»Nackt stehe ich da. Dorsday reißt die Augen auf. Jetzt endlich glaubt er es. Der Filou steht auf. Seine Augen leuchten.« (Schnitzler: Fräulein Else)
Elisabeth Dorfer musste noch ihr Kostüm für den Schnitzler-Abend vom Kostümverleih abholen. Sie wollte sich beeilen, denn am Abend hieß es für die Lateinschularbeit am Anfang der nächsten Woche lernen. Latein war Elisabeths große Schwäche. Eine negative Schularbeit konnte schlimme Folgen haben.
Vor dem Schultor sah sie Dolores Wilczek stehen. Beide waren schon längere Zeit nicht gut aufeinander zu sprechen. Offenbar hatte ihr Dolores nicht verziehen, dass sie ihr zu Beginn des Jahres Oliver Christ ausgespannt hatte. Dabei war ›ausgespannt‹ nicht das passende Wort. Oliver hatte sich einfach in sie verliebt. Hätte sie ihn abweisen und damit auf die vielen schönen heimlichen Stunden mit ihm verzichten sollen, nur damit eine Kollegin aus der Nachbarklasse nicht beleidigt war? Nein und nochmals nein!
Elisabeth machte sich daran, wortlos und in großem Bogen an Dolores vorbeizugehen. Doch da redete Dolores sie an: »Elisabeth, hast du einen Augenblick Zeit?«
Widerwillig blieb sie stehen. »Was willst du? Ich muss ins Kostümhaus.«
»Ich möchte kurz mit dir wegen Oliver reden. Ich glaube, es ist notwendig, damit es keine Missverständnisse gibt.«
»Welche Missverständnisse? Von mir aus ist alles klar. Oliver und ich gehen miteinander. Das ist einfach so. Ich kann nichts dafür, dass er sich letztendlich für mich entschieden hat«, erklärte Elisabeth schroff.
»Glaubst du denn, ich bin böse?« Das Gesicht von Dolores zeigte den Anflug eines Lächelns.
»Was soll ich sonst glauben? Kannst du dich denn nicht mehr an die reizenden Worte erinnern, die du mir damals entgegengeschleudert hast? Dass du mir am liebsten die Augen auskratzen würdest? Du hast noch nie verlieren können.«
»Komm, reg dich ab. Das war damals. Natürlich war ich sauer. Aber so etwas hält doch nicht ewig an, oder? Wenn Oliver glaubt, dass er mit dir glücklicher wird, akzeptiere ich das selbstverständlich.«
»Das musst du auch!«
»Sei nicht so stur, Elisabeth! Es zahlt sich doch nicht aus, dass wir uns wegen einer solchen Geschichte böse sind.«
Elisabeth Dorfer überlegte kurz, was sie von dem Friedensangebot halten sollte. »Glaubst du wirklich, dass wir auf einmal Freundinnen werden?«, fragte sie. »Das waren wir nämlich nie.«
»Spinnefeind ist auch keine Lösung.«
»Ist schon gut. Jetzt muss ich aber rasch ins Kostümhaus.«
»Warte«, hielt Dolores sie zurück. »Ich hab doch auch Lateinschularbeit am Montag. Du weißt ja, dass beide Klassen dieselbe Angabe bekommen, weil der Rössler und die Schmitz das Thema gemeinsam erstellt haben. Und nun rate einmal, was ich weiß.«
Elisabeth Dorfer wurde ungeduldig. »Na was?«
»Ich weiß, welche Stelle zum Übersetzen kommt.«
Jetzt war Elisabeth ganz Ohr. Sie durfte die Schularbeit nicht verhauen, sonst standen garantiert Probleme ins Haus, die bis zu einem ›Nicht genügend‹ im Zeugnis führen konnten. »Woher weißt du …?«, erkundigte sie sich mit einem Mal begierig.
»Du kennst doch den Rössler«, machte Dolores eine abfällige Handbewegung. »Er ist immer so zerstreut. Vorgestern hat er doch tatsächlich ein Blatt mit der Angabe neben den Übungsblättern liegen gehabt. Ich habe es zufällig gesehen, weil er mich zum Austeilen der Übung bestimmt hat. Es war etwas von Livius, Livius II 13. Er hat mich gleich weggestampert und dabei einen roten Kopf bekommen. Da habe ich gewusst, dass es wirklich die Schularbeitsangabe ist.«
»Ja und?« Elisabeth hing jetzt förmlich an Dolores’ Lippen.
