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Fünfzehn
– Ende Mai, selber Tag –
Der Alkohol wirkte, und ich bekam doch noch Lust auf Gesellschaft.
Ich setzte mich auf das geklaute Fahrrad und eierte los, der Sattel war viel zu niedrig. Merkwürdig, alles ging viel schwerer, als wenn ich nüchtern war, und eigentlich klappte nichts mehr, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, besser klarzukommen als vorher. Das war die Alkoholtrinkerei. Schmecken tats ja nicht. Aber wenn sich alles leichter anfühlte, war es ja auch leichter.
Plötzlich wusste ich, wohin ich fahren würde: zu Meinhardt Vogt, unserem Sozialkundelehrer. Hatte ich sowieso schon längst vorgehabt, also wieso nicht jetzt? Außerdem war bei Meinhardt die Gefahr, dass er schon von Bogis Tod gehört hatte, nicht sehr groß. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich dazu hätte sagen sollen.
Meinhardt lud uns ständig zu sich nach Hause ein. Gitti, seine Frau, und er hätten ein »Open House«, sagte er immer. Er redete allerdings so oft davon, dass keiner mehr Lust hatte hinzugehen. Aber jetzt passte mir das mit dem offenen Haus ganz gut in den Kram. Das Praktische an Meinhardt – wir durften, nein, mussten Meinhardt sagen und Du  – war nämlich, dass er zwar Sozialkunde unterrichtete, aber kaum über andere – wie man bei dem Fach ja hätte meinen können –, sondern ausschließlich über sich selbst sprach. Na gut, manchmal noch über Gitti. Der Vorteil war, dass man sich nichts von dem, was er erzählte, merken musste. Das war ihm sogar ganz recht, weil er die Sachen dann in einer Schleife wiederholen konnte, immer wieder von vorn. Auch ziemlich privates Zeug übrigens, wies bei Vogts zu Hause zuging und so. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Gitti davon begeistert gewesen wäre, wenn sie gewusst hätte, dass die 10b auf dem neuesten Stand war, was ihre Spirale betraf. Nur mal als Beispiel.
Meinhardt Vogt wohnte in einem der kleinen Fachwerkhäuser auf der Eichenhöhe, ich musste also nur bis zum Freibad runterrollen und dann auf der gegenüberliegenden Seite ein kleines Stück den Berg wieder hoch.
Die Klingel funktionierte nicht, jedenfalls war nichts zu hören, also klopfte ich an die Haustür. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich etwas tat. Ich schwankte ein wenig und nahm mir vor, mich wenigstens in den nächsten Minuten zusammenzureißen. Zumindest so lange, bis Meinhardt mir ein Bier angeboten hatte. Dann könnte ich das schnell runterschütten und später so tun, als hätte ich davon einen im Kahn. Und wenn mir schlecht würde und ich Meinhardt womöglich auf den Teppich reiherte, wäre er dran schuld. Meinhardt Vogt kam an die Tür und schaute von innen erst mal durch das kleine rautenförmige Fenster, um zu sehen, wer da war. Dann öffnete er und kniff die Augen zusammen, um seine Vermutung zu überprüfen, und als er mich endgültig identifiziert hatte, sagte er: »Ah, Motte.« So, als ob das auch für mich eine Neuigkeit wäre. Meinhardt hielt sich am Türpfosten fest und guckte in den Abendhimmel.
»Asisjanding«, sagte er dann, und ich antwortete:
»Ich chachte, ich, äh, kommavobei.«
Meinhardt nickte. Er war viel betrunkener als ich.
»Ja, äh«, Meinhardt räusperte sich, »ich hab grade mit der Gitti … hehe, wir hatten grade ’n bisschen Stress weeng … Ach, komm rein. Vleicht ganz gut.«
Als ich ins Haus ging, sah ich am Ende des Flurs Gitti, Meinhardt Vogts Frau, aus der Wohnzimmertür gucken.
»Hallo, Gitti«, sagte ich und winkte.
»Grüß dich, Jakob«, knurrte sie, verschwand und knallte die Tür hinter sich zu.
Jakob, aha. Na gut. Meinhardt schnaubte wie ein alter Klepper, den man vor dem Saloon angebunden hatte, und stand erst mal unschlüssig im Flur herum. Ich glaube, er überlegte kurz, ob er den Kampf mit Gitti wieder aufnehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen und sagte:
»Komm, äh, wir geh ma in m…, äh, mein Abeizimmer.«
Damit schob er mich durch die Tür, die gleich hinter der Haustür rechts vom Flur abging.
