»Sie sehen mich an, Else, als wenn ich verrückt wäre. Ich bin es vielleicht ein wenig, denn es geht ein Zauber von Ihnen aus, Else, den Sie selbst wohl nicht ahnen.« (Schnitzler: Fräulein Else)
Die Nachmittagssonne schien durch das Fenster der 7. Klasse A des Floridsdorfer Gymnasiums. Die Schüler und Schülerinnen gruppierten sich um Thomas Korber, um ihre Ideen zu der szenischen Aufführung des Werks Arthur Schnitzlers zu besprechen. Korber hatte sich mit Margarethe Vollnhofer geeinigt, die Klasse in zwei Gruppen zu teilen, damit effizienter gearbeitet werden konnte. Er war froh darüber, diesmal keinen Anstandswauwau an seiner Seite zu haben. »Nun, was ist euch zum Reigen eingefallen?«, fragte er gespannt. »Soweit ich mich erinnere, wolltet ihr in erster Linie einen künstlerischen Ausdruck für das Beziehungskontinuum finden.«
»Wir haben uns da was überlegt«, erklärte Robert Schneider, Sprecher des damit befassten Viererteams. »Lilo, Johnny, Gitte und ich, wir stellen uns von links nach rechts auf der Bühne auf. Lilo beginnt, sie ist in der ersten Szene die Dirne, Johnny der Soldat. Den Text haben wir ein bisschen abgeändert und auf ein paar Sätze gekürzt. Es soll ja nicht zu lang werden, und uns kommt es in erster Linie auf die Übergänge an. Lilo sagt also – stell dich bitte mit Johnny auf und sprich deinen Text, Lilo!«
Lilo hängte sich ein Schild ›Dirne‹, Johnny ein Schild ›Soldat‹ um. Beide positionierten sich vor Korber und nahmen einander an der Hand. Schließlich begann Lilo:
»So pass doch auf! Wenn’s d’ ausrutschst, liegst in der Donau. Dabei möchte ich dich so zum Geliebten. Halt dich fest an bei mir.«
Johnny umarmte Lilo, und beide gaben sich einen Zungenkuss. Dann drehten sie sich wieder zum Publikum. »Wenigstens ein Sechserl für’n Hausmeister gib mir dafür«, kam Lilos Text.
»Vergiss es, ich bin doch nicht dein Weh«, antwortete Johnny schroff. Er drehte sich zu Gitte. Sie stand rechts neben ihm und hatte das Schild ›Stubenmädchen‹ umgehängt. Folgender Dialog entwickelte sich zwischen ihr und Johnny, der, immer noch als Soldat, anfing:
»Fräulein Marie, sagen wir uns du.«
»Ich weiß nicht, wir kennen uns noch nicht so gut, Herr Franz.«
»Sag’n S’ Franz, Fräulein Marie.«
»So sein S’ doch nicht so keck. Lassen S’ mich los. Wenn da wer kommt! Was machen S’ denn da?«
Wie als Antwort auf diese Frage umarmte Johnny jetzt Gitte und bedachte sie mit einem leidenschaftlichen Zungenkuss.
»Kinder, Kinder, was macht ihr denn da?«, unterbrach Korber die Szene.
»Normalerweise stehe ich nun neben Gitte als ›junger Herr‹, und Lilo hat rechts neben mich mit dem Schild ›junge Frau‹ gewechselt. So reihen wir alle zehn Dialoge aus dem ›Reigen‹ gekürzt nebeneinander und enden am rechten Bühnenrand wieder mit der Dirne, die aus technischen Gründen diesmal von Gitte gespielt wird«, erklärte Robert bemüht fachmännisch.
