Kapitel 59

MARCELLUS

»Was dauert denn so lange? Warum ist er noch nicht fertig?«

Cerise war seit ihrer Ankunft unaufhörlich in dem kleinen Méd-Zentrum auf und ab gegangen. Sie erinnerte Marcellus an die Katzen, die in den Gärten hinter der Küche des Grand Palais auf Essensreste warteten. Jedes Mal, wenn Cerise ein Ende des Raums erreicht hatte und herumfuhr, knisterte die Rettungsdecke, die um ihre schmalen Schultern geschlungen war.

»Es wird alles gut gehen«, sagte Alouette zum ungefähr zehnten Mal, doch es war, als hörte Cerise nichts als die Ängste in ihrem Kopf.

»Er müsste längst fertig sein. Wie lange dauert es, ein Bündelgeschoss zu entfernen?«

»Ziemlich lange«, antwortete Alouette. »Du hast die Wunde doch gesehen. Und Bündelgeschosse sind dafür gemacht, so viel Schaden wie möglich anzurichten.«

Einmal mehr bewunderte Marcellus ihre schier endlose Geduld. Mit Cerise. Mit ihm, als er im Terrain Perdu einfach losgelaufen war, um Hilfe zu holen. Mit allen. Alouette schien eine natürliche Gabe zu haben, andere zu beruhigen und selbst in den schlimmsten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren.

Cerise fuhr abermals herum und ging weiter in die andere Richtung, während sie den Blick nicht von der Tür ließ, hinter der Gabriel verschwunden war. Man hatte ihnen gesagt, dass dort eine Art Operationssaal lag, doch Cerise hatte nicht besonders überzeugt ausgesehen. Marcellus ebenso wenig.

Nachdem sie aufs Chatines Einladung an Bord des seltsamen Schiffs gegangen waren und der Pilot darauf bestanden hatte, dass sie sich die Augen verbanden, waren sie in einem Lager mitten im Terrain Perdu angekommen. Die Gebäude hatten merkwürdige Formen und waren aus der Luft unsichtbar. Genau wie das Schiff, das neben ihrer Rettungskapsel gelandet war.

Défecteure, vermutete Marcellus, obwohl es ihm schwerfiel, ihre Existenz mitten in der eisigen Tundra zu begreifen. Er hatte Gerüchte gehört, dass einige von ihnen den Angriffen seines Großvaters entkommen waren, doch er war nie sicher gewesen, ob dies der Wahrheit entsprach. Es war ihm immer so gut wie unmöglich vorgekommen, dass sie irgendwo existierten, ohne dass das Ministère davon wusste. Und doch waren sie hier.

Marcellus nahm einen Schluck aus der Tasse mit heißer Schokolade, die er in seinen allmählich auftauenden Händen hielt. Er zog sich seine Rettungsdecke fester um die Schultern und sah sich verstohlen in dem fremdartigen kleinen Méd-Zentrum um. Die Regale waren von oben bis unten vollgestopft, und in der Mitte standen ordentlich gemachte Feldbetten wie das, auf dem er und Alouette gerade saßen. Er staunte über alles in diesem Lager – diesem Versteck der Défecteure. Bisher hatte er nur einen ihrer Wohnorte gekannt: das Lager im Verdure-Wald. Doch es war verlassen gewesen.

Es war sein Versteck gewesen.

Cerise kam erneut an der gegenüberliegenden Wand an. »Was ist das überhaupt für ein Méd-Zentrum? Es sieht gar nicht wie eins aus. Und diese Frau, die Gabriel mitgenommen hat, sieht auch nicht wie eine echte Médecin aus.« Sie flüsterte, obwohl die drei allein im Raum waren.

Nach ihrer Ankunft hatte eine Frau, die sich selbst eilig als Brigitte vorstellt hatte, Gabriel mit in den Operationssaal genommen. Der hochgewachsene Pilot mit dem energischen Kiefer war daraufhin gemeinsam mit Chatine verschwunden. Étienne hatte sie ihn genannt. Marcellus wusste nicht, warum, aber er hatte kein gutes Gefühl, was den Kerl anging.

Überhaupt war das eine weitere Sache, die Marcellus noch nicht ganz verstanden hatte. Chatine Renard war aus der Bastille entkommen? Und sie lebte nun bei den Défecteuren, die ihre Télé-Haut entfernt hatten? Deshalb hatte er sie nie über seinen Télé-Com finden können.

