Sechzehn
– Ende Mai, selber Tag –
Eine sonderbare Welt war das, die von Gitti und Meinhardt, aber die letzten beiden Stunden, die ich in ihr verbracht hatte, waren auf ihre Art sicher gewesen. Ich fragte mich, wie lange ich wohl noch mit Leuten zu tun haben könnte, die nicht wussten, dass Bogi tot war. Und ob er vielleicht erst dann richtig
tot wäre, wenn es wirklich jeder wusste und er eben nicht mehr einfach der Bogi, sondern nur noch der tote Bogi wäre.
Ich hatte keine Ahnung, wohin. Nach Hause wollte ich jedenfalls nicht. Ich ließ meine Füße neben dem Rad schleifen und stoppte.
Jetzt wäre ich doch gerne Raucher gewesen. So wie Jan, der immer, wenn gerade nichts anderes zu tun war, seinen Tabak rausholte und sich eine drehte. Stattdessen griff ich in den Turnbeutel. Ich nahm die angebrochene Amselfelderflasche raus und trank einen großen Schluck, schüttelte mich. Dann zog ich den Reißverschluss meiner Armeejacke zu und stellte den Kragen auf.
Rechts unten sah ich das Freibad liegen. Nach einem
langen Winter wartete es darauf, in den nächsten Tagen wieder geöffnet und mit Wasser, Sonne und Leben geflutet zu werden.
Beim ersten Versuch, über den Zaun des Freibades zu klettern, hatte ich das Gleichgewicht verloren und war auf den Rücken gefallen. Die Flaschen im Turnbeutel hatten laut gescheppert, waren aber ganz geblieben. Wegen des Lärms fing irgendwo in der Nähe ein Hund an zu bellen. Beim nächsten Mal schaffte ich es, riss mir aber beim Runterklettern an dem Maschendraht meine Jeans auf, ein langer Kratzer zog sich an meinem Oberschenkel entlang, um den jetzt das zerrissene linke Hosenbein schlackerte. Hauptsächlich wunderte ich mich immer noch darüber, dass mein Zustand nichts mit dem zu tun zu haben schien, was ich mir unter der Trauer über Bogis Tod in den letzten Wochen und Monaten vorgestellt hatte. Vom Zaun aus ging ich auf die Liegewiese rechts neben dem großen Becken. Es war ziemlich hell auf dem Rasen, und ich dachte, dass zwischen den Pappeln am Rand der Wiese der Mond hindurchscheinen würde, aber es war nur eine der Laternen, die auf dem Waldweg standen, der hinter dem Zaun um das Freibad herumlief. Also die eine Laterne, die noch funktionierte und noch nicht mit einer Zwille zu Schrott geschossen worden war.
Die Wiese war heute gemäht worden, am Rand dampfte ein frischer Haufen Grasschnitt vor sich hin. Sehr wahrscheinlich war in dem Moment, als Bogi starb, jemand seelenruhig mit seinem Rasenmäher hier entlanggelaufen. Überhaupt waren ja in diesem Moment lauter ganz normale Sachen geschehen. So wie immer. Wenn man es
so betrachtete, machte es auch nur für ganz wenige Leute einen Unterschied, ob Bogi da war oder eben nicht. Und wenn nicht Bogi diese Scheißkrankheit bekommen hätte, sondern ich, dann wäre es genauso gewesen. Es war – außer vielleicht für die paar Menschen, die einen kannten, und nicht mal das war sicher – vollkommen bedeutungslos, ob man da war oder nicht.
Im Becken war schon Wasser, die Chlordämpfe brannten in meinen Augen. Ich schaute zu den Umkleiden auf der gegenüberliegenden Seite. »Damen« und »Herren« stand da, und »Duschen« in dieser alten Schrift, in der es so aussah wie »Dufchen«. Keiner von uns war jemals auf die Idee gekommen, sich hier umzuziehen. Man kam in Badehose angeradelt und fuhr so auch wieder nach Hause. Sie war beim Wegfahren immer noch nass, und weil sie auf dem Kunststoffsattel nicht trocknete, sondern am Hintern festklebte, musste ich immer wieder im Stehen fahren und den Stoff mit Daumen und Zeigefinger von meiner ganz aufgeweichten und juckenden Haut abziehen, sodass der Fahrtwind durch den Gummibund pfiff.