»Ich habe mir die Bezeichnung der Stelle und die Anfangsworte gemerkt, ›Ergo ita honorata virtute‹, oder so ähnlich. Meine Mutter kennt einen ehemaligen Lateinprofessor, Herrn Habeler, dem haben wir alles telefonisch durchgegeben. Er hat die Stelle tatsächlich gefunden, für mich übersetzt, und den Inhalt für die Verständnisfragen erklärt.«
»Und du gibst die Übersetzung jetzt an alle weiter?«
»Bist du wahnsinnig?« Dolores bekam einen gespielten Lachanfall. »Das fällt doch auf, wenn plötzlich jeder dasselbe hat, und wenn es noch dazu richtig ist. Außerdem gibt es immer einen, der den Mund nicht halten kann. Dann sind wir aufgeflogen, und unser ganzer schöner Plan ist beim Teufel. Nein, ich dachte, das bleibt unter uns, und wir zwei …«
»Wir zwei?« Elisabeth Dorfer strahlte einen Augenblick vor Glück.
»Ja! Wir teilen uns das Geheimnis! Sozusagen als kleine Versöhnungsgeste. Du kannst es ja brauchen, habe ich gehört, oder?«
»Hast du die Übersetzung und das andere Zeug da?«
»Nein, so einfach ist es natürlich nicht«, erläuterte Dolores. »Ich habe die Lösung selbst noch nicht. Der Professor hat gesagt, man muss sie bei ihm abholen. Er hat kein Internet, oder was weiß ich, was der Grund ist, auf jeden Fall ist er sehr altmodisch. Aber wenn du schon zum Kostümhaus gehst, könntest du die Sachen eigentlich gleich selber holen und mir morgen früh in die Schule bringen. Es ist nicht weit, fast daneben. Ich gebe dir die Adresse. Das wäre ein netter Zug von dir.«
Elisabeth sah nicht glücklich drein. »Geht das nicht anders?«
»Also hör mal! Da ist doch nichts dabei. Maul bitte nicht, sondern freu dich, dass wir so ein Glück haben. Ein bisschen was solltest du schon auch dafür tun.«
»Und wenn es gar nicht die richtige Stelle ist? Wenn etwas ganz anderes kommt? Dann bin ich die Blöde«, suchte Elisabeth immer noch nach dem Haken an der Sache.
»Weißt du was? Du kannst es ruhig bleiben lassen, wenn du mir nicht vertraust«, wurde Dolores ungeduldig. »Ich kann mir das auch allein organisieren. Ich will dir bloß helfen. Also: Willst du, oder willst du nicht?«
Elisabeth hatte zwar weiterhin große Bedenken, aber die Versuchung war zu groß. Ihr bot sich eine wirklich einmalige Chance, ihre Lateinprobleme mit einem Schlag loszuwerden. Deshalb ließ sie sich von Dolores die Adresse des Lateinprofessors geben, bedankte sich bei ihr und beeilte sich dann, ins Kostümhaus zu kommen.
*
Elisabeth Dorfer hatte ein flaues Gefühl im Magen. Plötzlich kam sie sich sehr verlassen vor. Obwohl sie praktisch schon erwachsen war, hätte sie in diesen Augenblicken gern jemanden an ihrer Seite gehabt. Aber Oliver Christ musste in seinem Geschäft arbeiten. Außerdem hatte er noch einen Termin und hatte sie deswegen gebeten, ihn, wenn überhaupt, erst später am Abend anzurufen. Es war komisch, sogar einer ihrer beiden Elternteile wäre ihr jetzt als Begleitung recht gewesen. Oder ein aufdringlicher Mitschüler wie der Kern Pepi.