Bei Meinhardt und Gitti war dicke Luft, sodass es sich anfühlte, als ob man durch den Flur waten müsste, und ich dachte, dass ich eigentlich sofort wieder verschwinden sollte, um da nicht reingezogen zu werden. Wenn ich gerade etwas nicht gebrauchen konnte, dann das. Aber dann wusste ich nicht, wohin ich sonst hätte gehen sollen. Angesichts dessen, was ich heute erlebt hatte, war die Gefahr, in etwas noch Beschisseneres reingezogen zu werden, eher gering, und ich dachte, tja, Pech gehabt, Meinhardt, dass du uns drei Milliarden Mal gesagt hast, deine Tür stünde immer offen. Dann musst du dich jetzt auch nicht wundern, wenn wirklich mal einer hier reinspaziert durch deine offene Tür. Die Gitti muss jetzt eben mal warten. Ihr könnt euch ja später weiterstreiten. Aber Meinhardt hätte niemals zugeben können, dass es ihm gerade nicht passte, weil er in der SPD war und diese ganzen Sachen. Die mussten nett zu einem sein, glaube ich, das stand bei denen in der Satzung. Und einem deswegen auch die Tür aufmachen, sogar, wenn sie gerade nicht wollten oder konnten. Weil sie eben vom Programm her nette Leute waren. Bei den anderen Linken, denen von der DKP meinetwegen, war das übrigens schon wieder anders, die waren härter drauf, obwohl die ja von Amts wegen auch … na ja, egal, ich kannte mich da nicht aus. Wir hatten aber mal einen Referendar gehabt, der bei den Kommunisten war, MSB Spartakus oder wie die Graupen hießen, und der das auch rumerzählte. Ganz ehrlich, das war kein Spaß mit dem. Ich hatte vorher immer gedacht, wenn die links sind, die Lehrer, könne mans bei denen auch mal ruhiger angehen lassen. Mein lieber Schwan, von wegen! Andererseits, im Großen und Ganzen wars schon gut, dass es die alle gab. Sonst wären wir ja mit solchen Flachzangen wie Kragler ganz alleine gewesen. Der Spartakustyp kam dann irgendwann nicht mehr. Aus dem Schuldienst entfernt, hatte Gallenkamp gesagt, als wir ihn gefragt hatten. Ich hab den später noch mal an einem Infostand in der Stadt gesehen. Bin aber nicht zu ihm hingegangen. Weil, als Lehrer war der Pellkopf ja trotzdem das Letzte gewesen.
Ich stand jetzt mit Meinhardt in seinem noch dunklen Zimmer, nur von der Straßenlaterne kam etwas Licht herein.
Er fragte: »Aun Bier?« Ich: »Kla.«
Er: »Ock. Hehehe.«
Meinhardt sagte immer ock statt okay und lachte dann darüber. Ich nicht, aber das schien ihm nichts auszumachen. Er verschwand in Richtung Küche, und ich hörte, wie er sich mit Gitti anzischte. Sie redete sehr viel, schrill, und dazwischen, es klang ein bisschen wie Schafsblöken, hörte man dumpf Meinhardts Antworten:
»Da dimmt doch nich« oder »Nee, nee, nee« oder »Höddo auf«.
Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und ich schaute auf das Bücherregal, das Meinhardt aus alten Getränkekisten zusammengezimmert hatte. Ein Buch hieß: »Ich bin O.K. – Du bist O.K.«. Auf dem Regal welkten ein paar halb vertrocknete Hängepflanzen vor sich hin. Die Geschichte der Beschaffung der Kisten und des Aufbaus dieses Regals kannte jeder Schüler von Meinhardt in allen Einzelheiten, weil deren Beschreibung mehrere Unterrichtsstunden in Anspruch genommen hatte. Schließlich kam er mit den Bieren zurück und drückte mir eins in die Hand.
»Mann, Mann, Mann … Mann.«
Er machte eine Pause, dann kam noch ein letztes:
»Mann!«
Wieder eine Pause. Dackelfalten auf seiner Stirn.
»Überlag, äh, überleg dir das mit dem Heiraten, Marten. Ehrlich.«
»Morten.«
»Hä?«
»Morten.«
»Ach so, ja, Morten.«
Komisch, dass die Erwachsenen immer so taten, als hätte man deren Probleme wie selbstverständlich auch. Damit sie für ihren Mist nicht alleine verantwortlich waren, schon klar, so viel hatte ich kapiert. Aber ich meine, heiraten stand bei mir jetzt nicht gerade ganz oben auf der Liste, das hätte auch Meinhardt klar sein können, oder? Andererseits bekam ich von ihm das, wonach ich gesucht hatte. Ablenkung davon, dass Bogi jetzt in der Kühlkammer lag.
»Ich hab der Gitti von Anfang an gesagt, ich bin kein Stubentiger. Ich brauch meine Freiheit.« Keine Ahnung, was er mir damit sagen wollte. Von mir aus konnte er die haben. Irgendwie komisch, Meinhardt hier so quallig sitzen zu sehen, in seiner Muffbude, die nach kalter, nasser Erde roch, und ihn von Freiheit reden zu hören.
Ich fragte mich, was das für ihn war, Freiheit. Zum Einkaufen in die Metro oder einen anderen verschissenen Großmarkt zu fahren, wofür er sich von seinem Schwager einen Ausweis organisiert hatte? Elftklässlerinnen flachzulegen? In die Metro fuhr er, weil ihm das reichlich Geld sparte, wenn er, was weiß ich, dreihundert Koteletts auf einmal kaufte. Wahrscheinlich waren die Grillfeste am Ende des Schuljahrs nur dazu da, um den Müll aus Meinhardts Gefriertruhe loszuwerden. Die war so riesig, da hätten mehrere Bogis reingepasst.
Im Auto schob er auf dem Heimweg vom Großmarkt dann die Kassette mit »Born to be wild« rein und zwinkerte den Sekretärinnen zu, die zum Feierabend in ihren Ford Fiestas neben ihm an der Ampel standen. Hatte ich mir nicht ausgedacht. Das erzählte der alles im Unterricht. Wir nickten dazu oder zeichneten Männchen oder schliefen ein und bekamen dafür am Ende alle eine Zwei in Sozialkunde.
Ich hörte mir sein Geschwafel jetzt aber trotzdem ganz gerne an. Die einzelnen Worte waren mir gar nicht so wichtig.