»Das ist ja alles sehr schön inszeniert«, nickte Korber beifällig. »Aber diese … diese Küsse zwischendurch. Müssen die wirklich sein?«
Robert schaute etwas verständnislos drein. »Entschuldigen Sie, Herr Professor. Das sind die Übergänge, die den Geschlechtsverkehr symbolisieren sollen. Ich habe Ihnen vorhin gesagt, dass uns diese Übergänge sehr wichtig sind. Es handelt sich schließlich um den ›Reigen‹, ein für damalige Verhältnisse hocherotisches Theaterstück. Es hat für einen handfesten Skandal gesorgt und ist sogar verboten worden. Das muss doch irgendwie zum Ausdruck kommen. Ich denke, wir sollten uns hier nicht mit einer lahmarschigen Version begnügen.«
Korber wurde ernst. »Lieber Robert, bedenke bitte, dass das eine Schulaufführung ist. Ich hatte vorige Woche ein Gespräch mit Direktor Marksteiner. Er hat mich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er nicht wünscht, dass wir den schlüpfrigen Charakter einzelner Szenen in den Mittelpunkt stellen. Und wie Frau Professor Vollnhofer auf so etwas reagieren wird, könnt ihr euch ja denken. Ich möchte wegen solcher unausgereiften Überlegungen nicht das ganze Projekt aufs Spiel setzen.«
»Herrje, die Frau Professor Vollkoffer! Unser Prüdilein«, maunzte Gitte.
»Wenn’s nach der geht, dürfen nicht einmal Mädchen und Burschen gemeinsam auf der Bühne stehen«, pflichtete ihr Lilo bei.
»Diese Frau turnt ja überhaupt niemanden an«, bemerkte Johnny. »Deshalb ist sie wahrscheinlich so.«
»Ein reines Kontrollorgan, wenn ihr mich fragt«, sagte Robert.
»Lassen wir einmal Schule und Lehrer beiseite. Was ist mit euren Eltern und Verwandten, die zuschauen kommen?«, fragte Korber. »Habt ihr denen gegenüber überhaupt keine Hemmungen?«
»Die sollen ruhig mal ein bisschen schockiert sein«, befand Lilo.
»Vielleicht erinnern sie sich daran, wie es war, als sie ihre ersten Zärtlichkeiten ausgetauscht haben«, überlegte Johnny. »Viel zeitlicher Abstand zu Schnitzler kann da sowieso nicht gewesen sein.«
»Ich glaube, unsere Eltern nehmen das wesentlich positiver auf als die Vollnhofer oder der Direktor«, gab Robert zu bedenken.
»Und euch geht es auch gut dabei?«, versuchte Korber, sich Klarheit zu verschaffen. »Ich meine, Johnny küsst Lilo leidenschaftlich, dann küsst er Gitte leidenschaftlich …«
»Selbstverständlich küsst auch Robert Lilo und Gitte leidenschaftlich«, meldete sich da gleich wieder Robert Schneider zu Wort. »So weit sind wir nur nicht gekommen, weil Sie uns unterbrochen haben.«
»Ich gehe jetzt mit Gitte und war vorher mit Lilo zusammen«, erklärte Johnny.
»Und bei mir ist es umgekehrt«, fügte Robert hinzu. »Ich habe von Gitte zu Lilo gewechselt. Kleiner Partnertausch sozusagen.«
Gitte lächelte: »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Herr Professor. Wir kennen uns alle sehr gut und haben das vorher abgesprochen.«
Korber fiel es schwer, sich in die unkomplizierte und freizügige Haltung seiner Schüler hineinzuversetzen. Da gab es offenbar weder Eifersucht noch Besitzgier. Andererseits drohte die Hemmschwelle auf ein bedenkliches Maß zu sinken. Wuchs da eine Generation heran, die von Liebe und Treue nicht mehr viel hielt und sich dafür auffällig in Szene setzte? Oder taten die jungen Leute einfach genau das, was er sich selbst in letzter Zeit heimlich wünschte, nämlich den Zwängen und Verpflichtungen einer partnerschaftlichen Verbindung so weit wie möglich auszuweichen? Irgendwie ist es bei mir anders, dachte er. Ist das bloß so, weil ich älter bin? Dann fiel ihm wieder ein, dass Geli sich noch nicht bei ihm gerührt hatte.
»Trotzdem denke ich, wir sollten uns überlegen, wie wir den Teil der Aufführung ohne großes Geschmuse … also, ihr wisst schon, was ich meine … wie wir ihn halbwegs sittsam für unsere Zwecke umsetzen können«, gab er zu bedenken.