Ich ging hinüber zu den Sprungtürmen, blieb kurz davor stehen und schaute nach oben. Es war wirklich sehr hoch. Vielleicht könnte ich erst mal nur auf den Dreier. Oft hatte ich schon auf dem Zehner gestanden und war dann, wenn die Leiter gerade leer war, doch wieder zum Fünfer heruntergeklettert und ganz schnell gesprungen, in der Hoffnung, dass keiner zugesehen hatte, weder beim Herunterklettern noch bei meinem staksigen Fußsprung.
Ich spürte das kalte Metall des Geländers unter den
Händen, einmal rutschte ich mit einer Hand ab und wurde vom Schreck kurz nüchtern, aber dann saß ich auch schon auf dem rauen, körnigen Sandpapierboden des Dreimeterbretts und schaute auf die Lichttupfen hinter den Baumwipfeln. Dahinten musste die Innenstadt sein und links davon Neuberg, wo Walki wohnte. Rechts unten, auf der anderen Flussseite, war Kiesheim, und einer dieser Lichttupfen war Jacquelines Haus. Jacqueline, an die ich schon so lange nicht mehr gedacht hatte. Aber jetzt gerade wusste ich wieder ganz genau, wie es gewesen war, als sie mit dem Fahrrad hinter mir gehalten hatte. »Na du«, hatte sie gesagt, als ihr Vorderreifen an mein Schutzblech gestoßen war.
Ich ging ein Stück vor, dorthin, wo das Sprungbrett schon zu schwingen begann, aber noch nicht so weit, dass ich an den Seiten hätte hinunterschauen können. Hüpfte ein bisschen auf und ab, die Amselfelderflasche in der Hand. »Joing, joing, joing«, das Brett sprach, wenn es federte.
Ich setzte mich hin, lehnte am Geländer und versuchte, endlich ein paar Tränen herauszupressen. Aber mehr als eine Grimasse, die das Weinen nur nachäffte, bekam ich nicht hin. Während ich das versuchte, schaute ich mir dabei gleichzeitig zu. Als ob es noch einen von mir gäbe.
Ich kletterte wieder runter, und hangelte mich dann nebenan bis hoch auf den Zehner. Oben war ich vollkommen leer und dachte und fühlte nichts mehr. Guckte nur noch. Und als mir sogar das zu viel war, schloss ich die Augen, aber das war keine gute Idee, weil sich sofort
alles zu drehen begann. Mir war so schlecht, dass ich sofort ins Wasser hätte runterreihern können. Die Rotweinkotze sähe darin so aus, als ob der weiße Hai unterwegs gewesen wäre. Es kam aber nichts, keine Tränen, kein Wein. Ich legte mich auf den Rücken und schaute in den Himmel. Versuchte, die Sterne zu zählen, kam aber immer durcheinander und musste wieder von vorne anfangen. Es war kalt geworden, aber je mehr ich trank, desto weniger merkte ich davon. Ich holte die zweite Flasche aus dem Beutel, die erste warf ich in hohem Bogen in Richtung des Beckens, und als ich sie fast schon wieder vergessen hatte, hörte ich, wie sie ins Wasser klatschte. Es war wirklich verdammt hoch hier.
»Am-sel-fel-der!«, brüllte ich sinnloserweise in die Nacht, wie einen Fangesang beim Fußball. Und dann gleich hinterher »Black-bird-fiel-der!«. Ich drehte den Schraubverschluss lange in die falsche Richtung und wunderte mich, warum die Flasche nicht aufging. Dann hörte ich mein Echo aus dem Wald:
»Hamsää-fääl-daa, Bäck-ööd-iel-daa!«.
Plötzlich gingen unten die Lichter an, und einer rief:
»Hallo? Was machen Sie denn da?«
Als ich vorsichtig durch die Stahlstäbe des Geländers schaute, sah ich zwischen den Umkleiden und dem Kassenhäuschen am Eingang jemanden stehen und mit einer Taschenlampe herumleuchten. Er hatte mich dann auch schnell gefunden. Kein Wunder bei dem Radau, den ich hier veranstaltete.
