste und den Narben.
Irgendwann sagte Bogi dann fast nichts mehr und schaute auch nicht mehr mich an, sondern nur noch seine Bettdecke. Seine Mutter kam zurück und meinte, dass es jetzt genug sei und ich lieber gehen sollte. Wegen der McDonald’s-Tüte sagte sie nichts, die Fresserei schien also in Ordnung gewesen zu sein.
Ich sagte Bogi, dass ich morgen wiederkäme, er nickte kurz, und ich ging mit einem komischen Gefühl weg, weil ich nicht wusste, ob ich was falsch gemacht hatte. Obwohl ich nur eine knappe Stunde bei ihm gewesen war, war ich so erschöpft, dass ich gerade keine Nebengedanken mehr hatte wie einen zweiten Film, der sonst immer noch gleichzeitig in mir ablief. Das, was ich dachte, und das, was ich tat, war ausnahmsweise mal dasselbe.
In der Küche aß ich ein paar Nudeln aus dem Topf, Bogi hatte mir ja von dem Schnellfraß nicht viel übrig gelassen, und sagte meiner Mutter – aber nur weil sie dreimal fragte –, es sei alles super gewesen bei ihm. Dann ließ ich sie stehen und verschwand in meinem Zimmer.
Ich telefonierte noch mit Steffi und sagte ihr, dass ich nicht mehr in die Umleitung käme. Sie wollte natürlich auch mehr von Bogi wissen, aber ich hatte keine Lust zu
erzählen. Was denn auch? Bogi stirbt, und bevors so weit ist, hab ich ihm noch schnell ein paar Cheeseburger geholt?
Am nächsten Tag saß ich den Vormittag in der Schule ab und machte mich dann am Nachmittag wieder auf den Weg in die Klinik.
Bogi wollte auf keinen Fall, dass seine Mutter das Zimmer verließ, als ich da war. Ich versuchte, mich mit ihm zu unterhalten, erzählte ihm aus der Schule, dass Kragler vor den Osterferien zum ersten Mal seit Menschengedenken einen neuen Trainingsanzug getragen hatte zum Beispiel, den hässlichsten, den je ein Mensch zu Gesicht bekommen hatte, dreifarbig, weiß-lila-grün. »Schicker Balkansmoking«, hatte Jan gesagt, als er ihn darin gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte Kragler sich den gekauft, um demnächst auf der neuen Schule Eindruck zu machen. Er war nämlich versetzt worden. So, wie er uns das in der letzten Erdkundestunde verkündet hatte, klang es, als ob er Karriere machen würde, aber alle wussten, dass es mit seinem Prügeln und so zu tun hatte. Die Sache mit Walkis 5000-Meter-Lauf schien ihm dann noch den Rest gegeben zu haben. Warum der jetzt allerdings einfach auf einer anderen Schule damit weitermachen durfte, hätte einem auch ruhig mal jemand erklären können. Hauptsache, er war weg. Sollte er meinetwegen da seine »
Möglichkeiten ausschöpfen und über sich selbst hinauswachsen«, der Affensack. Am letzten Tag vor den Ferien hatten wir vor der Schule gestanden und hinterhergeguckt, wie er zum Parkplatz gelatscht war, seine Aktentasche hatte er auf einen Pappkarton gelegt, den er mit beiden Händen trug. Er hatte ihn auf die Rückbank gestellt und war eingestiegen.
Dann hatte er bestimmt noch zehn Minuten dagesessen und auf die Schule gestarrt. Als er endlich losgefahren war, sein Gesicht knallrot, hätte ich schwören können, dass er heulte. »Abschied ist ein schweres Schaf, Kragler«, murmelte Jan und schnippte dem Auto seine Kippe hinterher.
Ich erzählte Bogi, dass Walki und Jan versprochen hatten, in den nächsten Tagen auch mal wieder bei ihm vorbeizukommen. Bogi schaute bei jeder Frage, die ich ihm stellte, erst mal zu seiner Mutter, bevor er antwortete, als ob er ihre Erlaubnis oder Hilfe brauchte. Meistens nickte er nur oder wusste nicht, was er sagen sollte, und blieb stumm. Wenn er was sagte, flüsterte er. So als ob er auf sehr dünnem Eis stünde und Angst hätte, dass es jeden Moment brechen könnte, wenn er zu laut spräche. Nach vierzehn Minuten sagte Bogis Mutter mir dann, dass Bogi sich jetzt ausruhen müsse, und ich ging, ohne mich richtig von ihm zu verabschieden, was er aber gar nicht zu bemerken schien.
Ich wusste das mit den vierzehn Minuten so genau, weil ich sowohl beim Rein- als auch beim Rausgehen zu der Digitaluhr im Flur hochgeschaut hatte, deren Zahlen gerade klackernd umgeklappt waren.
Als ich am Tag darauf zur Station kam, wurde ich von Herrn Schnellstieg auf dem Flur abgefangen.
Er sagte mir, Bogi sei es in der Nacht sehr schlecht gegangen, und jetzt hätte er zwar keine Schmerzen mehr, sei aber nicht ganz bei sich. Was auch immer das heißen sollte. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen und fragte mich, was er mir damit sagen wollte. Ob ich wieder gehen sollte?