Obwohl Meinhardt hier schon interessante Sachen auspackte, musste man sagen. Offenbar war Gitti stinksauer, weil er fremdgegangen war. Meinhardt aß wohl ganz gerne auswärts, um es mal so zu sagen, und das Gerücht hielt sich hartnäckig, dass es im Lehrerzimmer mal fast zu einer Schlägerei gekommen war, weil Herr Rupp, der Mathe und Physik unterrichtete, dahintergekommen war, dass Meinhardt was mit seiner Frau gehabt hatte. Die Frau von Herrn Rupp war mal Miss Rheinland-Pfalz gewesen. Das war schon eine Weile her. Sie sah ziemlich gut aus, das musste man zugeben. Na ja, sie war wohl bei einem Wochenendseminar dabei gewesen, das die Rupps und eben auch Meinhardt Vogt besucht hatten, um bessere Lehrer zu werden. Den Rest konnte man sich denken, wenn man Meinhardt ein bisschen kannte.
»So eine Scheiße. Kennst du die Claudia Herbst, Morten?«, fragte Meinhardt mich.
»Du, entschuldige Meinhardt, kannst du vielleicht mal Licht anmachen?«
»Ach so, ja, hehe, Scheiße, klar.«
Meinhardt stand auf und schaltete das Deckenlicht an, so eine große Kugel aus Reispapier, offenbar mit einer 100-Watt-Birne drin. So hell hätte es jetzt auch wieder nicht sein müssen, aber egal. Er hatte sich mittlerweile etwas nüchterner gequasselt. Das ging also, sich nüchtern reden, dachte ich, während ich noch einen Schluck Bier nahm. Claudia Herbst war in der Elften, das wusste ich, weil Walki auf sie stand. Der hatte natürlich keine Chance, weil er eine Klasse unter ihr war.
»Ja, glaub schon, dass ich die kenne«, sagte ich, und dann legte Meinhardt los.
Um es kurz zu machen, Meinhardt war zur Kursfahrt der Elften letzten Monat (Wandern in den Vogesen) mit seinem eigenen Campinganhänger mitgefahren. Angeblich, um die Übernachtungskosten in der Pension zu sparen und das Geld für Gittis Musikerziehungsprojekt zu spenden. Wir hatten dafür in der Fußgängerzone mal Zettel verteilt. In Wirklichkeit aber, um es in Ruhe mit Claudia Herbst treiben zu können. Gitti war dann am Wochenende zu Besuch gekommen und hatte irgendwas von Claudia im Wohnwagen gefunden. Was, wollte Meinhardt nicht sagen, aber ihr Geodreieck wirds nicht gewesen sein. Meinhardts Wohnwagen war übrigens mit den gleichen Kisten ausgebaut worden wie sein Zimmer. Ich fragte mich, wie die Getränkeleute überhaupt noch ihre Flaschen transportierten. Na ja, wie auch immer, jetzt war hier im Haus jedenfalls schlechte Stimmung.
Schon merkwürdig, dass Meinhardt mir das alles erzählte, aber andererseits ganz angenehm anzuhören, weil es mit mir und dem, was in meiner Welt los war, so gar nichts zu tun hatte. Erholsam. Und Meinhardt war es, glaube ich, egal, wer ihm gerade gegenübersaß. Solange es nicht Gitti war und er ungestört rumtexten konnte, ohne unterbrochen zu werden. Trotzdem war es komisch, sich vorzustellen, dass Claudia Herbst mit Meinhardt schlief. Also, dass sie es offenbar lieber mit ihm tat als mit einem von uns. Es musste ja nicht gerade Walki sein. Zum Glück wusste der davon nichts. Ich würde es ihm auch nicht erzählen. Jan vielleicht, mal sehen, irgendwann, aber Walki nicht.
Meinhardt war bestimmt schon vierzig oder so. Er hatte diesen komischen Seehundschnäuzer und die Frisur, die alle hatten, die mal langhaarig gewesen und jetzt zu feige waren, weiter so rumzulaufen. Vielleicht weil sie meinten, ordentlicher aussehen zu müssen, so vorbildmäßig. Aber gleichzeitig wollten, dass man sah, dass ihre Haare mal lang gewesen und eigentlich immer noch so gedacht waren. Halbes Ohr frei und so, Mittelscheitel. Ich sah ja gerade, wenn man ehrlich war, bis auf den Schnäuzer so ähnlich aus, aber der entscheidende Unterschied war, dass ich auf dem Weg zu langen Haaren hin war, und Meinhardt auf dem Weg von langen Haaren weg. Gut, man hätte das dranschreiben müssen, aber egal.
Eine richtige Frisur bekam Meinhardt sowieso nicht hin, weil die drahtigen Haare in alle Richtungen abstanden. Sein Schnorres sah so aus, als ob er sich seine Haarbürste, nach dem vergeblichen Versuch, sich zu kämmen, aus Verzweiflung unter die Nase geklebt hatte. Meinhardt hörte gerne italienische Musik, weil er dauernd dort hinfuhr und Weinproben machte und was weiß ich noch alles. Ich könnte ihn ja mal fragen, ob die den Wein da auch ohne Stiele und Stengel kelterten. Am Ende wäre Meinhardts Plörre sonst nämlich nicht bekömmlich, vielleicht wusste er das gar nicht und sollte besser mal umsteigen. Dann liefe es vielleicht auch mit Gitti besser. Manchmal schlenderte Meinhardt auf dem Weg in den Klassenraum im Gang vor uns her und sang irgendwas von »Amore« und »Ragazzi«, und wir lachten uns schlapp. Er merkte das zwar, aber es machte ihm nichts aus. Er war gut im Nehmen, das musste man sagen.