»Runter da! Aber ganz schnell!«
Der Ton kam mir bekannt vor. Das war der übliche
Sportlehrer-, Nachbar-, Hausmeister-, Verkehrspolizisten-, Bademeisterbefehlssound. Es gab offenbar nur die Netten, wie Meinhardt, die brüllten einen nicht an, waren dann aber auch sonst wie Pudding, und auf der anderen Seite die Brüllaffen wie Kragler mit ihrer Kommandosprache. Irgendwas dazwischen konnte anscheinend nur Frau Standfuss.
»Hörst du mich, mein Freund?«
Ich erkannte an der Stimme, dass es der Bademeister war, der hier im Sommer täglich ums Becken stolzierte und in seine Trillerpfeife blies, wenn jemand es wagte, vom Beckenrand aus ins Wasser zu springen. Ich konnte ihn nicht sehen, weil ich vom Strahl der Taschenlampe geblendet wurde. Seinen Namen wusste ich nicht, weil ich immer darauf geachtet hatte, ihm aus dem Weg zu gehen. Er trug meistens kurze Hosen, die ein bisschen zu klein waren, sodass der Ansatz seiner Arschritze zu sehen war. In seinem Hosenbund steckten vorne eine Schachtel Camel Filter und hinten in der Tasche eine Flasche »Tiroler Nussöl«. An den Füßen hatte er Plastikschlappen getragen und manchmal, wenn die Sonne richtig runterknallte, eine Kapitänsmütze mit einem Ankerwappen auf den nach hinten gekämmten sehr schwarzen Haaren. Er hatte breite, buschige Koteletten, und weil er oft eine Pilotensonnenbrille mit goldenem Rahmen trug, hatten wir ihn Elvis getauft. Er kam jetzt in meine Richtung.
»Ich hab dich schon längst gesehen, Kamerad. Komm sofort runter!«
Ich überlegte, wie ich ihm klarmachen sollte, dass ich viel zu betrunken war, um die Leiter wieder
runterzuklettern. Ich würde so lange hier oben bleiben müssen, bis ich nüchterner war. Es sei denn, ich sprang vom Zehner ins Wasser. Aber das hatte ich mich noch nie getraut und hatte nicht vor, ausgerechnet jetzt damit anzufangen.
Ich versuchte aufzustehen, was gar nicht so einfach war. Zum Glück konnte ich mich am Geländer festhalten. Ich kniff die Augen zusammen und schaute direkt in das Licht der Taschenlampe.
»Aha!«, hörte ich von unten.
»Hallo«, sagte ich.
Und als ich runterschaute und wieder merkte, wie hoch das hier war – und wie tief unter mir der rettende Boden –, machte mein Magen einen kleinen Hüpfer, und als Nächstes schoss dann auch schon eine rote Fontäne aus meinem Mund und pladderte unten auf die Fliesen.
»Ach du Scheiße!«, hörte ich Elvis schreien.
»Die machst du aber gleich weg, die Sauerei!«
Ich reiherte gleich noch eine Ladung hinterher. Elvis sprang zur Seite, damit er nicht von den Spritzern getroffen wurde. Ich hasste diese Kotzerei, weil es sich so anfühlte, als ob nicht nur der Mageninhalt herauskatapultiert wurde, sondern sich auch noch meine ganzen Innereien nach außen stülpen wollten. Der Gedanke war irgendwie lustig, weil genau das ja von mir immer erwartet wurde. Dass ich mein Inneres nach außen kehrte. »Zeig doch endlich mal, wie es in dir drin aussieht, Motte!« So in der Art. Tat ich doch jetzt. Die Pfütze da unten, so sahs in mir aus.
Ich rieb mir den Mund ab, an meinem rechten Handrücken war jetzt ein bisschen Schleim, und ich wusste
nicht, wo ich ihn abwischen sollte. Am Ende blieb nur die Jeans, ich nahm aber wenigstens das zerrissene Hosenbein.
»Wirds bald?«, rief Elvis. Das zappelige Rumgeleuchte mit der Taschenlampe ging mir wirklich auf den Sack. Er wusste doch längst, dass ich hier oben war, Herrgott noch mal.