Die vier Akteure wollten das nicht gelten lassen. Sie versuchten mit allen Mitteln, Korber umzustimmen. Man könne die Laszivität des Textes nicht einfach abwürgen, hieß es. Marksteiner und Vollnhofer hätten keine Ahnung von wirklicher Kunst und dürften schon deswegen nicht ernst genommen werden. Um nicht sofort eine Entscheidung treffen zu müssen, wechselte Korber zu einem anderen Beitrag, der Bearbeitung des ›Leutnant Gustl‹. Pepi Kern vermeldete dazu lethargisch, dass sein Partner für diese Szene, Erich Meisl, schon längere Zeit fehle und er deshalb dazu noch ziemlich planlos sei.
Korber unterließ es, sich über Pepi, der überall als großer Faulpelz galt, aufzuregen. Er wusste, dass man sich im entscheidenden Augenblick auf ihn verlassen konnte, und machte sich deshalb jetzt noch keine allzu großen Sorgen. Er beließ es bei einer kurzen Ermahnung, Pepi möge die Sache ein wenig ernster nehmen und im Falle der Krankheit seines Kollegen eben selbst die Initiative ergreifen. Schließlich spiele er ja auch den größeren Part, und Erich Meisl nur den Bäckermeister. Dann wandte er sich Elisabeth Dorfer zu.
Gemeinsam mit Robert Schneider, der den Herrn von Dorsday aus dem Off lesen würde, spulte sie ihre Szene herunter. Bei der pikanten Stelle, wo sich Else vor Dorsday entkleiden soll und sich anschließend umbringt, wurde alles selbstverständlich nur angedeutet. Abschließend kamen Lilo, Gitte und Johnny als Hotelgäste dazu.
Schließlich blickte Korber zufrieden auf die Uhr. Es war kurz vor dreiviertel vier. Eigentlich musste er froh sein, dass sich die Probenzeit aufgrund von Pepis mangelnder Vorbereitung ein wenig verkürzt hatte. Er würde es spielend schaffen, Sophie Kuril rechtzeitig beim Bahnhof Floridsdorf abzuholen. Auch die Schüler freuten sich, dass ihr langer Arbeitstag endlich aus war. Im Nu hatte sich die Klasse geleert – bis auf Elisabeth, die ihre Sachen umständlich zusammenpackte. Es sah so aus, als ob sie noch etwas von Korber wollte. »Haben Sie einen Augenblick Zeit, Herr Professor?«, fragte sie auch schon.
»Ich bin eigentlich im Gehen«, machte Korber sie aufmerksam.
»Ich habe wieder einen Brief bekommen«, kam Elisabeth deshalb sofort zur Sache.
»Was?« Korber war sofort ganz Ohr.
»Ich habe ihn vor unserer Probe im Postkasten gefunden, als ich einen Sprung zu Hause war. Ich habe ihn schnell an mich genommen, damit ihn meine Eltern nicht sehen. Sonst verbieten sie mir wirklich noch, bei der Aufführung mitzumachen.«
»Und Direktor Marksteiner? Warst du schon bei ihm?«
»Nein! Das würde auch nichts bringen. Der ist doch genauso übervorsichtig und würde unter Umständen sogar das ganze Projekt abblasen. Ich wollte zuerst mit Ihnen reden. Sie haben ja die Polizei eingeschaltet. Außerdem habe ich zu Ihnen das meiste Vertrauen.«
»Das ist schön! Du willst also nach wie vor weitermachen?«, erkundigte sich Korber.
»Natürlich, es ist ja irgendwie der Höhepunkt des Schuljahres«, antwortete Elisabeth schnell. »Obwohl … eine leichte Gänsehaut habe ich schon bekommen, als ich den Brief gelesen habe«, fügte sie dann einschränkend hinzu.
»Darf ich den Brief sehen?« Korber hatte Mühe, seine große Neugier zu verbergen.
»Natürlich!« Elisabeth überreichte ihm das offene Kuvert. »Sie können ihn behalten oder besser gleich Ihrem Freund, dem Polizisten, geben. Ich habe mir für alle Fälle eine Kopie gemacht.« Korber nahm das Blatt Papier heraus und überflog gespannt die Zeilen. Es war alles wie beim ersten Brief, Schriftart, Schriftgröße und Zeilenabstand. Er las:
»Liebe Elisabeth!
Die Tage vergehen und bringen den großen Augenblick näher an uns heran. Wenn du wüsstest, wie ich mich danach sehne, deinen jungen Körper so zu betrachten, wie ihn Gott erschaffen hat. Es wird ein Fest für meine Augen. Ich bin mir sicher, dass auch du dich noch lange an dieses Ereignis zurückerinnern wirst.
