CHATINE
»Es funktioniert besser, wenn du erst kaust und dann schluckst.« Étienne saß neben Chatine im halb leeren Langhaus und häufte sich Essen von den voll beladenen Platten in der Mitte des Tischs auf seinen Teller.
Den Mund voll Rührei, blickte Chatine auf. Sie schluckte und versuchte, nicht zu würgen, als sich das nur halb gekaute Essen einen Weg durch ihre Speiseröhre bahnte. Zwei Tage waren seit ihrem Fluchtversuch vergangen, und an diesem Morgen war ihr Appétit auf magische Weise zurückgekehrt. Sie war mit einem gewaltigen Hungergefühl aufgewacht, das alles, was sie je in den Frets gespürt hatte, in den Schatten stellte. Brigitte musste es irgendwie geahnt haben, denn als Chatine sie nach Frühstück gefragt hatte, hatten die Augen der ehemaligen Cyborg merkwürdig gefunkelt. »Warum kommst du zum Frühstücken nicht mit ins Langhaus?« Und das hatte Chatine auch getan. Sie hatte sich inzwischen mehrmals gefragt, ob einige von Brigittes Cyborg-Implantaten vielleicht bei der Entnahme aus Versehen vergessen worden waren, da es ihr allzu oft so vorkam, als könnte die Frau ihre Gedanken lesen.
Sobald ihr Mund leer war, schaufelte Chatine bereits die nächste volle Gabel hinein.
Étienne lachte. »Und, wie schmecken dir die Holzschnitzel?«
»Fantastique«, murmelte Chatine mit vollem Mund, bevor sie schluckte und eine weitere Portion verschlang. Es war jedoch kein Holz, sondern frisch gebackenes Brot. Knusprig und butterig und köstlich.
»Freut mich zu hören.« Étienne nahm einen normal großen Bissen von seinen Eiern. Die beiden waren bisher die Einzigen an den Tischen, doch langsam strömten immer mehr Leute herein.
Chatine versuchte, Étienne etwas zu fragen, doch ihr Mund war zu voll, sodass Brotkrumen herausfielen, als sie ihn öffnete.
Étienne hob eine Augenbraue und wischte sich betont langsam einige Brotkrumen aus dem Gesicht. »Was wolltest du sagen? Wie es scheint, spreche ich die Sprache der hungrigen Mitläuferin nicht.«
Chatine schluckte und wischte sich mit ihrem Ärmel über den Mund, bevor sie sprach. »Woher kommt all das Essen?«
»Wir bauen es an und bereiten es selbst zu. Die Eier kommen von den Hennen, die wir in unseren Gewächshäusern halten. Das Brot wurde aus echtem Weizen gemacht, den wir auf unseren Plantagen anbauen. Hier wirst du kein Kohlbrot vom Ministère finden. Alle im Lager haben Aufgaben und Pflichten, wir arbeiten gemeinsam. So versorgen wir uns vollständig selbst. Na ja, außer das Zyttrium, das müssen wir uns durch Handel besorgen. Deshalb bist du schließlich hier.«
Chatine biss wieder von dem Brot ab und legte verwirrt den Kopf schief.
»So haben wir uns kennengelernt«, erklärte Étienne. »Du. Ich. Auf dem Dach der Bastille. Ich war dort, um das Zyttrium zu stehlen. Weißt du noch?«
Chatine schluckte. »Ach so, ja.« Plötzlich wollte sie dringend das Thema wechseln. Sie bewegten sich viel zu nah an der Gefahrenzone entlang. Sie hatte einen Zaun um den Teil ihres Geistes gebaut, an den sie nicht denken wollte. Trotz Brigittes aufbauender Worte war Chatine noch nicht bereit, sich ihren Monstern zu stellen. Sie waren zu furchterregend. Ihre Augen zu finster. Ihre Zähne zu scharf. Und wenn sie schon nicht da draußen nach Henri suchen konnte, würde sie nicht hier drin sitzen und darüber nachdenken.
»Wie dem auch sei«, fuhr Étienne fort. »Dank des Zyttriums können wir so leben, wie wir wollen, aber leider brauchen wir ziemlich viel davon, um unsere Schiffe und Dächer instand zu halten und uns weiter vor dem Régime zu verstecken. Deshalb treiben wir Handel damit.«
»Und mit was handelt ihr so?«, fragte Chatine, bevor sie ein weiteres Mal von ihrem Brot abbiss.