Zuerst hatte sie diesen Mann bemerkt. Sie kannte ihn, er war ihr schon vorgestern aufgefallen. Es beunruhigte sie, dass er an zwei verschiedenen Orten, damals in der Nähe ihrer Wohnung und vorhin in der Leopoldauer Straße, in einigem Abstand zu ihr aufgetaucht war. Der Mann hatte leicht angegrautes Haar und trug eine Sonnenbrille. Irgendwie fühlte sie sich von ihm verfolgt. Sie musste wieder an die schweinischen Briefe denken. Der Mann sah genauso aus wie jemand, der einen solchen Brief schreiben würde.
Im Kostümverleih hatte sie dann gebeten, sie beim Hintereingang hinauszulassen. Das hatte geholfen. Der Mann war nicht mehr da. Dennoch klopfte Elisabeth Dorfer das Herz bis zum Hals. Jetzt stand sie vor dem Haus in der Mengergasse, in dem der Professor wohnte. Ein altes Haus. So etwas mochte sie überhaupt nicht. Drinnen roch es meist nach abgestandener Luft und nach Menschen, die nicht mehr dort lebten, weil sie schon gestorben waren. Und man hatte immer das Gefühl, dass jemand oder etwas aus einer finsteren Ecke hervorkommen und sich einem in den Weg stellen könnte.
Elisabeth zögerte kurz, weil bei Nummer 12 kein Name auf der Gegensprechanlage stand, läutete schließlich aber doch an. Sie hörte eine kaum verständliche Stimme, dann wurde ihr per Knopfdruck die Tür geöffnet. Sie musste hinauf in den dritten Stock, ohne Lift. Im ganzen Haus war es mucksmäuschenstill, nur das Echo der eigenen Schritte hallte im Stiegenhaus nach. Elisabeth spürte ihre Beine, als sie die Türklingel betätigte.
»Professor Habeler?«, fragte sie kaum hörbar den Mann, der ihr aufmachte.
»Ja«, klang es misstrauisch durch den Spalt. »Sind Sie das junge Fräulein?«
»Ich heiße Elisabeth Dorfer«, stellte sie sich immer noch ganz leise vor. »Ich komme wegen der Lateinschularbeit.«
Der Professor musste wirklich schon lang in Pension sein. Er war ein kleines Männchen mit einem weißen Haarkranz um sein sonst kahlköpfiges Haupt. Eine altmodische Brille saß sehr weit unten auf seiner Nase. Der Anflug eines Lächelns spielte jetzt um seinen Mund. »Kommen Sie nur herein«, begrüßte er Elisabeth mit einer hohen Fistelstimme. »Martha, das junge Fräulein ist da«, rief er dann nach hinten.
Eine dickliche Frau mit ausladender Oberweite, die kaum größer war als der Mann, betrat den Vorraum. »Das ist meine Schwester Martha«, stellte der Professor sie vor.
Elisabeth interessierte das alles nicht. »Haben Sie die Übersetzung?«, erkundigte sie sich.
»Möchten Sie etwas trinken?«, mischte Martha sich ein. »Einen Kaffee? Oder einen Tee? Oder vielleicht einen Kakao?«
»Nein danke«, lehnte Elisabeth ab. »Eigentlich bin ich nur wegen der Übersetzung gekommen.«
Der Professor schaute sie sich genau an. Dabei rutschte die Brille noch weiter auf seiner Nase hinunter. »Die Übersetzung?«, dachte er nach. »Ach so! Aha! Gehen Sie doch bitte zunächst einmal ins Wohnzimmer.«
Das Wohnzimmer war karg eingerichtet. Ein Tisch mit vier hölzernen Sesseln herum, ein Kasten, eine Kommode, auf der ein alter Radioapparat stand. Ein kleiner Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Papier häuften. Links hinten im Eck, beinahe unsichtbar, ein kleiner Fernseher. Ein alter Holzboden und ein wahrscheinlich ebenso alter Teppich. Zwei dunkle Vorhänge, die Habeler mit zwei ruckartigen Bewegungen zuzog.
»Was tun Sie da?«, fragte Elisabeth verwirrt. Es war noch nicht so spät, und draußen schien die Abendsonne.