»Ich glaub, ich kann hier gerade nicht runter. Selbst wenn ich wollte«, sagte ich.
»Was? Ich versteh kein Wort.«
»Ich glaub, ich kann hier jetzt nicht runterklettern. Mir gehts gerade nicht so gut.«
»Du bist doch auch raufgekommen.«
»Da hatte ich aber den, äh, noch nicht getrunken.«
Ich wollte das Wort Amselfelder nicht sagen, weil ich Angst hatte, dann wieder kotzen zu müssen.
»Ich glaub, ich spinne. Soll ich die Feuerwehr holen, oder was? Sollen die dich mit der Drehleiter da runterholen, weil du zu besoffen bist?«
Ich wusste wirklich nicht, was ich dazu sagen sollte, das waren mehrere komplizierte Fragen auf einmal, also sagte ich:
»Keine Ahnung.«
Obwohl mir für einen kurzen Moment die Aussicht, mit dem Kran hier oben abgeholt zu werden, ziemlich reizvoll erschien. Ich konnte auch wirklich nicht sagen, ob sich mein Zustand jemals so verbessern würde, dass ich es von alleine wieder runterschaffte. Falls nicht, müsste ich hierbleiben, so wie einer von diesen Pfahlsitzern im Freizeitpark, denen man ab und zu ein paar Lebensmittel hochwarf, damit sie ihren dämlichen Rekord aufstellen konnten.
»Ja, wie stellst du dir denn jetzt den weiteren Ablauf vor, Meister?«
Eine Frage nach der anderen. Das war keine gute Idee. Wenn ich nüchtern war, schon nicht, und jetzt eben erst recht nicht.
»Gib mir mal die Telefonnummer von deinen Eltern. Da sollen die sich drum kümmern. Ich steh ja hier nicht die ganze Nacht rum und lass mir von dir vor die Füße kübeln.«
»Hab ich vergessen.«
»Was vergessen?«
»Die Telefonnummer. Hab ich vergessen. Wir sind gerade ungezogen. Nee, umgezogen, meine ich, umgezogen.«
»Willst du mich verarschen?«
»Nein. Ehrlich nicht.«
»Mann, Mann, Mann.«
Er guckte zu mir hoch, dann auf die Kotze, dann leuchtete er aufs Wasser, die Flaschenpost meiner Doofheit schaukelte dort herum.
»Hast du die etwa da reingeschmissen?«
»Aus Versehen.«
»Wie, aus Versehen?«
»Mir gehts nicht so gut.«
»Das ist doch eine Scheiße hier alles«, sagte er, während er das an den Sprungturm angelehnte Netz, den Kescher, nahm.
Als er die Amselfelderflasche rausgefischt und in den Mülleimer geworfen hatte, ging er auf die andere Seite des Sprungturms, und im nächsten Moment hörte ich, wie das Geländer ächzte, als er begann, hochzuklettern.
Ich überlegte, ob es hier oben etwas aufzuräumen gab. Ich hätte die Weinflasche in den Beutel stecken können, das war alles, aber das wäre ja albern gewesen, nachdem ich ihm den Inhalt der vorigen schon vor die Füße geeimert hatte. Das Geländer knarzte immer bedrohlicher, und kurz hatte ich die Hoffnung, dass es abbrechen und Elvis in die Tiefe stürzen würde. Und dann? Ich hier oben, da unten meine Kotze und ein toter Bademeister, wie sähe das denn aus?
»Ich glaubs ja nicht. Bald ein Uhr nachts. Das interessiert natürlich keinen.«
Die ganze Zeit über, während er hochkletterte, hörte ich ihn mit sich selbst reden.
»Was beschweren Sie sich denn, Herr Reuser, Sie haben doch ein schönes Leben, den ganzen Tag an der Sonne, da würden andere Sie drum beneiden … Jaja, ihr Arschlöcher. Wer holt denn den Penner hier vom Turm, wenn normale Leute im Bett liegen?«
Für eine Weile war nur die Mütze von Elvis an der Kante der Plattform, auf der ich saß, zu sehen. Er schnaufte. Offenbar machte er kurz vor dem Ziel noch einmal Pause.