Du fragst dich vielleicht, warum mir unsere Begegnung so wichtig ist in einer Zeit, in der man nackte Mädchenkörper überall sehen und jederzeit im Internet abrufen kann. Aber fühlen, tasten, riechen, mit allen Sinnen erfassen – wie oft hat man schon die Gelegenheit dazu? Und wie sehr hat das Virtuelle und Allgemeine alles Persönliche verdrängt. Ich liebe das Persönliche. Darum freue ich mich schon sehr auf dich.
Dein dir noch unbekannter, glühender Verehrer.«
Wie schon am Freitag in Marksteiners Direktionskanzlei wunderte Korber sich über den Stil und die sprachliche Korrektheit des Schreibens. Einen Schüler als Verfasser des Schreibens konnte er deshalb wohl ausschließen. Aber welcher Erwachsene hatte ein Interesse daran, Elisabeth Dorfer auf diese Weise einen heillosen Schrecken einzujagen. Oder handelte es sich tatsächlich um einen Perversen, vor dem man sie mit allen Mitteln schützen musste?
Wenn es aber so war, worin bestanden die geeigneten Gegenmaßnahmen? War die Polizei etwa schon einen Schritt weiter?
»Glauben Sie, dass es gefährlich ist?«, fragte Elisabeth.
»Nein, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, antwortete Korber mechanisch, während er angestrengt nachdachte. »Leider gibt es Menschen, denen es Spaß macht, andere zu verunsichern und zu verängstigen. Aber den Kerl kriegen wir schon noch, verlass dich drauf.«
*
»Café Heller, guten Tag! Was ist Ihr Begehr?«
»Bist du es, Leopold?«
»Leopold am Apparat. Wer spricht bitte?«
»Emmerich Holub hier. Du hast sicher schon gehört oder gesehen, dass ich heute Abend mit … mit meinen Kollegen vom Wochenende im Kaffeehaus vorbeikomme.«
Leopold wirkte durch diese Meldung sichtlich erheitert. »Ja und? Soll ich den roten Teppich ausrollen, weil mich der Herr Holub nach vielen Jahren wieder zu besuchen beliebt, oder soll ich die anderen Gäste rechtzeitig wegschicken, damit sie nicht mit ein paar Mördern in einem Raum sitzen?«
»Du hast wirklich immer noch dasselbe blöde Mundwerk wie früher. Aber hör zu. Ich möchte dich in diesem Zusammenhang um einen Gefallen bitten.«
»Und um welchen?« Leopold spitzte die Ohren.
»Wie hast du früher immer gesagt, wenn wir dir auf die Nerven gegangen sind? Besserwisser und Pharisäer hast du uns genannt. Diesmal habe ich von meinen Kollegen denselben Eindruck. Tun so, als hätten sie eine reine Weste und wollen mir alles in die Schuhe schieben. Du weißt sicher, was ich meine.«
»Aha, Sie fühlen sich verfolgt?«
»So brutal würde ich es nicht ausdrücken. Formulieren wir es so: In einer dummen Geschichte wie dieser ist sich jeder selbst der Nächste. Ich bin der Meinung, dass wir da nur mit einer gemeinsamen Aussprache weiterkommen, sonst zerfetzt uns die Polizei alle miteinander. Wahrscheinlich ist ohnehin schon zu viel Unsinn geredet worden. Leopold, du hast doch ein untrügerisches Gefühl dafür, wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Also bitte ich dich, in unserer Nähe zu bleiben und möglichst viel von dem mitzuverfolgen, was gesprochen wird. Nachher sagst du mir einfach, was du davon hältst.«
»Um diese Zeit ist meistens viel zu tun. Da muss ich aufs G’schäft schauen«, wandte Leopold ein.
»Ach was, larifari! Wenn du neugierig warst, bist du früher auch immer dort gestanden, wo etwas los war.« Holub ließ das nicht gelten.
»Na schön! Sagen wir, ich kann Sie in der Angelegenheit ein wenig unterstützen. Da müsste ich Sie schon um eine kleine Gegenleistung bitten.«
Holub zögerte. »Und die wäre?«, erkundigte er sich schließlich vorsichtig.