»Ich schließe die Vorhänge. Es braucht ja nicht jeder hereinzuschauen«, erklärte Habeler, mit dem Rücken zu ihr stehend. »Ist es Ihnen recht, wenn wir dann beginnen?«
»Sie brauchen mir bloß die Übersetzung und die Erklärungen dazu zu geben. Es ist diese Liviusstelle. Dolores hat sie Ihnen geschickt, Dolores Wilczek. Wir brauchen sie für die Schularbeit nächste Woche.« Elisabeth redete jetzt laut und deutlich. Sie hatte nicht den Eindruck, dass Habeler mitbekam, was sie wollte.
»Sie wollen etwas für die Schularbeit in Latein? Ein unerlaubtes Hilfsmittel? Sie haben vor, Ihre Lehrer zu betrügen? Das höre ich aber gar nicht gern.« Habelers Fistelstimme klang jetzt gereizt. »Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, und schauen wir, dass wir mit der anderen Sache anfangen. Ich denke, das ist auch in Ihrem Sinn.« Er ging hinter den Schreibtisch, stützte sich mit beiden Händen auf den Rand und bemühte sich wieder um etwas mehr Freundlichkeit. »Wenn Sie jetzt bitte so liebenswürdig wären, sich hier gegenüber von mir aufzustellen und sich auszuziehen.«
»Ich soll mich … was?« Elisabeth fuhr sich vor Schreck mit der Hand an den Hals.
»Sie sollen das tun, weshalb ich Ihren Vater gebeten habe, Sie herzuschicken: sich ausziehen, damit ich Sie nackt betrachten kann. Keine Angst, ich tue Ihnen nichts, ich möchte Sie mir nur in aller Ruhe anschauen, und zwar zehn Minuten lang.« Er drehte die Schreibtischlampe auf und richtete den Lichtstrahl direkt auf Elisabeths Körper.
»Mein Vater hat mich nicht zu Ihnen geschickt. Das war Dolores, ich habe es Ihnen schon gesagt.« Elisabeth Dorfer war verwirrt. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie von allem halten sollte.
»Ich habe ihm aber Geld gegeben, Fräulein Dorfer. Nicht einmal so wenig Geld. Und jetzt erwarte ich, dass Sie etwas dafür tun und sich entkleiden, und zwar vollständig bitte! Irgendeinen kunstvollen Tanz können Sie sich dabei aber sparen, darauf lege ich keinen Wert.«
»Hören Sie, wenn Sie die Übersetzung nicht für mich haben, dann … dann gehe ich jetzt. Ich denke, das ist alles ein Missverständnis. Also … auf Wiedersehen.« Elisabeth drehte sich um. Raus hier, nur schnell raus, war ihr einziger Gedanke.
»Sie bleiben!« Habelers Ton war jetzt der Befehlston des ehemaligen Lehrers. »Sie können hier nicht weg. Ich habe bezahlt! Ich will etwas sehen! Martha, du hast doch die Tür zugesperrt, oder?«
»Ja natürlich«, kam es von irgendwo draußen.
Habeler wurde unruhig: »Ich mag es zwar, wenn sich Mädchen ein bisschen zieren, aber jetzt ist es schön langsam genug, gell? Stellen Sie sich bitte schön in das Licht und ziehen Sie sich aus.«
»Joachim, das Mädchen sieht ein bisschen müde aus. Soll ich ihr nicht doch noch vorher einen Kakao machen?«, schlug Martha vor, die den Kopf zur Tür hereinhielt.
»Nichts da! Es muss flott gehen. Ich halte es ja vor Aufregung schon nicht mehr aus. Außerdem beharre ich auf meinem Recht. Wer zahlt, schafft an.« Habeler bedeutete seiner Schwester, zu verschwinden.