»Junge, was machst du denn?«, sagte er, ohne dass ich ihn sah. Er klang traurig, fast flehend.
Dann: »Ich werde noch bekloppt.«
Und damit schwang er sich über die Kante, hoch zu mir auf das Plateau. Als Erstes schauten wir uns einfach nur an.
Ich sah die paar Lichter der Stadt. Viele Gründe, hier nachts das Licht anzuschalten oder brennen zu lassen, gab es ja nicht. Aus dem Ringwald kamen Tiergeräusche.
»Amselfelder?«, fragte Elvis und zeigte auf meine Flasche.
»Hol ich mir auch gerne. Ist bekömmlicher, weil die da die Stiele und Stengel nicht mitkeltern.«
Mitkeltern, dafür hatte sich die ganze Kletterei gelohnt, dass ich hören durfte, wie das jemand wirklich mal sagte.
»Schlückchen?«, sagte ich und hielt ihm die Flasche hin.
Elvis guckte erst in den Himmel, dann auf seine Füße, dann seufzte er und sagte: »Hm.«
Was so viel bedeutete wie ja.
Ich reichte ihm die Flasche, und er wischte die Öffnung am Saum seines Polohemds gründlich ab, bevor er trank: »Aaaaaah.«
»Wie heißt du, Junge?«
»Morten.«
»Torben?«
»Nein, Morten. Morten Schumacher. Ist dänisch, der Name, für Martin. Meine Mutter … ist ja auch egal. Könnten Sie mich vielleicht einfach gehen lassen? Ich lass Ihnen auch den Amselfelder da. Bitte.«
»Und wie willst du hier alleine runterkommen, du Spezialist?« Damit hatte er nicht ganz unrecht, das musste ich zugeben.
»Wo wohnst du denn?«
»Am Lindenhain 4, Waldstadt.«
Eine Weile horchte ich meinen eigenen Worten nach, irgendwas stimmte nicht, ich wusste aber noch nicht, was. Ach so, klar.
»Nee, Klostergarten. Neue Stadt. Seit äh …«
»Und wie kriegen wir dich da jetzt hin?«
Ich musste mir irgendwas einfallen lassen, um den Bademeister abzulenken.
»Wissen Sie eigentlich, dass alle Sie Elvis nennen?«
Er guckte erst überrascht, als ob ich ihn hochnehmen wollte, und dann, als ich ihm zunickte, zog sich ein Lächeln über sein Gesicht.
»Ehrlich?«
»Ja. Wegen der Frisur. Und der goldenen Sonnenbrille und so.«
Er fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare, als ob er sie noch mal richtig in Form bringen wollte, um das, was ich gerade gesagt hatte, zu bestätigen.
»Das ist ja … hehe, na ja, das ist ja immerhin der King. Ich wusste nicht, dass ihr da auch … Ihr hört ja mehr so …«
Er war verlegen. Ernsthaft.
Dann setzte er sich plötzlich neben mich, die Flasche immer noch in der Hand. Er wollte sie mir reichen, aber ich konnte nicht mehr. Er nahm noch einen Schluck.
»Ich bin der Günter«, sagte er. »Günter Reuser. Grüß dich, Holger.«
Damit streckte er mir die Hand entgegen.
»Morten. Ist dänisch. Für Martin.«
»Ach so, ja klar, hatte ich schon wieder vergessen.« Dann fing er an zu summen.
Ich erkannte schnell, dass er »Hound Dog« summte, weil mein Vater auch Elvisfan war und ich das ganze Zeug früher rauf und runter gehört hatte. Ich fing an, den Takt mitzuklatschen. Günter war hin und weg und sang: »You ain’t nothin’ but a hound dog, cryin’ all the time …«
Ich
wusste genau, wann der Chor einsetzte, und machte an den richtigen Stellen »Aaaaaaah«,
und es wurde ziemlich laut auf dem Zehner.
»Well you ain’t never caught a rabbit and you ain’t no friend of mine.«
Ich trommelte auf meinen Oberschenkeln den Wirbel am Ende des Liedes, und dann lachten wir. Günter nahm den letzten Schluck, und jetzt war sie auch leer, dachte ich kurz, die letzte der beiden einzigen Weinflaschen, die Bogi in seinem Leben gekauft hatte.