Und er haute keinen in die Pfanne. Er war kein Schwein, wie Kragler oder Kühnert oder der Direktor. Viel hatte ich noch nicht gelernt, aber dass es grundsätzlich eine richtige Seite gab, auf der man stehen konnte, und eine falsche, das schon. Und Meinhardt war auf der richtigen.
»Die Claudi is natürlich auch nich begeistert von der Sache«, hörte ich und merkte, dass ich Meinhardt eine ganze Weile gar nicht mehr zugehört, sondern mit offenen Augen geträumt hatte.
Nach einer Pause fragte er dann:
»Wie gehts eigentlich dem Manfred, dem Bogi? Ist der immer noch im Krankenhaus?«
Ich hatte für einen kurzen Moment tatsächlich vergessen, dass Bogi vor ein paar Stunden gestorben war. Ich konnte damit auch gar nichts anfangen. Irgendwie war dieses Gestorbensein im Moment etwas, das ihn interessant machte. Es war spannend, jetzt mit jemandem befreundet zu sein, der in diesem Zustand war. Ich kannte zumindest niemanden, der einen toten Kumpel hatte. Dass er weg war und mein Leben von heute an unwiderruflich eines ohne Bogi sein würde, hatte für mich keine Bedeutung.
»Ja, der Bogi ist noch im Krankenhaus.«
»Eine Scheiße ist das mit dem Krebs«, sagte Meinhardt. Es hörte sich an wie Krepps. Krepps Suzette, dachte ich.
»Der kommt aber bald raus. Muss ja dann die Zehnte noch mal machen.«
»Na ja, das ist ja jetzt das kleinste Problem. Ich werd das aber in der Konferenz noch mal zur Sprache bringen, dass wir irgendwie gucken müssen, dass der uns jetzt nicht auch noch deswegen aus der Gruppe rauskippt.«
Leider ist Bogi uns heute ein für alle Mal aus der Gruppe rausgekippt, lieber Meinhardt, das weißt du nur noch nicht, dachte ich, sagte aber das hier: »Ja, das wäre super, wenn ihr das machen würdet.«
Der Gedanke, dass man doch einfach so tun konnte, als sei das, was ich vor ein paar Stunden erlebt hatte, gar nicht geschehen, erleichterte mich.
»Das ist natürlich ganz wichtig, dass ihr den Manfred auffangt. Als Gruppe, meine ich, seine Freunde. Wer ist denn da noch dabei? Der Detlef?«
»Ja, und Jan. Jan Borowka.«
»Prima. Da müssen wir dann echt drauf achten, dass wir den Jungen reinholen, wenn er wieder da ist. Auch wenn er in eine andere Klasse kommt. Aber gut, dass wir beide jetzt drüber reden. Ich schreib mir das auch noch mal auf, dass ich das nicht wieder vergesse und zur Sprache bringe.«
»Ja, vergessen wäre blöd. Super. Danke, Meinhardt.«
Meinhardt stand auf und ging zur Anlage, um eine seiner italienischen Platten aufzulegen, offenbar hatte ihn unser Gespräch in Stimmung gebracht. Er konnte etwas Gutes tun.
Dass derjenige, den das betraf, tot war, wusste er ja nicht. Meinhardt würde eine Angelo-Branduardi-Platte auflegen. Obwohl ich ahnte, dass das jetzt kam, hoffte ich bis zuletzt, dass noch irgendetwas passierte, was es verhinderte. Es war die schlimmste, ekelhafteste Musik, die je gespielt und dann auch noch aufgenommen worden war. Man sah das dieser Sackfresse auf dem Cover auch sofort an. Gaukler nannten sich solche Typen. Ich hätte kotzen können. Zu spät, das Gedudel lief schon, und Meinhardt sang mit:
»Jallallallidadadadadada« – Gut, dafür hätte er jetzt nicht unbedingt Italienisch lernen müssen. Diese Musik war für mich Folter. Sie tat mir wirklich weh, und zwar an den erstaunlichsten Stellen. Ich hätte jedes Geheimnis preisgegeben, damit sie aufhörte, sagte aber lieber nichts, weil ich Angst hatte, dass er dann am Ende womöglich auch noch Herman van Veen rauskramen würde. Dann müsste ich nämlich sterben, und sie könnten mich gleich zu Bogi in die Kühlkammer legen. Meinhardt machte zur Musik ein paar rhythmische Bewegungen. Er sah aus wie ein tanzender Hinkelstein.
Ich überlegte, ob ich zu Gitti gehen und ihr sagen sollte, dass Meinhardt bei uns nur noch der Waran hieß, seit Walki beobachtet hatte, wie er Martina Berger auf der Party der Theater-AG seine Zunge in den Hals geschoben hatte. Das wäre zwar gemein gewesen, aber immerhin hätte sie dann die Branduardimusik ausgemacht.