Herr Schnellstieg meinte, ich solle mich erst mal zu ihm auf eine der Plasiksitzschalen im Flur vor Bogis Zimmer setzen. Dann könnten wir zusammen abwarten, wann ein guter Zeitpunkt sei reinzugehen. Bogis Mutter würde uns Bescheid geben. Mir war zwar eher danach, schnell wieder zu verschwinden, aber ich hatte weder die Kraft noch den Mut, etwas anderes zu machen als das, was Herr Schnellstieg mir vorschlug. Ich kapierte nicht wirklich, was los war. Bogis Vater sagte nichts mehr. Und ihn zu fragen traute ich mich nicht. Ich hatte große Angst vor der Antwort.
Es war, als ob mir mein ganzes Gewicht in die Füße gerutscht und es unmöglich wäre, jemals wieder hier wegzugehen. Herr Schnellstieg stellte mir ein paar belanglose Fragen. Nach der Schule, dem Sport, der neuen Wohnung und so weiter. Ich antwortete ihm nur kurz, weil mir klar war, dass er nicht wirklich eine Antwort erwartete. Er räusperte sich dauernd, als ob er was mit dem Hals hätte.
Dann öffnete sich die Tür zu Bogis Zimmer, ich sah seine Mutter dort stehen, die erst in das helle Licht der Neonröhren auf dem Gang blinzelte und dann ihren Mann und mich auf der Bank sitzen sah. Ich fragte mich, wo eigentlich Anette, Bogis Schwester, war.
»Ganz ruhig«, sagte Bogis Mutter, als sie an uns herantrat, und ich brauchte kurz, um zu kapieren, dass sie damit Bogis Zustand meinte. Sie lächelte mit dem rechten Mundwinkel und mit dem linken nicht.
Sie sagte ihrem Mann, dass sie eine Zigarette rauchen gehen würde und dass er währenddessen bei Bogi bleiben sollte.
Herr Schnellstieg fragte sie, ob er mich mit reinnehmen
könne. Sie schien erst jetzt zu bemerken, dass ich da war, und antwortete schnell, aber desinteressiert: »Ja, klar. Warum nicht?«
Dann ging sie rauchen, und ich folgte Herrn Schnellstieg in das Zimmer, in dem, im Gegensatz zu den Tagen zuvor, die Vorhänge zugezogen waren.
»Der Manfred bekommt jetzt ziemlich starke Medikamente. Kann sein, dass er nicht versteht, was du ihm sagst, oder er jetzt ein bisschen komische Sachen redet«, sagte Herr Schnellstieg, und mir kam das alles ziemlich merkwürdig vor, weil ich doch gerade mal zwei Tage vorher mit Bogi hier Cheeseburger gegessen und über alles Mögliche gequatscht hatte. Da hatte er mich noch sehr gut verstanden. Was passierte hier eigentlich gerade?
Bogi lag da und hatte die Augen geschlossen. Ab und zu öffnete er sie ein wenig, aber man hatte nicht das Gefühl, dass er seinen Vater oder mich wirklich ansah. Es war, als ob er durch uns hindurchschaute, sodass ich mich schon umdrehen wollte, um nachzugucken, ob hinter mir noch jemand stand. Herr Schnellstieg legte seine Hand auf die von Bogi, und Bogis Daumen zuckte nach oben und sank dann wieder ganz langsam, als ob er einen großen Widerstand zu überwinden hätte.
Herr Schnellstieg sah mich an, nickte und lächelte. Ich wusste nicht, ob er von mir jetzt erwartete, dass auch ich meine Hand auf die von Bogi legte. Deswegen tat ich erst mal gar nichts. Ich wollte ihn nicht anfassen. Weil ich nicht wusste, ob das überhaupt noch Bogi war. Ich meine, er wusste das doch selbst nicht, konnte ich dann einfach so tun, als ob? Außerdem hatte ich Angst, dass sich die
Hand so anfühlen würde wie das eiskalte Händchen aus der Addams-Family.
»Na, mein Dicker«, sagte Herr Schnellstieg. Obwohl Bogi doch immer total dünn gewesen war. Und: »Tut nicht mehr so weh, nicht?« Jetzt war da nur noch das Brummen und Knistern der Klimaanlage und der anderen Geräte. Und dann standen auch Bogis Mutter und Anette da, keine Ahnung, wann die reingekommen waren.
Nach ein paar endlosen Minuten führte mich Herr Schnellstieg wieder aus dem Raum. Ob ich noch etwas zu Bogi gesagt hatte, wusste ich schon in dem Moment, als ich wieder draußen auf dem Gang stand, nicht mehr.
Als ich auf meinem Platz saß, Herr Schnellstieg war alleine in Bogis Zimmer zurückgegangen, fragte mich eine Krankenschwester, die mit einem großen Rollwagen an mir vorbeifuhr, ob ich Hunger hätte. Offenbar sah ich so aus. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und saß auf einmal mit einem Tablett auf den Knien da. Der Grießpudding schmeckte so, wie er aussah, und ich überlegte, wie ich den Rheinischen Sauerbraten schnell wieder loswerden konnte. Quer durch die dunkle Fleischscheibe zog sich eine dicke, gelb glitzernde Fettader.