»Cerise«, sagte Alouette sanft. »Warum setzt du dich nicht hin und trinkst deine heiße Schokolade? Das wird dir helfen, dich zu beruhigen.«

Doch Cerise ignorierte sie und tigerte weiter auf und ab.

Marcellus trank seine Tasse aus, hielt sie aber weiterhin umklammert. Nun, da ihm wieder warm war, beschlich ihn eine innere Unruhe. Es gefiel ihm nicht, in diesem Raum festzusitzen, und er wusste immer noch nicht, was gerade auf dem Planeten vor sich ging. Im Terrain Perdu hatten sie keinen Empfang gehabt, und die Défecteure hatten ihre beiden Télé-Coms beschlagnahmt, sobald sie im Lager eingetroffen waren – obwohl Cerise ihnen versichert hatte, dass beide Geräte nicht aufzuspüren waren. Anscheinend waren hier keine Geräte des Ministères erlaubt. Marcellus konnte das verstehen, doch er wollte unbedingt herausfinden, was der General gerade tat. Hatte er den Krieg bereits begonnen? Hatte er den Dritten État längst in seine persönliche Armée verwandelt?

Was plante er? Was war sein nächster Spielzug?

Die Unwissenheit brachte Marcellus beinahe um. Er war kurz davor aufzuspringen und sich Cerise anzuschließen.

»Wie können wir sicher sein wir, dass diese Frau überhaupt weiß, was sie tut?« Cerise deutete mit einem Daumen in Richtung der Tür des Operationssaals. »Sie könnte großen Schaden anrichten.«

Marcellus hörte etwas, das wie ein Knurren klang, und sein Kopf zuckte zur zweiten Tür auf der anderen Seite, durch die in diesem Moment Étienne und Chatine den Raum betraten.

»Diese Frau ist meine Maman«, sagte Étienne mit tiefer, drohender Stimme. »Und sie weiß ganz genau, was sie tut.«

Cerise hielt inne. Étiennes Auftauchen hatte sie aus der Bahn geworfen, und sein Tonfall schien sie zu alarmieren. Doch der Moment währte nur kurz. Schon warf sie ihr langes dunkles Haar zurück und straffte die Schultern. »Ich bezweifle ja nicht, dass sie glaubt, sie wüsste, was sie tut. Aber ich meine ja nur, dass sie vielleicht nicht die Erfahrung hat –«

»Hast du die Narben auf ihrem Gesicht gesehen?«, unterbrach Étienne sie und machte ein paar Schritte in den Raum hinein. Marcellus bemerkte, dass er die Fäuste geballt hatte und seine Finger zuckten. Offenbar hatte der Typ auch kein gutes Gefühl, was Marcellus und seine Freunde anging.

»Da waren früher mal ihre Implantate«, fuhr er mit strengem Blick fort. »Als sie noch eine Cyborg war.« Étienne stellte sich in eine Ecke und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also weiß sie wie gesagt ganz genau, was sie tut.«

Cerises Kinnlade fiel herab. »Noch so eine? Sie war auch mal …?« Doch sie brachte den Satz nicht zu Ende. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, sie spitzte die Lippen, während sie angestrengt über das Gehörte nachgrübelte.

Marcellus’ Gedanken rasten ebenfalls, als er sich an die Narben erinnerte, die er auf Brigittes Gesicht gesehen hatte. Wenn er darüber nachdachte, sahen sie denen auf Denises Gesicht sehr ähnlich.

Er warf Alouette einen Blick zu. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, war ebenso in Gedanken versunken.

»Ich habe euch noch mehr heiße Schokolade gebracht.«

Marcellus blickte auf. Chatine stand vor ihm. Sie hielt eine silberne Kanne in der Hand, die sie öffnete, um seine Tasse erneut mit der dampfenden Flüssigkeit zu füllen, bevor sie zögernd auf Alouette zuging.

»Du heißt jetzt Alouette, richtig?«, fragte sie mit einem Tonfall, den Marcellus noch nie an ihr gehört hatte. Leise und sanft. »Nicht mehr Madeline?«

Alouette nickte. »Mein Vater hat mich umbenannt, nachdem wir die Pension verlassen haben.«

Marcellus starrte verwirrt, während sich etwas Bedeutendes und seltsam Tiefgründiges zwischen den beiden abzuspielen schien. Eine Art unausgesprochene Konversation, die er nicht einmal annähernd verstehen konnte.