»Sie waren doch immer ein guter Tarockierer. Beim Zwanzigerrufen hat Ihnen keiner was dreinreden können. Und bei unserer g’standenen Tarockpartie, die Sie vielleicht auch noch von früher kennen, fällt übermorgen der Herr Hofbauer aus. Weit und breit ist kein Ersatz zu finden. Da hab ich mir gedacht, dass Sie …«
»Nein, nein, schlag dir das aus dem Kopf«, lehnte Holub sofort ab. »Mit wildfremden Leuten Karten spielen? Das ist ja lächerlich.«
»Glauben Sie? Denken Sie an die Hand.«
»An welche Hand?«
»An die eine Hand, die die andere wäscht.«
Es war kurz still in der Leitung. »Herr Holub, das Spiel geht nur um zehn Cent, und die Herren spielen maximal drei Stunden, von 19.00 bis 22.00 Uhr«, gab Leopold zu bedenken. »Eine bessere Möglichkeit, sich bei mir zu revanchieren, gibt’s gar nicht. Aber wenn Sie nicht einmal das wollen …«
»Also gut, du Quälgeist, von mir aus.« Zähneknirschend gab Holub nach.
Zufrieden legte Leopold auf. Da fand am Abend eine Zusammenkunft der vorläufig Hauptverdächtigen im Mordfall Klara Gassner statt, die ihn natürlich brennend interessierte. Aber zwei Personen waren anscheinend noch interessierter daran, was dort besprochen wurde: Emmerich Holub, der offenbar fürchtete, seine ehemaligen Schulkollegen wollten ihn in irgendeiner Form belasten, und Trixi Stoisits, angeblich im Auftrag von Stefanie Probst, aber wer wusste schon was Genaues. Leopold fragte sich, was diese Frau wirklich wollte.
Jedenfalls musste er bei dem Gespräch zuhören, da blieb ihm gar nichts anderes übrig.
*
Der Gastgarten des Heurigen Fuhrmann war um halb fünf schon gut besucht. Die Menschen liebten es, im Freien zu sitzen, sobald die Witterung es erlaubte, den Magen mit deftigen Speisen vom Buffet zu füllen und einen guten Tropfen bodenständigen Weins die Kehle hinunterrinnen zu lassen. Ein Heuriger, das war in erster Linie ein Ort der Unbeschwertheit. Nach ein paar Gläsern schien alles leichter, unkomplizierter und selbstverständlicher zu sein. Man suchte nach der Glückseligkeit, zumindest nach jener kleinen Portion von ihr, die man sich verdient zu haben glaubte. Manchmal gelang es, sie zu erreichen. Dann war es ein lustvoller Abend, der noch lange im Gedächtnis haften blieb. Oft drehte ein Schluck zu viel die Stimmung aber ins Zweifelnde und Zerknirschte, und vom Glück blieb nicht mehr viel übrig.
Jetzt, am Nachmittag, war die Welt jedenfalls noch in Ordnung. Die Sonne schien warm, doch nicht zu heiß, und die Bäume spendeten ausreichend Schatten. Korber, der hier quasi um die Ecke wohnte, und Sophie Kuril prosteten einander mit einem weißen Spritzer zu, den sie dann recht zügig gegen den Durst tranken. Dabei redeten sie allerhand belangloses Zeugs. Erst mit dem zweiten Spritzer kamen sie auf den Grund ihres Treffens zu sprechen. Die Zunge saß schon ein wenig lockerer, der Anlauf, den man sich nehmen musste, war nicht mehr so groß.
»Ich versinke immer noch im Boden bei dem Gedanken, was du von mir halten musst«, sagte Sophie.
»Immerhin verstehe ich jetzt, warum du so geheimnisvoll getan hast«, räumte Korber ein.