Die Sache hing mit den unanständigen Briefen zusammen, so viel hatte Elisabeth mittlerweile verstanden, aber wie, das war ihr ein Rätsel. Dafür packte sie der Ekel und trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie ertrug den greisen Lustmolch mit seiner hohen Fistelstimme einfach nicht mehr. Sie trat aus dem Lichtkegel und flehte: »Bitte lassen Sie mich gehen!«
Habeler machte zwei Schritte auf sie zu. »Das kommt gar nicht infrage«, zischte er. »Sie haben mich 250 Euro gekostet. Ich sehe schon, Sie nützen meine Situation nur aus. Es ist schwer für einen alten Mann, sich ein Mädchen quasi in natura rundum so anzuschauen, wie es Gott geschaffen hat. Dabei haben wir dasselbe Recht darauf wie ein junger Bursch. Aber da wenden sich alle ab und denken sich, was will der alte Trottel? Was, wenn ich ein Künstler wäre? Bei einem Maler reißen sich junge Frauen nur so darum, sich nackt in eine laszive Pose zu werfen. Warum nicht bei mir? Wo liegt da der Unterschied? Also wenn Sie schon Schwierigkeiten haben, dann stellen Sie sich doch einfach vor, ich bin Maler, und hören Sie endlich auf mit dem Getue!«
Er war in beängstigende Nähe zu ihr getreten. Elisabeth fühlte Panik in sich aufsteigen. »Ich schreie gleich ganz laut um Hilfe«, warnte sie ihn.
»Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nicht anrühre!«
»Trotzdem schreie ich!«
Habeler drehte jetzt seinen Radioapparat auf. Im Nu erfüllte ein orchestrales Klanggewitter die Stube, laut und unerbittlich. Es klang nach einer Symphonie von Tschaikowsky. Habeler gefiel es offenbar. Seine Augen blitzten. »So schreien Sie doch«, krächzte er triumphierend. »Meine Nachbarn werden Sie nicht hören, wenn sie überhaupt da sind. Ich mag laute Musik. Ich höre nämlich schon ein bisschen schlecht, wissen Sie? Die Nachbarn sind das gewohnt und beschweren sich nicht, wenn ich beizeiten wieder damit aufhöre. Also los, schreien Sie! Aber ich warne Sie: Es wird Sie nur ermüden.«
Die Musik spornte Habeler zusätzlich an. Er lauerte auf sein Opfer wie ein aufrecht gehender gefräßiger Käfer. Elisabeth Dorfer stolperte nach hinten, taumelte gegen den Kasten. Sie spürte mit einem Mal eine große Leere in sich, was auch daher kommen mochte, dass sie in den letzten Stunden nichts gegessen und kaum etwas getrunken hatte. Sie hätte sich gegen den kleinen, alten Mann vermutlich wehren können, aber sie tat nichts dergleichen. Sie stand nur an den Kasten gelehnt da und spürte, wie ihre Kräfte schwanden. Das Letzte, was sie bewusst wahrnahm, war eine verzerrte Grimasse, die ihr aus dem Mund schlechten Atem entgegenspie. Dann geschah mit ihr etwas, das sie vielleicht herbeigesehnt hatte, um dieser unerträglichen Situation zu entfliehen: Sie fiel in Ohnmacht.
*
Elisabeth Dorfer versuchte, sich zu orientieren. Sie lag im Bett eines kleinen nüchtern eingerichteten Zimmers, das nicht ihr Zimmer war. Die Mutter, die neben dem Bett saß, merkte wohl die unruhigen Bewegungen des erwachenden Körpers und das neugierige Suchen der Augen. »Du bist im Krankenhaus«, sagte sie. »Du musst noch ein bisschen hierbleiben. Deine Nerven haben viel gelitten.« Dann streichelte sie Elisabeth, die von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt wurde, als die Erinnerung in ihr hochstieg, zärtlich. »Es ist schon gut, es kann dir nichts mehr geschehen«, versuchte sie, ihre Tochter zu beruhigen.
»Hat er …? Ich meine, bin ich …?«, fragte Elisabeth stockend.
»Nein«, versicherte ihr die Mutter sofort. »Es ist nichts passiert. Niemand hat dir Gewalt angetan. Gott sei Dank haben sich ein paar Herren Sorgen um dich gemacht: Professor Korber vom Gymnasium, ein Polizeiinspektor und ein Oberkellner. Sie haben dich gefunden und befreit. Es war ein ganz übler Plan, aber jetzt ist alles vorbei.«
»Dann hat Papa also nichts mit der Sache zu tun?«
Wieder war es die vertraute, umsorgende Stimme der Mutter, die sie besänftigte: »Nein, das war alles gelogen. Von hinten bis vorne erstunken und erlogen.«
»Es war also Dolores!« In dem Augenblick, wo es aus ihr herausplatzte, wusste Elisabeth, dass ihre Mutter ihr Geheimnis mittlerweile kannte. Sie hatte ihr nie etwas von Oliver Christ erzählt. Sie würde demnächst mit ihr über ihn reden müssen. Aber das war momentan unwichtig. »Ja, es war Dolores. Sie hat es aus Eifersucht getan«, bestätigte die Mutter nur.