»Meistens bieten wir im Gegenzug unsere Dienste an. Rettungsaktionen, Lieferungen, medizinische Eingriffe, die das Régime untersagt. Eben alles, was man heimlich tun muss. Usonien war lange Zeit einer unserer besten Kunden. Wegen all des Dramas mit Albion. Wir haben ihnen während des Krieges geholfen, ziemlich viele Dinge rein- und rauszuschmuggeln.«
Chatine verschluckte sich beinahe an ihrem Brot. »Du warst schon mal auf Usonien?«
Étiennes Miene hellte sich sofort auf. »Ein paarmal. Ist schön, aber ich würde dort nicht leben wollen.«
»Warum nicht?«
»Zu weit von den Sols entfernt. Sehr kalt. In diesen klimaregulierten Blasen, in denen sie leben, würde ich verrückt werden.«
Chatine ging sofort in die Defensive. Sie hatte die letzten zehn Jahre ihres Lebens damit verbracht, einen Weg nach Usonien zu finden. »Ist ja nicht gerade viel wärmer hier, und wozu sind die Sols schon gut, wenn man sie nicht sehen kann?«
Étienne warf die Hände in die Luft. »Aha! Da habe ich mal wieder einen von deinen Knöpfen gefunden. Wie heißt dieser denn? Überempfindliche Defensivreaktion?«
Chatine umklammerte ihre Gabel fester. Augenblicklich fielen ihr tausend passende Antworten ein, doch stattdessen warf sie einen Blick auf ihren Teller, bemerkte, dass er leer war, und häufte sich lieber noch mehr Eier darauf, als zu antworten.
Glücklicherweise wechselte Étienne das Thema. »Wie geht es eigentlich deinem Bein?«
Chatine zuckte mit den Achseln. »Ganz gut.«
Er hob eine Augenbraue. »Ganz gut?«
Sie seufzte. »Schon viel besser.« Das war eine Untertreibung, denn Brigitte hatte am Morgen ihren Verband gewechselt, und Chatine war vollkommen überrascht davon gewesen, wie schnell der Heilungsprozess voranschritt. Sie konnte das Bein nun sogar schon wieder belasten und war ohne ihre Krücken zum Langhaus gehumpelt. »Deine Maman hat magische Kräfte.«
Étienne lächelte. »Ja, das kann man wohl sagen. Sie ist wirklich gut.«
»Weil sie früher mal eine Cyborg war?«
Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Manche Leute haben einfach Talent. Sie versteht diese Dinge auf einer anderen Ebene als die meisten anderen. Es ist schwer zu erklären.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Chatine. Brigitte hatte so eine ruhige Art, eine Tiefgründigkeit, die Chatine noch nie zuvor bei jemandem erlebt hatte. In ihrer Gegenwart fühlte sie sich ruhig und ausgeglichen. Allerdings brannte sie zugleich förmlich darauf, mehr über diese Frau in Erfahrung zu bringen.
Als Chatine sich im Langhaus umsah, entdeckte sie Brigitte, die ein paar Tische weiter saß. Ihre Blicke trafen sich, und als Brigitte lächelte, verzog sich die vernarbte Haut ihrer linken Gesichtshälfte, sodass ein zerklüftetes Labyrinth entstand.
»Warum hat sie ihre Implantate entfernen lassen?«, fragte Chatine mit gesenkter Stimme, obwohl die beiden immer noch die Einzigen an ihrem Tisch waren.
Étienne trank einen Schluck heiße Schokolade. »Sie sagt, dass ihre Seele eines Tages endlich verstanden hat, welche Gräueltaten ihr Geist im Namen des Régimes ausführte, und es hat sie entzweigerissen.«
Chatine blinzelte ihn verblüfft an. »Was?«
Étienne seufzte. »Sie spricht nicht oft darüber, aber offenbar werden mentale Fähigkeiten durch die Implantate unglaublich verstärkt. Doch um einen Cyborg davon abzuhalten, diese Fähigkeiten gegen das Régime einzusetzen, werden sie so programmiert, dass sie die Autorität ihrer Vorgesetzten nicht infrage stellen und keine Befehle missachten können. Was bedeutet, dass die eigenen Moralvorstellungen verzerrt werden.« Er lachte leise, als er Chatines verständnislosen Gesichtsausdruck sah. »Das kommt nicht von mir. Das hat natürlich sie so formuliert.«
»Ich komme nicht mehr mit«, sagte Chatine.