»Ihr kennt euch«, sagte er benommen, als er sich plötzlich an etwas erinnerte, das Chatine auf dem Revier in Vallonay zu ihm gesagt hatte, bevor man sie in die Bastille verfrachtet hatte. Er legte die Stirn in Falten. »Ihr habt früher mal zusammen gewohnt, oder?«

Chatine nickte. »Sie hat bei meiner Familie in der Jondrette gelebt.«

Marcellus’ Blick zuckte zu Alouette. Er dachte an die heruntergekommene Pension, von der nichts als Asche übrig geblieben war. »Du hast dort gelebt?«, keuchte er.

Alouette nickte. »Als ich sehr klein war. Bevor Hugo mich zu den Schwestern gebracht hat.«

»Wir …«, begann Chatine, bevor sie sich Alouette mit großen Augen und entschuldigendem Blick zuwandte. »Wir haben sie sehr schlecht behandelt.«

Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf Alouettes Gesicht. Eine Geste der Vergebung. Chatine füllte ihre Tasse, und Alouette konzentrierte sich wieder auf Cerise, die immer noch rastlos auf und ab ging. Chatine setzte sich neben Marcellus. Er spürte Étiennes wachsamen Blick auf sich, der sie von der anderen Seite des Zimmers aus beobachtete.

»Also …«, murmelte Marcellus unbehaglich und klammerte sich an seine Tasse. »Wirst du mir erzählen, was mit dir passiert ist, oder muss ich raten?«

Chatine grinste ihn spielerisch an. »Was könnten Sie wohl damit meinen, Offizier?«

Marcellus verdrehte die Augen. »Du lebst bei den Défecteuren? Irgendwie passt das nicht so ganz zu dir, oder?«

»Wie sich herausgestellt hat«, antwortete Chatine mit leiser, verschwörerischer Stimme, »mögen sie es nicht, so genannt zu werden.«

Marcellus schnaubte, doch dann fiel ihm auf, dass Chatine es ernst meinte. »Oh, äh … Wie würden sie denn gern genannt werden?«

Chatine warf Étienne einen Blick zu, der sie immer noch mit düsterer Miene beobachtete. Er war schlimmer als die albionischen Soldaten, die ihren Voyageur gekapert hatten. »Sie wollen nicht, dass man ihnen einen Stempel aufdrückt.«

Marcellus starrte sie mit großen Augen an. Mit ihrem kurzen Haar, der merkwürdigen grauweißen Kleidung und ihrer neuen entspannten Art erkannte er sie kaum wieder. Andererseits hatte er sie fast die gesamte Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, für jemand anderen gehalten. Er fragte sich, ob er Chatine Renard je wirklich gekannt hatte.

»Warum schaust du mich so an?«, fragte sie und fuhr sich nervös mit einer Hand über das kurz geschorene Haar. »Es gefällt dir nicht, oder?«

Marcellus räusperte sich. »Doch«, beeilte er sich zu sagen. »Sehr sogar. Es ist nur …«

Chatine lächelte, und Marcellus’ Wangen wurden heiß. Er blickte auf seine Hände und murmelte: »Es fällt mir nur schwer, das alles zu begreifen. Dass du jetzt hier lebst. Mit … denen.«

»Sie sind überhaupt nicht so, wie ich gedacht hatte. Es sind gute Menschen. Sie haben mich gerettet. Und sie werden auch euren Freund retten. Der sah übrigens auch nicht nach jemandem aus, mit dem du dich normalerweise abgeben würdest. Seit wann hängst du mit struppigen Mitgliedern des Dritten États herum?«

»Na ja«, sagte Marcellus. Nun zupfte ein Grinsen an seinen Mundwinkeln. »Ich kannte da mal diesen Jungen. Théo. Seine Haare waren auch ziemlich struppig. Ich habe sie nur nie gesehen, weil er immer eine Kapuze –«

»Ist ja gut, ist ja gut«, unterbrach Chatine ihn. »Ich habe mich wohl getäuscht.« Sie fuhr wieder mit den Fingern über ihre Stoppeln, als ob sie sich zu erinnern versuchte, wie ihr Haar sich früher angefühlt hatte.