»Aber wieso …?« In einem neuen Ausbruch von Tränen wurde die Frage erstickt. Elisabeth Dorfer zuckte mit den Achseln zum Zeichen, dass ihr die Zusammenhänge völlig unklar waren.
»Ein andermal, nicht jetzt. Du musst schlafen. Der Schlaf macht dich wieder ganz gesund«, redete die Mutter zärtlich auf sie ein. Sie streichelte dabei nach wie vor behutsam ihre Hand.
Elisabeth wollte noch etwas sagen. Sie wollte wahrscheinlich noch sehr viel sagen, jetzt, da ihr immer deutlicher bewusst wurde, dass alles vorüber war. Doch vielleicht hatte die Mutter recht, vielleicht war es ein andermal besser. Sie war ohnehin schon wieder müde. Ein bisschen wunderte sie sich noch darüber, dass ein Oberkellner an ihrer Rettung beteiligt gewesen war, dann fiel sie schon in einen tiefen und ruhigen Schlaf.
*
Seit dem Wochenende in der Pension Vogelsang geht mir so ziemlich alles daneben. Obwohl es ein sehr schönes Wochenende war. Das lass ich mir nicht nehmen, trotz dem Tod von der Klara. Im Grunde war alles heiter und ausgelassen, so wie es sich gehört. Ich hab getrunken, ich hab die Weiber gepackt, eine nach der andern, und an den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern. Das ist jetzt sozusagen mein Pech, das wird schamlos ausgenützt – von meinen ehemaligen Mitschülern, und zuletzt vom Leopold auch.
Das hätt ich mir nämlich gleich denken können, dass er mir nicht hilft, sondern mich für seine Zwecke missbraucht. Speist mich mit ein paar Allgemeinplätzen ab, und lässt mich dann gegen drei Ahnungslose Karten spielen … Also wenn mir einer sagt, man braucht sechs Farben für den Farbensolo, dann hab ich den schon g’fressen … Das ist gegen jede Regel und gegen den guten Geschmack. Wir sind ja nicht bei ›Wünsch dir was‹. Das soll die legendäre Tarockpartie sein? Das sind Dilettanten, die nur einen großen Spruch führen und die Leut’ ausnehmen … Einen Schnaps haben sie immerhin ausgegeben, das war aber auch schon alles. Kein Wunder, dass man sich da ein bisschen aufregt … Randaliert soll ich haben? So ein Blödsinn! Die glauben, weil ich in Schwierigkeiten bin, können s’ hintreten auch noch auf mich. Am besten, ich vergess das ganz schnell und zieh meine Lehren daraus …
Da ist aber jetzt noch was: die Sache mit meiner Tochter, der Ursula … Eins muss ich sagen, außer dass sie fesch ist, ist sie wirklich der einzige Mensch, der noch zu mir hält … Ich les ihr auch jeden Wunsch von den Augen ab … Wie sie gekommen ist und g’sagt hat, Papa, ich brauch was von dir, es ist nur eine Kleinigkeit, aber für einen guten Zweck, und wie sie mich dazu noch so lieb ang’schaut hat dabei, da hab ich ihr die Bitte nicht abschlagen können. Welcher Vater bringt so etwas schon übers Herz? … Es war ja nur, weil ich immer noch gut in der Rechtschreibung bin. Schon bei der Post haben sie mich damals wegen meiner guten Rechtschreibkenntnisse genommen, denn wenn einer weiß, wie man eine Adresse richtig schreibt, dann kann er sie auch entziffern, wenn sie falsch geschrieben ist … Heutzutag kann ja keiner mehr richtig schreiben. Ein Hauptschüler hat früher sicher weniger Fehler g’macht als die heute im Gymnasium. Wir brauchen das nicht mehr so, sagt die Ursula. Wir haben den Computer und das Internet. Die leben ja alle schon in dieser virtuellen Welt, und da brauchen sie’s wirklich nicht, glaube ich … Aber mich haben s’ braucht. Jemanden, der einen Brief richtig schreiben kann und in einem guten Stil. Stil, das liegt mir ja auch. Überhaupt, weil es ein pikanter Brief war. Die Ursula hat nämlich eine Freundin in der Klasse, der ist von einer anderen übel mitgespielt worden. Die wollten s’ ein bisserl eintunken. Mir auch recht, hab ich mir gedacht und den Brief gleich bei mir auf dem Postamt aufgegeben, wie ich ihn g’schrieben hab.