Étienne beugte sich zu ihr vor, und unter dem eindringlichen Blick seiner dunklen Augen hatte Chatine plötzlich Schwierigkeiten zu schlucken. »Ich weiß nur, dass sie, kurz bevor sie das Régime verließ, einen besonderen Auftrag erhielt, über den sie nie spricht.«
Chatine hatte das Gefühl, als würde sie eine seltsame Kraft zu ihm hinziehen. Teils wegen seiner Augen, teils wegen ihrer eigenen Neugier. »Was denn für ein Auftrag?«
»Keine Ahnung. Wie schon gesagt, sie spricht nie darüber. Aber anscheinend war es etwas äußerst Geheimes. Es gab nur eine andere Cyborg, die mit ihr daran arbeitete. Maman erzählt nichts über das Projekt, außer, dass es schlimm war. Verstörend. Und als sie erkannte, was für desaströse Auswirkungen es auf den Planeten haben würde, erwachte sie aus ihrem Cyborg-Schlummer. Ihre Worte, nicht meine. Sie und die andere Frau haben sich dann gegenseitig ihre Implantate entfernt und das Ministère verlassen.«
»Und was ist mit der anderen Cyborg passiert?«
Étienne zuckte mit den Schultern. »Maman spricht nie von ihr.«
Chatine warf Brigitte einen weiteren verstohlenen Blick zu, bevor sie sich wieder Étienne zuwandte, um ihm eine weitere Frage zu stellen. Doch in diesem Moment wurde die Tür des Langhauses aufgerissen, und eine Horde Kinder raste auf ihren Tisch zu.
»Nein! Ich sitze neben ihm!«, brüllte eins davon.
»Nein, ich!«, schrie ein anderes. »Du hast gestern Abend schon neben ihm gesessen.«
»Stimmt gar nicht, das war Comète.«
»Du hast uns gegenübergesessen.«
»Wer zuerst da ist!«
Sie kamen dem Tisch immer näher, stießen sich gegenseitig Ellbogen in die Rippen, um das Wettrennen zu gewinnen. Chatine überkam das plötzliche Verlangen, in die andere Richtung davonzulaufen. In den Frets bedeutete eine heranrasende Horde Kinder nur eins: dass man ausgeraubt wurde. Sie arbeiteten meist in großen Gruppen, um ihre Schwäche wettzumachen.
Schon kamen sie schlitternd vor Chatine zum Stehen. Ihre verblüfften Blicke wanderten zwischen ihr und Étienne hin und her, als wäre ihre Sitzordnung ein Rätsel, das sie nicht verstehen konnten. Dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf den leeren Stuhl auf Étiennes anderer Seite, und alle vier sprangen gleichzeitig darauf zu. Sie schubsten einander aus dem Weg und brüllten laut. Irgendwie schaffte es das kleinste Mädchen mit den glitzernden dunklen Augen und den Korkenzieherlocken, inmitten des Tumults auf den Stuhl zu klettern. Sie konnte nicht älter als vier sein. Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und ihre pummeligen Beinchen schwangen fröhlich hin und her.
»Astra! Geh da runter«, schimpfte einer der Jungen. »Du darfst da nicht sitzen.«
Das kleine Mädchen – Astra – steckte sich zwei Finger in den Mund und lutschte zufrieden daran. Doch sie rührte sich nicht.
Der Junge, der eine riesige Mütze mit langen, flauschigen Ohrenschützern trug, schaute Étienne hilfesuchend an. »Mach, dass sie aufsteht! Ich wollte neben dir sitzen.«
Astra nahm ihre Finger lange genug aus dem Mund, um »Nein« zu brüllen und dann seelenruhig weiter daran zu lutschen.
Weiteres Gezeter folgte, bis Étienne eine Hand hob. »Okay, na schön, jetzt beruhigen wir uns alle mal. Es gibt doch noch genug Platz am Tisch.«
»Nein«, sagte der Junge mit der Mütze und deutete anklagend auf Chatine. »Sie hat uns einen Stuhl weggenommen.«
»Hey«, sagte Étienne streng. »Perseus, das ist nicht nett. Das ist meine neue Freundin. Erinnerst du dich nicht? Ich habe euch doch von ihr erzählt.«
Plötzlich lagen alle Blicke auf Chatine, und das Gezanke war vergessen. Astras Finger fielen ihr mit einem Plopp aus dem Mund.