Meinhardt hatte mal gesagt, er fände Angelo Branduardi auch deswegen so toll, weil das für ihn ein »moderner Eulenspiegel« sei. Weiß der Geier, was er damit meinte. Jan hatte ihn dann gefragt, ob er eigentlich glaubte, dass ein Eulenspiegel auch Eulenspiegeleier hätte. Meinhardt fands nicht lustig. Ich schon, ich brach zusammen. Bei Branduardi verstand er keinen Spaß. Ich saß da und schaute auf den indianischen Traumfänger, der vor dem Fenster baumelte. Meinhardt tanzte.
Dann ging die Tür auf, und Gitti kam mit einem Teller Salamibroten rein. Wieder etwas, das ich nicht verstand. Ich dachte, die würden sich trennen. So hatte es sich eben noch angehört. Sie wollte auch eigentlich gleich wieder gehen, aber Meinhardt, ein Stück Gewürzgurke zwischen den Zähnen, hielt sie fest. Sie wehrte sich erst ein bisschen, aber dann wiegte sie sich schließlich zu dem Flötengedudel mit ihm mit. Meinhardt flüsterte ihr was ins Ohr, aha, der Waran, dachte ich. Gitti lachte, obwohl sie es eigentlich nicht wollte, das sah man.
»Sag mal, Motte, wie gehts eigentlich dem … dem aus deiner Klasse, der so schlimm krank ist?«, fragte sie mich plötzlich.
»Dem Bogi? Ach, dem Bogi gehts besser. Der kommt bald nach Hause.«
Wenn man Sachen zum zweiten Mal sagt oder macht, egal wie idiotisch sie sind, ist man schon dran gewöhnt.
»Echt? Das ist ja toll! Das sah doch gar nicht gut aus mit dem. Der hatte doch dieses …«
»Non-Hodgkin-Lymphom«, sagte ich. Sie guckte irgendwie gequält.
»Die armen Eltern«, sagte sie jetzt, was ich nicht verstand, weil ich dachte, wenn schon, dann hätte es erst mal »der arme Bogi« heißen müssen, noch vor »die armen Eltern«, oder?
»Das ist ja super, dass der so die Kurve gekriegt hat. Freut mich, wirklich.« Gitti guckte mich an, als ob ich der Kranke wäre. Die beiden schaukelten immer noch vor mir rum.
Ich nahm einen Schluck Bier.
»Ja. Super. Kurve. Find ich auch«, sagte ich.
Und wieder dachte ich für einen Moment, vielleicht ist das wirklich die Lösung. Dass wir so tun, als wäre alles gut ausgegangen und Bogi noch am Leben.
»Wir wollen im Sommer zusammen Interrail machen. Der Bogi wird im Juni auch sechzehn. Bin ich ja schon. Aber die haben gesagt, dass das doch noch zu anstrengend für ihn wäre, deswegen überlegen wir uns jetzt was anderes.«
»Kommt doch zu uns nach Italien runter!«, rief Meinhardt, der erleichtert war, weil er den Streit mit Gitti offenbar wegtanzen konnte. So, wie ein Medizinmann den Regen hertanzen konnte, konnte er anscheinend so die dunklen Wolken vertreiben. Er versuchte ständig, uns zu überreden, die Ferien in Italien zu verbringen. Italien war für ihn anscheinend auch ein großes Open House. Ich hätte ihn allerdings mal sehen wollen, wenn wir tatsächlich alle da aufgekreuzt wären. Meinhardt war der Meinung, dass es, wenn alle nur noch das tun würden, was er gut fand, keine Probleme mehr auf der Welt gäbe. Weil aber niemand auf ihn hörte, wurde er traurig und musste getröstet werden, zum Beispiel von Claudia Herbst. Ich sagte, dass das eine gute Idee wäre mit Italien, und wir fingen ernsthaft an, unsere gemeinsamen Sommerferien zu planen. Bogi und ich würden also den Nachtzug nach Bologna nehmen, Liegewagen, und dann umsteigen und bis nach Perugia fahren, da würden Gitti oder er uns abholen. In Bologna hätten wir Zeit zum Frühstücken, da könnte Meinhardt uns eine Superadresse geben, und wenn wir dem Carlo sagen würden, dass wir »Studente« von ihm wären, dann wäre da vielleicht was los, das könne er mir jetzt schon sagen, der würde uns wahrscheinlich gar nicht mehr weglassen, der Carlo … Ich stellte mir das alles vor, das Bier wirkte und machte mich dösig, sogar der Branduardi machte mir nicht mehr so viel aus. Dann fiel mir aber wieder ein, dass der Plan nicht funktionieren konnte, weil einer der Teilnehmer die Reise nicht würde antreten können.
Irgendwann stand Dario, der kleine Sohn von Gitti und Meinhardt, in der Tür und wollte was, und Gitti verschwand mit ihm. Ich hatte nie rausbekommen, wie viele Kinder die beiden eigentlich hatten, es waren aber einige. Die waren alle gleich alt, keine Ahnung, wie die das gemacht hatten.
Meinhardt lächelte mich an und nickte, ich hatte das Gefühl, er brachte mich irgendwie in Verbindung damit, dass Gitti sich wieder mit ihm vertrug. Vielleicht, weil das Ablenkungsmanöver mit dem Italienurlaub funktioniert hatte. Vom Eigentlichen ablenken, das konnte ich allerdings ziemlich gut. Im Grunde basierte meine ganze bis jetzt halbwegs erfolgreiche Schullaufbahn auf dieser Methode. Und darauf, dass ich mich in den entscheidenden Momenten unsichtbar machen konnte. Komisch eigentlich, dass Meinhardt meine Hilfe brauchte. Ich meine, wenn das einer noch besser konnte als ich, dann doch er.