Ich ging einer anderen Schwester nach, die das Geschirr schon wieder abräumte, und stellte mein Tablett, als sie in einem der Krankenzimmer verschwunden war, auf ihren Wagen. Wie wenig Zeit hatten die Patienten hier eigentlich zum Essen? In dem Moment, wo sie es bekamen, stand jedenfalls schon jemand da, der es ihnen wieder wegnehmen wollte. Komisch, dass ausgerechnet die, die sich hier einen Ast langweilten (»zu Tode«, ging mir kurz durch
den Kopf), sich beim Essen beeilen sollten. Die halbe Kiwi in Frischhaltefolie behielt ich in meiner Hand und vergaß sie, bis sie ganz warm war. Dann legte ich sie neben mich auf den glänzenden Metallholm zwischen den beiden Sitzschalen.
Plötzlich wurde die Tür zu Bogis Zimmer aufgerissen, und sein Vater rief, nein brüllte in den Gang, dass schnell jemand kommen sollte. Eine Schwester rannte aus dem Stationszimmer zu Bogi, und nach ein paar Sekunden kam sie auch schon wieder raus und rief etwas, das ich nicht verstand. Ich glaube, es war Merle, die hübsche, in die Bogi verknallt war und die mir die Tür geöffnet hatte, als ich ihn hier zum ersten Mal besucht hatte. Es ging ein Alarm los wie bei den Feuerübungen in der Schule, und über Bogis Tür blinkte eine rote Lampe. Kurz danach kamen ein Arzt und mehrere Schwestern angelaufen. Die Tür blieb noch ein paar Sekunden lang offen stehen, Zeit genug, damit ich aufstehen konnte. Zwischen den ganzen Leuten hindurch sah ich, wie Bogi sich aufbäumte und nach Luft schnappte, so wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Wasser. Seine Eltern standen am Fußende und wurden von den Schwestern und den Ärzten, mittlerweile waren noch zwei weitere angelaufen gekommen, zur Seite gedrängt.
Die Schwester, die mir vorhin das Tablett gegeben hatte, schaute kurz zu mir hin. Sie schüttelte den Kopf und ging zur Tür, schloss sie. Ich blieb stehen und horchte, versuchte mir ein Bild von dem zu machen, was in Bogis Zimmer geschah. Irgendwann hörte ich seine Mutter schreien, und dann die tiefe Stimme eines der Ärzte, der Kommandos gab. Ich dachte an Kragler.
Mein linkes Bein knickte ein, ich konnte mich aber auffangen, setzte mich wieder auf meinen Platz und wunderte mich darüber, dass mein Sweatshirt vorne ganz nass war.
Da erst merkte ich, dass ich weinte. Eine Weile saß ich da, den Kopf in den Händen, die Ellenbogen auf meine Knie gestützt. Ab und zu tropften Tränen und Rotz auf den Boden. Was sollte ich denn jetzt machen? Ich hatte wirklich überhaupt keinen Plan. Sollte ich weiter hier sitzen bleiben und abwarten, was passierte? Oder zu Bogi reingehen? Oder einfach weglaufen, weil ich hier doch gar nicht dazugehörte? Aus Ratlosigkeit blieb ich.
Dann wurde es ganz still.
Für eine, zwei Minuten, vielleicht auch Stunden, passierte gar nichts.
Die beiden Ärzte kamen heraus, sie sprachen leise miteinander, dann folgten zwei der Schwestern. Merle blieb noch an Bogis Bett, das konnte ich sehen, aber nicht, was sie da machte.
Es war in seinem Zimmer jetzt heller als vorher. Ich sah, wie Herr Schnellstieg die Vorhänge wegzog und ein Fenster öffnete. Sein Rücken war ganz schief. Bogis Mutter sah ich nicht.
In dem Moment wusste ich, dass es vorbei war. Ich sprang auf und rannte los. Im Aufstehen konnte ich für einen Augenblick Bogis linken Fuß erkennen, der unter der Decke hervorschaute. Das war das Letzte, was ich von ihm sah.
Gleich hinter der Stationstür stieß ich mit einem der Ärzte zusammen. »He, pass doch auf, du Flegel!«, rief er mir nach. Es hallte im Treppenhaus, als ich
hinunterlief. Ich dachte an nichts, oder doch, daran, dass ich die halbe Kiwi hatte liegen lassen. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend lief ich runter und stolperte kurz vor dem ersten Stock, konnte mich aber gerade noch am Treppengeländer festhalten. Ich hatte das Gefühl, tagelang da oben gesessen zu haben, aber als ich auf die Uhr schaute, die am Pförtnerhaus hing, sah ich, dass es doch nur drei Stunden gewesen waren. Die Uhr auf der Station hatte ich immer nur klacken gehört, Minute für Minute. Angesehen hatte ich sie nie.