Nach ein paar Tagen ist die Ursula dann noch einmal gekommen, und ich hab noch so einen Brief geschrieben. Nicht direkt anstößig, wie sie mir jetzt vorwerfen, aber pikant. Also, mir hat er g’falln! Es hat allerdings nicht viel genützt. Diese Mitschülerin – Elisabeth hat sie geheißen – hätt sich schrecken sollen, aber sie hat sich nicht geschreckt. Da hat die Ursula noch was von mir wollen. Mein Gott, was tut man nicht alles für seine Tochter. Das war grad, wie meine Frau nix mehr mit mir g’redet hat.
Zu so einem alten Heini haben s’ mich g’schickt, sie und ihre Freundin, die Dolores, einem pensionierten Lehrer. Angeblich war der irrsinnig geil auf junge Mädchen. Er soll die Dolores schon einmal während einer Nachhilfestunde unsittlich berührt haben. Daran hat sie sich erinnert, und da ist ihr die Idee gekommen. Also, ich mach’s kurz. Ich bin dorthin gegangen und hab g’sagt, ich bin der Vater von der Elisabeth, und ich würde meine Tochter einmal vorbeischicken, und wenn er was zahlt, dann darf er sie sich in Ruhe anschauen, so wie sie halt ausschaut ohne G’wand, und sie ist ganz natürlich, und so hat sie noch keiner gesehen. Der Alte war sofort Feuer und Flamme. Der hat keinen Verdacht geschöpft, der hat keine Fragen gestellt, der hat gleich das Geld geholt, 250 Euro … War halt schon leicht senil, der alte Depp. Nicht dement, aber senil, das ist ein kleiner Unterschied … Ich mein, alt werden wir ja alle. Ob ich dann auch einmal so deppert bin? … Ist ja egal, ich hab die 250 Euro eingesteckt, und damit war die Sache für mich erledigt.
Jetzt soll ich an allem schuld sein. Angeblich hat die Elisabeth einen Nervenzusammenbruch erlitten, so eine Art Trauma. Was kann da ich dafür? Zart besaitet darf man bei dem Herrn halt nicht sein, hat die Ursula g’sagt. Ihre Freundin, die Dolores, hat auch am Anfang den Fehler g’macht, dass sie gschamig war. Das hat der alte Heini nur als Einladung aufgefasst. Da hat sie ihn angeplärrt: »Wenn Sie mich angreifen, wird Ihnen gleich ein wichtiges Organ für den Stoffwechsel fehlen, das beiß ich Ihnen dann nämlich ab!« Das hat er verstanden … Normalerweise wissen sich die Madln schon zu wehren. Er ist ja wirklich nicht mehr der Jüngste …
Aber natürlich bleibt wieder alles an mir hängen. Wenn ich Pech hab, steh ich heuer zweimal vor Gericht: einmal beim Scheidungsrichter und einmal bei dem anderen, dem normalen Richter halt … Hoffentlich begehrt die Elfriede nicht weiter auf, sondern lässt noch mit sich reden. Schön wär’s! … Ob mich die bei der Post noch behalten? Ich glaub schon. Dort hab ich mir ja nie was zuschulden kommen lassen …
Wenigstens bei dem Mord schaut es so aus, als ob bald eine Ruh wär. Der Pensionsbesitzer soll’s g’wesen sein. Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist es, nicht viel, aber immerhin. Das und meine Ursula. Sie ist ja so ein liebes Töchterl. Ob ich bereue, dass ich ihr g’holfen hab? Nie im Leben …