»Hast du eigentlich schon den Streifen von der Schleifahrt gesehen?«, fragte Meinhardt mich jetzt. Meinhardt nannte seine Super-8-Filme immer Streifen. Er war »Cineast«, wie er sagte. Was, wenn ich das richtig verstanden hatte, hieß, dass man langweilige Filme gut fand, die außer einem selbst und ein paar anderen Spezialisten keine Sau interessierten.
»Nee, ich glaub nicht. Ich weiß auch gar nicht, ob ich jetzt unbedingt Lust …«
Aber da war Meinhardt schon mit dem Projektor zugange. Dafür, dass er solchen Wert darauf legte, alles antiautoritär zu regeln, war er ziemlich bestimmend. Er zog hinter dem Getränkekistenregal eine Metallröhre mit einem Stativ heraus, die Leinwand. Die trug er zum Schreibtisch und begann, sie davor aufzubauen. Was nicht gleich klappte, Meinhardt klemmte sich zweimal die Finger (»Scheiße, verdammte!«). Aber dann stand das Ding, und er ging wieder zum Projektor am anderen Ende des Raumes. Im Regal hatte er in Plastikhüllen die Filmrollen verstaut und sie säuberlich beschriftet. »München (mit Konzentr.lag.Dachau)«, »Ciao Italia 1–4«, »Kursfahrt Prag«, »Vogesen! Herbst« und so weiter. Als ich »Vogesen! Herbst« las, wunderte ich mich über das Ausrufezeichen, aber dann konnte ich mir schon denken, warum das da stand. Und dass mit Herbst wahrscheinlich nicht nur die Jahreszeit gemeint war, sondern auch Claudia. Andererseits hätte das Ausrufezeichen doch dann hinter Herbst gehört und nicht hinter Vogesen, oder? Egal.
Wir waren im letzten Frühjahr für drei Tage zum Segeln an die Schlei gefahren, was ziemlich lustig gewesen war. Vor allem deswegen, weil wir alle, bis auf Meinhardt, gar nicht segeln konnten. Überhaupt machten Sachen, bei denen keiner so genau wusste, wie das ging, eigentlich am meisten Spaß, fiel mir gerade auf.
Meinhardt zeigte seine Filme immer mit Musik, und zwar immer mit derselben, egal, was in dem Film zu sehen war.
Mike Oldfield, »Tubular Bells«. Er fand wohl einfach, dass die gut zu den Bildern passte. Einmal hatte er, wahrscheinlich, weil wir gemeckert hatten, dass zu jedem Film dieselbe Musik lief, einen Versuch mit Pink Floyd gemacht, war damit aber nicht zurechtgekommen. Er hatte auch mal erzählt, er würde die Mike-Oldfield-Musik schon beim Filmen hören, innerlich, und seine Einstellungen schon danach aussuchen, ob sie gut zur Musik passten. Das mit den Einstellungen hatte Jan mir dann erklärt. Das war der Bildausschnitt. Jedenfalls nicht irgendwas, was man an der Kamera einstellte, wie ich gedacht und deswegen nicht verstanden hatte, wieso man dazu Musikbegleitung brauchte. Nachdem Meinhardt den Film ein- und die Platte aufgelegt hatte – er musste seine Arme weit ausbreiten, um gleichzeitig den Projektor und den Plattenspieler zu starten –, machte er die Deckenleuchte aus, und wir saßen wieder im Dunkeln, bis auf den flackernden, quer durch den Raum verlaufenden Lichttrichter, in dem Staubkörner tanzten.
Zum Glockengedudel der LP sah man jetzt Vorspann und Titel des Films. Meinhardt hatte sich da etwas ausgedacht und offenbar mit viel Mühe umgesetzt: Mit seinem Hund hatte er den berühmten brüllenden Löwen nachgestellt. Er fand das unfassbar lustig. Dann las man »Klassenfahrt 9b, Schlei«, und sah Birgit Körner, wie sie als Letzte winkend in den Bus einstieg. Man dachte natürlich immer, das sei kein Zufall, dass jemand als Erstes zu sehen war. Wenn es sich um ein Mädchen oder eine Frau handelte, meine ich. Man dachte: Was? Birgit Körner auch? Nur als Beispiel jetzt. Aber da konnte er sich jetzt auch nicht drüber beschweren, das hatte er sich selbst eingebrockt. Dann kamen ein paar Bilder von der Hinfahrt, Pause an der Autobahnraststätte und so weiter. Aber das, worauf ich genauso neugierig war wie ich mich davor fürchtete, sah man noch nicht. Erst als der Film startete, war mir klar geworden, dass in ihm natürlich auch Bogi vorkam. Ich überlegte, ob ich unter irgendeinem Vorwand doch noch verhindern konnte, das zu sehen, ob ich die Vorführung des Films irgendwie stoppen oder einfach flüchten könnte. Aber dann war ich einfach zu gespannt und wollte wissen, ob ich auch dann noch, wenn ich ihn im Film rumspringen sah, weiter so tun konnte, als ob Bogi noch am Leben war. Vielleicht war das in diesem Moment meine Angst, dass Bogi zwar, solange ich hier sitzen blieb, noch lebte, aber wenn ich diesen Ort verließ und wieder nach draußen ging, sterben würde. Falls das stimmte, wäre ich dann also in gewisser Weise für seinen endgültigen Tod verantwortlich. Also blieb ich sitzen und wartete ab, was mit mir geschehen würde.