»Du bist eine Mitläuferin, oder?«, fragte Perseus. Er war eindeutig der Anführer der Truppe.
»Äh«, stammelte Chatine und starrte in die faszinierten Gesichter. »Ja, ich denke schon.«
»Und sie war in der Bastille«, fügte Étienne hinzu.
»Können wir dein Tattoo sehen?«, fragte Perseus, und seine Augen blitzten spitzbübisch.
Chatine schob ihren Ärmel hoch, um ihnen die kleinen Metallhügel auf ihrer Haut zu zeigen. »Da steht es. Insassin 51562.«
»Wow«, sagte eins der Mädchen und fuhr mit einem Finger über das Tattoo.
»Hast du mal in einem der abgestürzten alten Raumschiffe in Vallonay gelebt?«, fragte Perseus.
»Sie sind nicht abgestürzt«, erklärte Étienne leicht genervt, als ob sie sich schon oft darüber unterhalten hätten. »Sie landeten vor 505 Jahren.«
»Ja«, sagte Chatine. »Man nennt sie Frets. Aber sie sind so alt und heruntergekommen, dass es sich manchmal so anfühlt, als wären sie abgestürzt. Die Hälfte der Treppen existiert gar nicht mehr.«
»Sup!« Perseus’ Augen wurden groß, und er kletterte eilig auf den Stuhl neben Chatine.
»Wie ist es, eine Télé-Haut zu haben?«, fragte ein anderes Mädchen.
Chatine wandte sich ihr zu, um zu antworten, wurde allerdings prompt von allen Seiten mit Fragen bestürmt.
»Hast du schon mal Kohlbrot gegessen?«
»Musstest du dein Blut verkaufen?«
»Hast du die Himmelfahrt gewonnen?«
Chatine schnaubte vor Lachen. »Nein, eindeutig nicht.«
Étienne beugte sich dicht zu ihr vor. »Was hab ich dir gesagt?«, flüsterte er. »Du bist hier eine Prominente.«
»Kannst du Zaubertricks wie Fabien?«, fragte ein Junge.
»Wer?«, fragte Chatine.
»Einer der anderen Mitläufer«, erklärte Étienne. »Ich habe dir von ihnen erzählt. Sie sind kurz vor dir angekommen.«
»Fabien kann Zaubertricks«, sagte Perseus. »Er lässt Dinge verschwinden.«
»Oh«, murmelte Chatine und wandte sich dem Jungen zu, der die Frage ursprünglich gestellt hatte. »Nein, das kann ich nicht.«
»Kannst du tanzen wie Gen?«, fragte ein Mädchen.
»Das ist seine Frau«, warf Étienne ein. »Sie kann ziemlich lustig tanzen.«
»Nein.«
»Kannst du einen Trank brauen, der einen Sterne sehen lässt?«, fragte ein anderes Mädchen.
Chatine schaute Étienne fragend an. »Was?«
»Krautwein«, flüsterte er ihr zwinkernd zu. »Fabien hat ihnen weisgemacht, es wäre ein magischer Trank.«
»Kannst du bis eine Million zählen?«
»Kannst du einen Knopf aus deinem Ohr ziehen?«
Langsam wurde Chatine schwindelig von all den Fragen. Wer waren diese mysteriösen Leute? Fabien und Gen? »Nein, ich kann nichts davon.«
»Was kannst du denn?«, fragte Astra, die Jüngste. Sie war auf Étiennes Schoß geklettert, hatte einen Ellbogen auf den Tisch gelegt und den Kopf in die erhobene Hand gestützt. Nun starrte sie Chatine an.
»Ich … äh … ich kann klettern.« Chatine warf einen Blick auf ihr verletztes Bein. »Ich meine, wenn ich nicht …« Doch sie beendete den Satz nicht, als ihr auffiel, dass keins der Kinder ihr mehr Beachtung schenkte. Alle hatten sich einen Sitzplatz gesucht und begannen nun zu frühstücken. Alle außer Astra, die Chatine immer noch anstarrte. Doch obwohl sie am Anfang so fasziniert ausgesehen hatte, musterte sie Chatine nun mit beinahe mitleidiger Miene. Sie zuckte mit den Achseln, als wollte sie sagen: »Du kannst keine Zaubertricks, was hast du erwartet?«
»Hab dir doch gesagt, dass sie enttäuscht sein würden«, flüsterte Chatine Étienne zu.