Dann erzählte Günter mir davon, wie Elvis, also der echte, gestorben war, und dass er deswegen damals so fertig gewesen sei, dass er dachte, auch sein Leben sei jetzt zu Ende und er würde nie wieder im Sommer in seine Adiletten steigen und in seine Trillerpfeife pusten können und so, und dass er dann aber von diesen Wettbewerben gehört hatte, wo der beste Elvis-Imitator gesucht wurde. Und dass er sich da dann richtig reingekniet hätte, auch weil er das Gefühl gehabt hatte, dass der King, also der echte Elvis, weiterleben würde, solange man seine Lieder sang. Oder so. Die Christa, seine Frau, hätte ihn dabei auch unheimlich unterstützt.
Und was sollte ich jetzt damit anfangen? Bogi-Imitator werden? Na ja, das konnte Günter ja nicht wissen.
»Hast du eigentlich schon ’ne kleine Freundin, Mortin?«, fragte Günter auf einmal. Jetzt fing der auch noch mit der kleinen Freundin an.
»Morten. 1 Meter 58«, sagte ich, »aber wir wissen das, glaube ich, nicht so genau. Also nicht, wie groß sie ist, sondern ob wir zusammen sind.«
Günter guckte erst, und dann musste er ziemlich lachen. Danach war für eine Weile Ruhe.
»Läuft gerade nicht so rund bei dir, oder?«, fragte er.
Ich sagte lieber nichts, und weil Günter in Ordnung war, fragte er nicht weiter. Das war dann zwar alles in allem kein zielführendes Gespräch hier, aber jedenfalls wurde keiner dazu gezwungen, über Sachen zu reden, über die er nicht reden wollte.
Und das war ja schon eine Menge, weil das sonst ständig passierte. Ich hatte mir das übrigens bei Meinhardt Vogt abgehört, »zielführend« und so. Deshalb klang ich oft klüger, als ich war. Altklug, sagte meine Mutter. Immer wenn wir uns stritten und ich sie in die Ecke geredet hatte und sie nicht mehr weiterwusste, kam das. Altklug.
Das war dann jedenfalls der Moment, in dem ich Günter in mein Herz geschlossen habe, wenn man das so sagen kann. Als er nicht weitergefragt hat. Mehr kann man manchmal nicht tun, finde ich. Nicht weiterfragen, aber dableiben.
»Hast du eigentlich ein Lieblingslied vom King?«, fragte Günter.
»Pff, ja weiß nicht, ich bin da nicht so …«
»Na sag schon.«
»›All shook up‹, keine Frage.«
Und schon fing Günter an zu singen, und ich klopfte dazu den Takt, indem ich die Sohlen meiner Basketballschuhe, die ich längst ausgezogen hatte, aneinanderschlug. Im Original war das auf einem Stuhl getrommelt worden, hatte mein Vater, der große Gerhard Klugschiss Schumacher, mir mal erzählt. Aber hier war ja kein Stuhl. Bei der zweiten Strophe stieg ich dann ein.
»…I’m in love I’m all shook up uhuhu,hu,yay,yay,yay.«
Ich hatte das Zeug ziemlich gut drauf, muss man sagen, und mittendrin bekam ich sogar Angst, dass Günter mich fragen würde, ob ich nicht auch mal zu so einem komischen Elvistreffen mitkommen würde. Irgendwann wollte er dann wissen, was ich eigentlich hier oben machte, also, wie ich auf die Idee gekommen sei, mitten in der Nacht mit besoffenem Kopf auf den Zehner zu klettern. Komische Frage. Was sollte ich denn darauf antworten? Ich bin gerade hier vorbeigekommen und hatte nichts Besseres zu tun? Mein Kumpel ist gerade gestorben, und ich hab einen Platz gesucht, an dem ich in Ruhe gelassen werde, was ja offenbar nicht so richtig funktioniert hat? Oder was?