Mittlerweile waren wir im Film bei der Jugendherberge in Kappeln angekommen, man sah uns um den Bus herumwuseln, und schließlich gingen Bogi und ich nebeneinander zum Eingang. Wir waren nur von hinten zu sehen, aber man hatte den Eindruck eines Paares. Wenns nicht komisch gewesen wäre, weil das ja ich war, der da zu sehen war, hätte ich gesagt, dass die beiden zusammengehörten. Vielleicht redete ich mir das aber auch ein, jetzt, im Nachhinein. Wir gingen ganz unterschiedlich, aber im selben Rhythmus. Ich eher wiegend, als ob ich den Fuß jeweils ganz abrollte und dann, bevor der andere aufsetzte, noch einen kleinen, bekräftigenden Hüpfer machte, und Bogi ging wie immer so, als hätte sein Körper Mühe, sich darauf zu konzentrieren. Er schlackerte ziellos in der Gegend herum. Dabei war er immer schneller als ich. Gewesen.
Ich trug meinen Rucksack mit dem Metallgestell, an den außen lauter Zeug drangebunden und gehakt war, und Bogi über der Schulter seinen alten Seesack, in dem er alles verstaut hatte, was er für die drei Tage brauchte. Der Seesack stammte sicher von seinem Opa oder seinem Uropa oder was weiß ich. Wie alles in Bogis Familie. Bei mir gab es so was nicht, man konnte das Gefühl haben, meine Eltern seien vom Baum gefallen, ich hatte keinerlei Erinnerung an meine Großeltern, die alle schon tot gewesen waren, als ich zur Welt gekommen war. Wenn ich nach ihnen fragte, bekam ich ausweichende Antworten, so, als hätten auch meine Eltern mit dem, woher sie kamen, nie etwas zu tun gehabt und auch keine Lust, daran erinnert zu werden.
Als Nächstes sah man die Klasse jetzt schon beim Segeln in den winzigen Booten, Optimisten hießen die, wie wir gelernt hatten. Wackelnde Nussschalen, in denen jeweils zwei von uns saßen und versuchten, mit den Segeln und dem ausschlagenden Ding, das Meinhardt Großbaum nannte, zurechtzukommen. Bogi und ich hatten ein Boot, Jan und Walki ein anderes. Am nächsten Tag hatten wir dann gewechselt, weil Meinhardt gemeint hatte, Walki und ich würden uns besser ergänzen, was aber Quatsch gewesen war, weil wir genauso rumeierten wie vorher Bogi und ich. Meinhardt kurvte in einem kleinen Motorboot rum und krächzte Anweisungen in seine Flüstertüte. Die Mädchen waren ehrgeiziger gewesen als die Jungs, und ein paar hatten es auf Anhieb wirklich gut hinbekommen. Bogi und ich trieben nur durch die Gegend, richtungslos, wir brüllten rum und wären vor Lachen fast gekentert, spätestens als ich zweimal hintereinander den Großbaum an den Schädel bekommen hatte.
Es war natürlich komisch, uns, vor allem Bogi, zuzuschauen, aber irgendwie war es auch schön, und ich wurde fast euphorisch. Es war lange her, dass er so gewesen war. Eigentlich konnte ich uns auf Meinhardts verwackeltem Film gar nicht erkennen. Aber weil ich mich erinnerte, sah ich doch alles ganz klar vor mir. Einmal fuhr Meinhardt im Film an unserem Boot vorbei, Bogi zog eine Grimasse und grinste in die Kamera, man sah mich hinter ihm etwas rufen, ich wusste aber nicht mehr, was es gewesen war. Meinhardt blies den Rauch seines Zigarillos aus, er waberte zwischen dem Projektor und der Leinwand herum, und kurz sah man Bogi und mich als Gespenster in diesem Nebel. Dann entfernte sich die Kamera, bis unser Boot nur noch ganz klein zu sehen war, und am Ende schwenkte sie auf das Ufer, wo gerade ein Schwarm Enten aufflog.
Meinhardt war seit einiger Zeit still. Wahrscheinlich war er erschöpft vom Streit mit Gitti und der vielen Biersauferei. Jetzt war das Lagerfeuer zu sehen, an dem wir am letzten Abend gesessen hatten. Am Nachmittag hatten wir das Ufer und das kleine Wäldchen neben der Jugendherberge nach Brennholz abgesucht, und als die Dunkelheit einbrach, hatten wir es auf dem steinigen Ufer angezündet. Eigentlich war es dafür noch zu kalt gewesen, weil es ja noch vor den Osterferien gewesen war, aber wir hatten Meinhardt schließlich überredet. Wir trugen Winterjacken und -mützen, viele – außer denen, die das zu uncool fanden – auch Handschuhe. Ich dachte plötzlich, dass man sich, wenn man im Sommer Filmaufnahmen sah, die im Winter gemacht worden waren, nie vorstellen konnte, dass es jemals so kalt gewesen war, geschweige denn wieder werden würde.
Dann sah ich Bogis Gesicht auf der Leinwand und merkte, dass ich mir noch ganz andere Sachen nicht vorstellen konnte. Dass der jetzt tot war zum Beispiel.