Marcellus’ Lächeln erstarb augenblicklich, und sein Magen zog sich zusammen. »War es sehr schlimm? Auf dem Mond?«

»Nein«, sagte sie mit vollkommen ernster Miene. »Es war wie im Paradies. So viel Kohlbrot, wie man nur essen kann, und unzählige Stunden angenehmer Konversation mit umgänglichen Zeitgenossen in den Zyttrium-Minen.«

Marcellus wusste, dass sie scherzte, doch er fühlte sich trotzdem zurechtgewiesen. Natürlich war es schlimm dort. Es war grauenvoll. In der Bastille herrschten die schrecklichsten Bedingungen, die ein Mensch aushalten konnte. Er atmete einmal tief durch, bereitete sich innerlich darauf vor, die Frage zu stellen, die ihm schon auf der Seele brannte, seit er Chatines Festnahmebericht gelesen hatte. »War es meine Schuld, dass du dort gelandet bist?«

Chatines Blick zuckte zu ihm. »Was?«

»Dass du festgenommen wurdest? Bist du meinetwegen in die Bastille geschickt worden?«

»Warum denkst du das?«

»Weil Marcellus immer versucht, die Schuld für das Elend anderer Leute auf sich zu nehmen«, murmelte Cerise. Dann fuhr sie zum Operationssaal herum. »Argh! Ist es zu viel verlangt, uns den neuesten Stand zu verraten? Irgendetwas! Er könnte längst tot sein, und wir hätten keine Ahnung!«

Alouette und Marcellus wechselten einen wissenden Blick. Dann sprang Alouette auf und führte Cerise zu dem Bett, auf dem sie gesessen hatte. Cerise setzte sich auf die dünne Matratze, und Alouette reichte ihr eine Tasse mit heißer Schokolade. »Bleib da sitzen. Trink das. Beweg dich nicht mehr.« Sie setzte sich neben Cerise und hakte sich bei ihr ein. Marcellus war sicher, dass sie sie damit nicht nur beschwichtigen, sondern auch in Schach halten wollte.

»Es war nicht deine Schuld«, flüsterte Chatine.

»Es ist nur …« Marcellus suchte nach den richtigen Worten. »Du wärst nie dorthin geschickt worden, wenn ich nicht gewesen wäre. Der General hätte dich nie angeheuert, um mich auszuspionieren, und du –«

»Ich wäre ohne dich nie da rausgekommen. Du hast mich gerettet. Die Botschaft, die du über den Androiden geschickt hast … Wenn du das nicht getan hättest, wäre ich wahrscheinlich in dem Turm gestorben.«

»Aber warum warst du in der Bastille?« Marcellus erkannte, dass die Leichtigkeit aus ihrer Miene verschwunden war. »In dem Bericht stand, dass es wegen Verrats war.«

»Ich habe den General belogen«, erklärte sie, wich dabei aber seinem Blick aus. »Ich habe herausgefunden, wo das Hauptquartier der Vangarde war, und habe ihm gesagt, ich würde ihn hinführen. Aber ich habe gelogen und ihn woandershin geführt. Er hat mich daraufhin direkt in die Bastille geschickt.«

Alouette starrte Chatine an. »Du hast das Refuge gefunden?«

»Refuge?«, wiederholte Chatine neugierig.

»So nennt die Vangarde ihr Hauptquartier«, erklärte Marcellus.

»Ja, ich habe es gefunden.«

»Und du hast es beschützt, du hast den Standort für dich behalten?«, fragte Alouette.

»Ich habe die Frets beschützt. Die Leute dort. Und ja, ich nehme an, die Vangarde habe ich damit auch beschützt.«

Chatine wandte sich wieder Marcellus zu, und ihre Blicke trafen sich. Ihre grauen Augen hatten dieselbe Farbe wie der Himmel über Laterre. In dem Moment überkam Marcellus etwas mit voller Wucht. Etwas Verstörendes und doch Tröstendes. Etwas Frustrierendes und doch Vertrautes. Er hatte so falschgelegen, was Chatine anging – und zwar so oft. Was dieses Mädchen anging, das ihn ausspioniert hatte. Das ihn verraten hatte. Das ihn so oft ausgetrickst hatte. Ihn herausgefordert hatte.

Ihn geküsst hatte.

Bei dieser Erinnerung wurden Marcellus’ gefrorene Zehen augenblicklich wärmer – viel wärmer als jemals zuvor. Rasch wandte er den Blick ab, der prompt auf Étienne landete. Der Défecteur funkelte Marcellus an, als hätte er Mikrokameras in seinem Gehirn angebracht und könnte damit jeden Gedanken und jede Gefühlsregung lesen. Als sähe er genau wie Marcellus die Szene im Regen auf dem Dach in der Endlosschleife vor sich.