Stattdessen sagte ich: »Ich wollte mal gucken, ob ich immer noch Angst habe.«
Günter nickte, ohne dass ich ihm erklärt hätte, was genau das bedeutete und wie die Sachen alle miteinander zusammenhingen und so. Vielleicht hatte er auch keine Lust, weil er merkte, dass es richtig kompliziert geworden wäre, wenn er genauer nachgefragt hätte. Deshalb tat er einfach so, als ob er wüsste, was ich meinte, und nickte. Weiß der Geier. So hätte ich es jedenfalls an seiner Stelle gemacht.
»Bist du denn überhaupt schon mal hier runtergesprungen?«
»Nee, wie denn, wenn ich eben gesagt habe, dass ich Angst habe und mir erst mal einen auf die Lampe gießen musste, damit ich es überhaupt hier hoch schaffe?«
»Dass man Angst hat, bedeutet ja nicht, dass mans nicht machen kann. Nur weil irgendein Idiot mal in die Welt gesetzt hat, dass man keine Angst haben darf. Was meinst du,
wie ich mir ins Hemd gemacht habe, als ich mit den Elvisshows angefangen habe. Aber egal, ich habs gemacht. Und es kann doch sein, dass es viel mutiger ist, was trotzdem zu tun, auch wenn man Angst davor hat.«
Oha, Günter lief zu großer Form auf. Ich musste über ihn lachen, was aber nichts daran änderte, dass es toll war, was er erzählte. Wahrscheinlich hat mir in dieser ganzen Zeit, als ich nicht wusste, wie das jetzt werden soll erst mit, dann ohne Bogi, keiner so was Vernünftiges gesagt wie Günter. Außer Steffi vielleicht.
Noch was: als Günter mir gegenübersaß und den philosophischen Kram ausbreitete, guckte ihm die ganze Zeit über das linke Ei aus seiner Adidas-Turnhose, und ich musste da dauernd hinsehen. Ich hab aber nichts gesagt, weil das für ihn ja irgendwie doof gewesen wäre.
Es kam dann eins zum anderen. Ich fand es wichtig, dass ich den Sprungturm diesmal nicht wieder über die Leiter verließ, und auf einmal – Günter hatte noch mal angefangen zu singen, »Heartbreak Hotel« hauchte er mit geschlossenen Augen ganz in sich versunken in die Nacht – stand ich, ohne eigentlich zu wissen, wie ich da hingekommen war, an der Kante des Zehners. Ich schaute nach unten auf die glitzernde Wasseroberfläche, und dann kippte ich auch schon vornüber.
Während ich flog, hörte ich Günter von oben brüllen – »Torsteeeeeeeeeen! Pass auuuuuuuu…« –, und es dauerte so lange, dass ich zwischendurch, während ich mich überschlug, nicht wusste, ob ich jemals unten ankommen würde. Irgendwo, vermutlich zwischen dem Fünfer und dem Dreier, war ich mir sicher, dass ich diesen Sprung
niemals würde überleben können. Aber dann zog ich im letzten Moment die Beine an, machte mich ganz klein und tauchte so ins Wasser ein, mit dem lautesten Knall, den ich jemals gehört hatte. Weil er nicht irgendwo außerhalb von mir dröhnte, sondern mich ganz umschloss, sodass ich selbst ein Teil dieses Knalls wurde. Mein Kopf schlug nach hinten, und dann wurde mir für eine Weile schwarz vor Augen. Das Tauchen dauerte viel länger als das Fliegen, wahnsinnig langsam war jetzt plötzlich alles, der Suff und die Müdigkeit waren weg. Ich schrie und schluckte viel Wasser, als ich Luft holen wollte. Der Kratzer an meinem Bein brannte im Chlorwasser. Aber schließlich wurde alles ganz ruhig und leicht, ich sank zum Boden des Beckens und schaute an die Oberfläche, sah den Schatten von Elvis da oben vor den Scheinwerfern zappeln. Zum ersten Mal, seit ich aus dem Krankenhaus rausgelaufen war, merkte ich, wie groß diese Traurigkeit wirklich war und dass sie vielleicht für immer bleiben würde.
In diesem Moment wurde mir ganz klar, dass ich nie wieder ein Wort sprechen würde, weil das ganze Gequatsche daran nichts ändern würde.
Und dass ich einfach nicht wusste, wie ich weiterleben sollte, ohne meinen besten Freund.