Meinhardt hatte uns beschworen, keinen Alkohol mitzubringen oder zu organisieren, weil wir damals erst in der Neunten waren und er in Teufels Küche kommen würde, wenn einem von uns was passierte, das Übliche eben. Lustigerweise hatte sich ausgerechnet das Udo-Mönch-Zimmer dann nicht daran gehalten, der Bundeswehr-Fanclub. Die übten schon mal für später und spielten Kaserne, was weiß ich. Jedenfalls kotzten die in der Nacht ihr Zimmer und das Klo voll, einer von denen auch eins der Pissbecken, und es gab am nächsten Tag unheimlichen Stress, weil keiner es gewesen sein wollte. Ich glaube, Meinhardt hat es dann sauber machen müssen. Jedenfalls hat er den restlichen Tag kein Wort mehr geredet.
Bogi und ich hatten als Letzte am Feuer gesessen und uns unterhalten. Darüber, was wir später mal machen würden, nach der Schule meine ich. Er wusste schon, was er werden wollte, Biologe, er kannte sich unheimlich gut mit Tieren und Pflanzen aus, weil er schon als ganz kleiner Junge immer mit seinem Opa unterwegs gewesen war, der ihm das alles gezeigt und beigebracht hatte. Jedenfalls wollte Bogi später mal an alle möglichen Orte reisen, um zu forschen, und irgendwie hatten wir uns das dort am Feuer vorgestellt und waren dann ganz still geworden, als wir daran gedacht hatten. Weil wir uns gefragt hatten, ob wir dann noch Freunde sein würden. Und, falls ja, wie das gehen sollte. Also ich vor allem war traurig geworden, weil ich ja im Gegensatz zu Bogi mit allen seinen Plänen überhaupt noch nicht wusste, wie mein Leben aussehen sollte, und deswegen das Gefühl hatte, übrig zu bleiben, während er mir von seinen Expeditionen vorschwärmte, die er unternehmen würde. War ja dann auch so gekommen, dass ich übrig blieb, anders als wir damals gedacht hatten.
Bogi konnte sich total begeistern, wenn er sich das vorstellte, und wahrscheinlich war ich eifersüchtig gewesen, dass er so viel zielstrebiger war als ich. Ich hätte auch gerne gesagt, das werde ich mal machen, egal was, ohne zu denken, dass es dann sowieso nicht klappen würde. Aber letztendlich war diese Eifersucht nicht lange geblieben. Ich hoffte, er würde für immer mein Freund bleiben. Und ich könnte an allem, was er mir damals ausmalte, teilhaben.
Was ich jetzt hier in Meinhardts Film sah, war gerade mal ein gutes Jahr her. Seitdem hatte sich alles verändert.
Mit unseren Mezzomixflaschen hatten wir am Feuer gesessen, und Bogi hatte mir von einem Mädchen erzählt, das er mochte. Wir hatten darüber bis jetzt nur blöde Witze gemacht, vielleicht, weil wir schon irgendwie ahnten, dass das Thema unsere Freundschaft verändern würde. Bis dahin waren wir beide füreinander die wichtigsten Menschen gewesen, so viel stand fest. Bogi hatte mir erzählt, dass er Judith Schröder aus der 8a toll fand, aber nicht wusste, wie er ihr das zeigen sollte. Ich konnte ihm da nicht helfen. Es war zwar noch lange vor der Jacqueline-Schmiedebach-Katastrophe gewesen, aber ich war nun wirklich kein Experte darin, jemandem näherzukommen. Wir hatten uns darüber unterhalten, was wir fühlten und uns wünschten und so. Was das anging, hatte ich mir bis dahin gar nicht vorstellen können, was sich in dem kleinen Bogi so alles abspielte. Er war zwar ein Jahr jünger als ich, aber er war immer der Schlauere von uns beiden gewesen, ganz ehrlich. Ich hatte mich gewundert, dass Bogi schon so genaue Vorstellungen davon gehabt hatte, wie er mit Judith Schröder die ganzen Expeditionen machen würde. Er sah sich schon mit ihr den Amazonas runterpaddeln und irgendwelche Käfer einsammeln. Ich meine, die gute Judith Schröder wusste ja noch nichts von ihrem Glück.
An diesem Abend hatte ich das Gefühl, mehr auf Bogis Träume aufpassen zu müssen als auf mich selbst. Und obwohl er ganz anders war als ich, verstand ich alles, was er dachte und sagte, ganz genau. Weil er mein bester Freund war. Aber warum hatten wir uns dann fast verloren, als Bogi krank wurde?
Ich habe damals aufgegeben und ihn allein gelassen. Weil ich nur damit beschäftigt war, dass ich mit seiner Krankheit nicht zurechtkam.
Der Film lief immer noch, ab und zu streifte uns Meinhardts Kamera, und man sah unsere ernsten, konzentrierten Gesichter im flackernden Licht des Lagerfeuers.
Neben mir hörte ich ein Schnarchen.
Ich musste hier raus. Vorsichtig stand ich auf, hob meinen Turnbeutel mit den Amselfelderflaschen hoch, ertastete unter dem Stoff die beiden Flaschenhälse, hielt sie fest, damit die Flaschen nicht aneinanderschlugen, und schlich über die knarrenden Dielen zur Tür. Ich sah mich noch einmal um, auf Meinhardts schweißglänzendem Gesicht spiegelten sich die letzten Filmbilder. Als ich die Haustür öffnete, schlug mir die klare, kalte Nachtluft entgegen. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Ich nahm mein geklautes Fahrrad, das ich gegen die Hecke gelehnt hatte, und rollte leise die Eichenhöhe runter, um den schlafenden Meinhardt nicht aufzuwecken.