»Du wirst dich vielleicht fragen, wie ich da hineingeraten bin. Ich werde es dir erzählen.« Sophie Kuril holte tief Luft, ehe sie fortfuhr: »Die Idee von so einer Art Sexwochenende war nicht neu, sie ist schon länger im Raum gestanden. Am beharrlichsten an ihr festgehalten hat natürlich Emmerich Holub. Anfangs haben wir darüber gelacht und uns an das eine oder andere kleine ›Abenteuer‹ während unserer Schulzeit erinnert. Es war ein Thema bei unseren Maturatreffen der letzten Jahre, eine Möglichkeit, von der wir nie glaubten, dass sie tatsächlich einmal eintreten würde. Wir haben immer erst am späteren Abend davon geredet und nur im kleinen Kreis. Und plötzlich merke ich, wie die Sache Formen annimmt, wie sie vom Hirngespinst zum konkreten Plan wird. Wie die Männer so komische Blicke kriegen. Auf einmal ist nicht mehr geschwafelt, sondern gefragt worden, wer mitmacht.«
»Und da hast du ja gesagt?«
»Du musst mir jetzt glauben, Thomas! Ich wollte nicht. Ich wollte wirklich nicht. Aber dann … dann habe ich mich auch gemeldet. Es war nur wegen meinem Mann Theo. Ich wollte ihm wehtun. Ich liebe und ich hasse ihn. Der Sex hat mir gar nichts bedeutet.«
»Du hast es getan, nur um ihn zu verletzen?«
»Ich wollte zu mir sagen können: Jetzt hast du’s ihm gezeigt. Du kennst ihn nicht. Er kann so nett sein und so bestialisch.« Sophie schüttelte sich kurz ab. »Starr und unnachgiebig, verletzend. Zeitweise hat man das Gefühl, dass er einen immer an die Kette legen möchte, weil er glaubt, man läuft ihm sonst davon. Das ist natürlich in letzter Zeit schlimmer geworden. Er ist ja auch über 20 Jahre älter als ich und beginnt es zu spüren.«
»Er ist doch Offizier beim Bundesheer«, erinnerte sich Korber. »Du hast es mir damals bei dem Seminar erzählt.«
»Gewesen«, korrigierte Sophie. »Mit allen Ehren als Oberst verabschiedet und in Pension. Aber das ist auch egal. Ich halte ihn einfach immer weniger aus, und dann muss ich etwas tun, verstehst du?«
»Ja, natürlich verstehe ich dich.« Korber genoss es, dass sie ihm vertraute und ihm ihr Herz ausschüttete. Er spürte, dass es notwendig war, genau in diesem Augenblick, hier und jetzt.
»Es soll keine Entschuldigung sein, aber es war eine Laune von mir, eine Trotzreaktion«, redete Sophie weiter. »Ich musste dir gegenüber eine Ausrede erfinden, als du mir plötzlich über den Weg gelaufen bist. Sie war nicht besonders gut, glaube ich. Wer rechnet andererseits damit, dass man gerade in einer solchen Situation jemanden trifft, den man kennt?«
Anscheinend wollte Sophie Kuril damit wieder zu einem belangloseren Gespräch überleiten, aber Thomas Korber ließ nicht locker. »Wie hat dein Mann es denn aufgenommen?«, fragte er.
»Theo hat eine Eigenschaft, mit der er mich an den Rand des Wahnsinns treibt: Er schweigt«, entgegnete Sophie. Sie zündete sich eine Zigarette an. Es war das erste Mal, dass Korber sie rauchen sah. »Er hat es auch diesmal angewendet«, fuhr sie fort. »Er ist in der Wohnung auf und ab gegangen, hat alles Mögliche getan, mich dabei nicht angesehen und kein Wort geredet. Ich muss dir leider sagen, dass wir auch sonst nicht mehr viel miteinander sprechen. Aber in solchen Momenten erzeugt er eine ganz eisige Atmosphäre. Dann hat er doch etwas gesagt.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, dann sprach sie weiter: »Er hat gemeint, es sei nicht so schlimm. Er wisse ja, dass ich eine Hure sei. Er wisse, dass ich zeitweise das Bedürfnis hätte, meinem Geschlechtstrieb zu folgen. Aber wenn es tatsächlich zu einer Art Liebelei kommen würde, bei der ich meine Gefühle an jemanden verliere, müsse ich mit allen Konsequenzen rechnen. Das Wort ›allen‹ hat er noch so komisch betont.«
»Heißt das, dass du dich nicht mehr sicher fühlst?«
»Sicher?« Sie versuchte ein sarkastisches Lachen, schluckte dabei aber Rauch und musste husten. »Entschuldige bitte! Wann habe ich mich in letzter Zeit je sicher gefühlt? Praktisch überhaupt nicht! Darum ist mir ja auch der Gedanke gekommen, der Anschlag habe in Wirklichkeit mir gegolten. Noch dazu, wo Klara mein Nachthemd anhatte.«
»Konnte man das deutlich erkennen? Auch in der Nacht?«
»Natürlich! Meins war dunkel, ihres hell.«
»Wie ist es denn überhaupt zu der Verwechslung gekommen?«
»Was weiß ich. Du darfst das nicht so eng sehen«, versuchte Sophie, Korber vorsichtig die Situation zu erklären. »Wir haben manchmal notgedrungen auch die Zimmer gewechselt, wenn wir die Partner gewechselt haben. Ich glaube, ich habe mein Nachthemd irgendwo liegen gelassen, wahrscheinlich, als ich bei Heribert war. Ich nehme an, sie hat es angezogen, als sie vors Haus ging, um eine Zigarette zu rauchen … und dann ermordet wurde.«
»Du glaubst, dein Mann ist gekommen, um dich zu erschlagen?«
Sophie biss sich auf die Lippen. »Ich weiß es nicht.«
»Wer sonst sollte ein Interesse daran gehabt haben, dich umzubringen?«
»Fragen wir doch einmal andersherum: Wer sollte ein Interesse daran gehabt haben, Klara umzubringen?«
»Wie viel habt ihr tatsächlich über sie gewusst?«, fragte Korber.