Marcellus räusperte sich und schaute stattdessen Alouette an. Doch das brachte sein Herz dazu, sich zusammenzuziehen. Eine weitere Emotion, die er nicht zuordnen konnte. Also blickte er zu Boden, was im Moment so ziemlich der sicherste Ort im Raum zu sein schien.

»Wie bist du entkommen?«, fragte Alouette Chatine.

»Ich …« Chatine hatte offensichtlich Mühe, die Frage zu beantworten. »Ich bin entkommen, als die Vangarde Citoyenne Rousseau zur Flucht verholfen hat.« Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Sie öffnete den Mund, um mehr zu sagen, doch es kam kein Laut heraus. Étienne sprang für sie ein.

Er kam aus seiner Ecke und ließ die eben noch verschränkten Arme sinken. »Es waren zwei Schiffe auf dieser Mission unterwegs, aber kurz nachdem wir den Mond verlassen hatten, haben wir den Kontakt zu dem anderen Schiff verloren.«

Plötzlich verstand Marcellus. Die Défecteure hatten der Vangarde geholfen, Rousseau zu befreien? Das seltsame Schiff, das über dem Dach des Turms geschwebt war, hatte ihnen gehört?

Étienne schaute Chatine an, die nun ihrerseits wie betäubt zu Boden starrte. Sein Blick wurde weicher. »Ihr kleiner Bruder war auf dem anderen Schiff.«

»Roche«, flüsterte Chatine. Ihre Stimme brach, und sie räusperte sich. »Es war Roche. Er ist mein verloren geglaubter kleiner Bruder. Und ich wusste es nicht mal, bis es zu spät war. Früher hieß er anders …«

»Henri«, sagte Alouette erstaunt. »Jetzt erinnere ich mich. In der Pension bin ich manchmal nachts von seinem Geschrei aufgewacht. Dann bist du immer zu ihm gegangen und hast ihm vorgesungen.«

Als Marcellus die Tränenspuren betrachtete, die sich über Chatines Wangen zogen, fühlte er sich, als würde der ganze Planet um ihn herum implodieren. Sein Innerstes stülpte sich nach außen. Die Wände des Chalets krachten zu Boden. Sein Großvater hatte nicht nur Citoyenne Rousseau, Mabelle und Alouettes geliebte Schwestern, sondern auch Roche getötet. Den pfiffigen Jungen, den Marcellus auf dem Revier befragt hatte. Chatines Bruder.

General Bonnefaçon hatte die Leben aller Anwesenden zerstört. Er war der Feind aller, die sich in diesem Raum befanden. Chatine hatte auf dem Mond gelitten. Alouette hatte die einzige Familie verloren, die sie je gekannt hatte. Gabriel kämpfte im Operationssaal um sein Leben. Cerise war ihrem erstickenden Leben in Ledôme entflohen und saß nun hier fest, während sie voller Angst darauf wartete, ob Gabriel es schaffen würde. Selbst die Défecteure lebten nur in dieser gefrorenen Einöde, weil sie dem Zorn des Ministères entkommen wollten. Sie alle waren Opfer des grausamen Spiels, das sein Großvater spielte. Sie alle hatten seinetwegen gelitten.

Und wahrscheinlich war der General in diesem Moment dabei, noch weitere Leben zu zerstören.

Bei dem Gedanken begann sich der Raum zu drehen. Marcellus klammerte sich an die Bettkante und versuchte, tief durchzuatmen. Er wusste nicht, wie lange er es noch aushalten würde, hier eingesperrt zu sein. Er wusste nicht, wie viel er noch verkraften konnte.

»Der Zustand eueres Freundes ist stabil.«

Alle schraken auf, als die Stimme die Stille durchbrach. Brigitte, die ehemalige Cyborg, stand in der offenen Tür des Operationssaals. Sie trug einen OP-Kittel, und ihr vernarbtes Gesicht war halb von einem Mundschutz bedeckt.