Er lachte leise. »Ach, das ist ganz normal. Ihre Aufmerksamkeitsspanne entspricht der einer Stubenfliege. In ein paar Minuten wirst du wieder aufregend sein.« Er hob Astra hoch und setzte sie wieder auf den Stuhl neben sich. Eins der anderen Kinder hatte ihren Teller gefüllt, sodass sie sofort zu essen begann.
Chatine beäugte die kleinen Gesichter misstrauisch. Sie vertraute ihnen immer noch nicht ganz.
»Du hast nicht besonders viel Erfahrung mit Kindern, oder?«, fragte Étienne, und Chatine fiel auf, dass er sie beobachtet hatte.
»Äh …« Sie drückte ihren Daumen auf einen Brotkrumen auf ihrem Teller und schob ihn sich in den Mund. »Nicht wirklich, nein. Als Mitglied des Dritten États ist es einem nicht vergönnt, lange Kind zu sein. Ich meine, seit ich fünf Jahre alt war, musste ich mich um …« Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf, als sie sich der Gefahrenzone näherte. Hastig trat sie in Gedanken einen Schritt zurück. »Ist ja auch egal. Woher kommen denn all diese Kinder?«
Étienne sah überrascht aus, als glaubte er, die Antwort läge auf der Hand. »Sie sind meine Geschwister.«
Schockiert ließ Chatine den Blick über den Haufen Kinder am Tisch schweifen. Insgesamt waren es zwölf. Und einige schienen im selben Alter zu sein. Wieder huschte ihr Blick zu Brigitte. »Wow, deine Maman hat ja ganze Arbeit geleistet, was?«
Étienne lachte. »Sie sind nicht alle ihre leiblichen Kinder.« Als Chatine ihn verblüfft anstarrte, beeilte er sich, es ihr zu erklären. »Ich meine, meine Mutter hat sie nicht alle geboren. Wenn jemand aus unserer Gemeinschaft stirbt, werden die hinterbliebenen Kinder zu neuen Familien gegeben. Aber wir machen keinen Unterschied zwischen ihnen, sondern behandeln sie wie unsere eigenen. Das hilft allen über die Trauerzeit hinweg.«
Chatine musterte Étienne aufmerksam. Bezog er sich damit auf die gewaltsamen Festnahmen des Ministères? Sie suchte seine Gesichtszüge nach dem Schmerz ab, der sich darauf abgezeichnet hatte, als sie das letzte Mal über das Thema gesprochen hatten, doch es war keine Spur davon zu erkennen.
»Deine Maman hat mir etwas darüber erzählt, dass die Gemeinden sich vor Kurzem zusammenschließen mussten, weil es immer weniger von euch gibt. Und dass es eine schwierige Umgewöhnung war.«
Étienne nickte. »Das stimmt.« Er deutete mit einer ausladenden Armbewegung auf die umstehenden Tische, die nun alle voll besetzt waren. »Das Problem ist, dass die verschiedenen Gemeinden so unterschiedlich sind. Alle haben andere Werte oder Fähigkeiten. Aber jetzt ist es in Ordnung. Wir verstehen uns untereinander.«
Chatine sah sich im Langhaus um. Es herrschte lautes Stimmengwirr, Lachen wehte hier und da durch den Raum. Die Défecteure reichten Platten mit Essen herum, schlugen ihre Gabeln gegen Tassen, um sich Gehör zu verschaffen, oder beugten sich zueinander, um Neuigkeiten und Witze auszutauschen. Niemand saß allein. Niemand trieb sich am Rand herum, um einen Diebstahl zu planen.
Unwillkürlich rieb Chatine mit dem Zeigefinger über ihren leeren Daumen, an dem sich zuvor Marcellus’ Ring befunden hatte. Die Erinnerung daran verblasste immer mehr. Sie fragte sich, ob sie wohl eines Tages aufhören würde, nach dem Ring zu tasten.
»Und was ist mit deiner Gemeinde?«, fragte sie rasch, um sich abzulenken. »Was sind eure Fähigkeiten?«
»Wir waren schon immer Schiffbauer. Laut Maman stammen wir von dem Volk ab, das die originalen Frachtschiffe baute, die die Erste Welt verließen. Ich weiß aber nicht, ob das stimmt.«
Chatine schnaubte. »Ja klar, ich war schon mal in deinem Schiff. Das kann nicht stimmen.«
Étienne häufte Eier auf seine Gabel und katapultierte sie in Chatines Gesicht. Sie duckte sich flink, und die Eier landeten auf Perseus’ Mütze. Er schien es aber gar nicht zu bemerken, sondern schaufelte weiter Essen in sich hinein.