»Außer Emmerich hat sie kaum einer von uns näher gekannt«, antwortete Sophie.
»Bist du sicher? Es könnte doch jeder von euch den Kontakt mit ihr gepflegt oder wieder aufgenommen haben. Und wer sagt, dass es nicht eine Auseinandersetzung um etwas Sexuelles gegeben hat, die sich hochschaukelte? Ganz zu schweigen davon, dass ein Partner Klaras, den wir nicht kennen, aufgetaucht sein kann, weil er etwas von dem Wochenende erfahren hat. Wenn man etwas genauer nachdenkt, ergeben sich eine ganze Reihe von Motiven.«
»Hör auf, mir wird schon ganz schwindlig. Mir dreht sich der Kopf.«
»Ist das die Aufregung oder der Wein?«, wollte Korber wissen.
»Wohl beides. Ich glaube, ich vertrage nichts mehr. Ich habe gerade einmal zwei Gläser getrunken.« Sophie griff sich an die Stirn, als habe sie Fieber. Ihr Gesichtsausdruck wirkte angespannt.
»Dann nehmen wir noch eins für den Heimweg«, regte Korber an.
»Nein«, lehnte sie sofort ab. »Es ist jetzt Zeit, zu gehen. Ich muss nach Hause, sonst würde Theo gleich wieder irgendeinen Verdacht schöpfen. Ich darf jetzt nichts riskieren. Zu viel zu trinken wäre da ein großer Fehler. Bitte sei mir nicht böse.«
Korber leistete noch ein wenig Widerstand, dann sah er ein, dass es besser war, wenn sie sich auf den Weg machten. Er zahlte und ging gemeinsam mit Sophie auf die Straße hinaus. »Ich begleite dich noch bis zur Straßenbahn«, schlug er vor.
»Ich möchte das nicht. Du wohnst doch hier«, verneinte Sophie abermals.
»Ja, aber …«
»Lass mich bitte gehen!« Sie wirkte wieder schroff und abweisend.
»Dann sag mir bitte noch, warum du dich mit mir getroffen hast.«
»Weil ich einen Menschen brauche, bei dem ich mich aussprechen kann, eine Vertrauensperson. Ich melde mich gern wieder bei dir, wenn mir danach ist und wenn ich darf. Aber jetzt will ich allein sein.«
Korber konnte kein Hehl daraus machen, dass er noch gern bei Sophie geblieben wäre, schon deswegen, weil er im Augenblick selbst nicht allein sein wollte und auch gern mit ihr über seine momentanen Schwierigkeiten gesprochen hätte. »Es wäre schön, wenn dir schon bald wieder danach wäre, mich zu sehen«, versicherte er ihr. Dabei neigte er den Kopf ein wenig zu dem ihren, in der Absicht, sie zu küssen. Ihre Lippen berührten sich kurz und flüchtig. Dann wandte sich Sophie von ihm ab und entfernte sich mit eiligen Schritten.
Der Mann, der in einiger Entfernung von ihnen stand, delektierte sich an der Szene.