Cerises Blick blieb sofort an den Blutspritzern auf ihrem Kittel hängen. »Bei den Sols! Ist er am Leben? Wird er wieder gesund werden?«

Brigitte nahm Cerises Hände in ihre und drückte sie fest. »Er wird wieder. Ich habe alle Teile des Bündelgeschosses entfernt. Außerdem habe ich seine Télé-Haut entnommen, wo ich schon mal dabei war. Er wird es schaffen. Er ist ein Kämpfer.«

Cerise brach erleichtert auf dem Bett zusammen. »Oh, Dank sei den Sols!«

»Ziemlich fiese Biester, diese Bündelgeschosse«, sagte Brigitte. »Wollt ihr mir erzählen, wie es dazu kam, dass er angeschossen wurde?«

Cerise schaute zu Alouette, die wiederum Marcellus ansah, der den Blick abermals zu Boden richtete. »Wir wurden von der Königlichen Garde verfolgt.« Er schluckte. »Auf Albion.«

Er hatte erwartet, Brigitte würde schockiert reagieren. Schließlich traf man nicht jeden Tag einen Laterrianer, der auf Albion gewesen war. Doch sie bedeutete ihm nur mit einem Nicken fortzufahren.

Marcellus räusperte sich nervös. »Sie wissen vielleicht, dass mein Großvater General Bonnefaçon ist.« Wieder zeigte sich keine Regung auf den Zügen der Défecteurin, obwohl er den Namen ihres Todfeindes genannt hatte. »Aber ich schwöre, dass ich nicht mehr für ihn arbeite. Sie müssen sich meinetwegen keine Sorgen machen –«

»Wenn ich mir deswegen Sorgen gemacht hätte, wärst du nicht hier.«

»In Ordnung.« Erleichterung flackerte in Marcellus auf, dicht gefolgt von Verwirrung. »Moment mal, warum machen Sie sich keine Sorgen?«

Brigitte lächelte. »Sagen wir einfach, dass wir dieselben Freunde haben.«

Marcellus war sich nicht sicher, was er mit ihrer Antwort anfangen sollte, also hob er sich seine Fragen für später auf. »Wie dem auch sei, wir sind nach Albion gereist, weil wir der Nachricht einer anonymen Quelle gefolgt sind, die mit dem General an der Entwicklung einer neuen Waffe gearbeitet hat.«

Chatine versteifte sich neben ihm. »Was für eine Waffe?«

Marcellus schaute Cerise an, die wiederum zu Alouette sah, die sich Chatines fragendem Blick stellte. »Es ist eine Aktualisierung der Télé-Häute, die auf alle Mitglieder des Dritten États angewendet werden soll. Damit wird der General die Macht erhalten, die Bevölkerung vollständig zu kontrollieren und zu grausamen Dingen zu zwingen.«

»Wir glauben, er will sie zu seinen Soldaten machen«, fügte Marcellus hinzu.

»Was?«, wisperte Chatine atemlos.

»Unsere Kontaktperson auf Albion hat einen Hemmstoff entwickelt, mit dem man das Volk schützen kann«, erklärte Marcellus. »Aber leider wurde der Großteil davon bei unserer Bruchlandung zerstört.«

»Was genau plant er mit dieser Waffe?«, fragte Chatine.

»Wir wissen es noch nicht«, antwortete Marcellus. »Nur, dass er die Kontrolle über das Régime erlangen will und dafür den Dritten État benutzen wird.«

Chatines Blick wanderte zu ihrem linken Handgelenk, und Marcellus entdeckte die verblassenden Narben, wo früher ihre Télé-Haut gewesen war.

Im selben Moment fiel ihm auf, dass die Médecin immer noch nicht auf das reagiert hatte, was sie gerade erzählt hatten. Als er aufsah, erkannte er, dass Brigittes Blick nicht auf ihn gerichtet war. Stattdessen hatte sie sich dem Operationssaal zugewandt, ihre Miene war nachdenklich, beinahe besorgt.

»Was ist denn?«, fragte Marcellus alarmiert.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Brigitte endlich antwortete. Sie ließ den Blick nicht vom OP-Saal, war eindeutig in Gedanken versunken. »Es ist etwas passiert, während ich euren Freund operiert habe.«

»Wie bitte?«, rief Cerise. »Was denn?«

»Kurz bevor ich seine Télé-Haut entfernte.« Brigitte klang zögernd, als versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen und gleichzeitig zu sprechen. »Etwas ist auf dem Bildschirm aufgetaucht. Ich glaube, es war eine offizielle Kundgebung.«

Marcellus wurde schlecht. Sein Großvater. Die Waffe. Es hatte begonnen. »Was denn?«, fragte er verzweifelt und sprang auf. »Was hat der General gesagt?«

Als Brigitte sich endlich wieder zu ihm umdrehte, lag etwas in ihrem Blick, das ihm zu verstehen gab, dass es schlimmer als erwartet war. »Nein, es kam nicht vom General. Es war der Patriarche.«