»Wie dem auch sei«, fuhr Étienne grinsend fort. »Nun, da wir eine Gemeinde sind und uns aneinander angepasst haben, war es uns möglich, das modernste Lager aller Zeiten zu bauen.«
Chatine sah sich abermals im Raum um. Hier befanden sich nur etwa hundert Leute. War das wirklich alles, was von den Défecteuren übrig war?
»Wie viele wart ihr denn früher?«, fragte sie, den Blick immer noch auf die ihr unbekannten Gesichter gerichtet. »Vor dem letzten Angriff des Régimes?«
Sie fuhr herum, als sie hörte, wie Étienne seinen Stuhl zurückschob. Er stand auf. »Ich sollte jetzt gehen. Muss mich um Marilyn kümmern.« Ohne ein weiteres Wort verließ er den Tisch und brachte seinen Teller in die Küche.
»Er spricht nicht gerne über dieses Thema.«
Chatine riss sich von Étienne los und wandte sich Perseus zu. »Warum nicht?«
Er zuckte nur mit den Achseln und schob sich einen weiteren Bissen in den Mund. »Mag’s einfach nicht.«
Chatine verfolgte, wie Étienne zur Tür des Langhauses ging. Seine Schritte wirkten steif, sein Rücken zu gerade.
»Hast du ihn schon mal danach gefragt? Warum er nicht gern darüber spricht?«
Perseus schüttelte den Kopf. »Nein. Maman sagt, dass er darüber sprechen wird, wenn er bereit ist.«
Chatine nickte. Sie wusste aus Erfahrung, dass dieser Fall vielleicht nie eintreten würde.
»Glaubt ihr, Fabien wird uns Bonbons mitbringen?«, fragte eins der Mädchen in die Runde.
»Er hat es versprochen«, antwortete Perseus. »Und er bricht niemals seine Versprechen.«
»Was sind das wohl für Bonbons?«, fragte das Mädchen. »Woher kriegt er sie?«
Perseus zuckte mit den Achseln. »Ist doch egal.«
Chatine sah sich ein weiteres Mal im Raum um. Die Tische leerten sich allmählich. »Wo sind denn eigentlich diese berühmten Mitläufer, über die ihr die ganze Zeit redet?«
»Einer der Piloten hat sie mitgenommen, um nach ihren verlorenen Kindern zu suchen«, sagte Perseus mit einem traurigen Kopfschütteln.
»Was ist mit ihnen passiert?«, fragte Chatine.
»Sie wurden getrennt«, erklärte eins der Kinder. »Als die Policiers in ihr Dorf kamen und wahllos Leute festgenommen haben.«
Perseus beugte sich zu Chatine vor, sodass die anderen Kinder ihn nicht hören konnten. »Unter uns: Ich glaube nicht, dass sie sie finden werden.«
»Warum nicht?«, flüsterte Chatine zurück.
»Wenn die Policiers kommen, dann war’s das. Dann bist du für immer weg.«
Chatines Brust zog sich zusammen. Der kleine Junge lag damit richtiger, als ihm bewusst war. Als sie sich diesmal umsah, fragte Chatine sich, wie viele Leute im Raum wohl jemanden verloren hatten.
Genau wie Étienne.
Wie die anderen beiden Mitläufer.
Wie sie.
»Aber sie kommen morgen ins Lager zurück«, sagte Astra, wofür sie kurz ihre Finger aus dem Mund zog. »Sie wollten zur Zeremonie zurück sein.«
»Was denn für eine Zeremonie?«, fragte Chatine.
»Die Verbindungszeremonie«, erklärte Perseus beinahe ehrfürchtig. »Das ist ein wichtiges Ereignis. Alle kommen.«
Panik überkam Chatine, als sie sich einen großen Menschenauflauf im Lager vorstellte. »Ich lasse es wohl lieber ausfallen.«
Perseus starrte sie an, als käme sie von einem anderen Sol-Système. »Niemand lässt eine Verbindungszeremonie ausfallen«, sagte er schnaubend. »Wenn du hier bei uns wohnst, musst du kommen.«