Kapitel 67

ALOUETTE

Alouettes Lungen brannten, und ihr Herz hämmerte wie eine Trommel in ihrer Brust. Die beiden Türme des Ministère-Gebäudes waren nur noch als unheimliches Glühen am Nachthimmel hinter ihr auszumachen.

»Marcellus!«, rief sie mit heiserer Stimme in ihr Headset, zum gefühlt hundertsten Mal. »Marcellus, bist du da?« Immer noch keine Antwort. Cerise musste die Verbindung getrennt haben, als sie ihren Vater den Gang entlangkommen gesehen hatte. Doch das hielt Alouette nicht davon ab, es trotzdem zu versuchen. Wieder und wieder und wieder.

Sie musste Marcellus warnen. Der General wusste, dass er auf der Fête war. Ihr gesamter Plan – und die Leben aller Anwesenden – war in Gefahr.

Sie konnte die düstere Silhouette des Grand Palais in der Ferne sehen. Während sie atemlos darauf zurannte, versuchte sie, sich ins Gedächtnis zu rufen, was Marcellus früher am Abend über die Sicherheitslücken im Zaun gesagt hatte. Es gab vier, eine lag nahe an den Gärten. Es war ihre beste Chance.

Sobald sie den Zaun erreicht hatte, zog sie den geborgten Télé-Com aus ihrer Tasche und benutzte sein Licht, um die dekorativen Fleurs-de-Lys anzuleuchten, die auf jedem Zaunpfahl thronten. Eilig lief sie des Gelände ab, bis sie eine Blume fand, die leicht abgeknickt war. An dieser Stelle kletterte Alouette über den Zaun.

Sie kam hart auf der anderen Seite auf, rannte aber sofort weiter. Der Nordflügel des Palais kam in Sicht. Er war riesig und hell erleuchtet. Direkt vor sich entdeckte Alouette eine kleine Treppe, die auf die Grande Terrasse führte. Von dort aus würde sie einen Überblick über die Feierlichkeiten bekommen. Sie eilte darauf zu, ihre Muskeln protestierten, ihr Atem ging stoßweise.

Fast geschafft.

Sie rannte die Stufen hinauf und sprang gerade auf die Terrasse, als sich eine Flügeltür schwungvoll öffnete. Alouette kam schlitternd zum Stehen und sah sich panisch nach einem Versteck um, doch da war nichts. Und sie hatte keine Zeit mehr.

»Die Fête wird hoffentlich nicht die ganze Nacht dauern«, sagte eine dröhnende Stimme. »Ich habe Besseres zu tun.«

»Es dauert sicher nicht länger als ein paar Minuten«, antwortete eine andere, unterwürfige Stimme.

Als Alouettes Blick auf die beiden Männer fiel, die durch die Tür kamen, erstarrte ihr ganzer Körper. Den Mann, der vorausging, erkannte sie nicht, er war irgendein Berater in einer dunkelgrünen Robe. Doch der andere … Allein bei seinem Anblick drehte sich Alouette der Magen um, und ihre Knie wurden weich. Sein dickes, perfekt frisiertes Haar glänzte im Licht der Laternen auf der Terrasse. Natürlich erkannte sie ihn. Auf ganz Laterre gab es niemanden, der nicht wusste, wer dieser Mann war.

Patriarche Lyon Paresse, Herrscher von Laterre.

Und er starrte sie an.

Sie wollte wegrennen, fliehen, doch aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht bewegen. Irgendetwas lag in seinem gebannten Gesichtsausdruck, dem offen stehenden Mund, als hätte er gerade einen Geist gesehen, das Alouette an Ort und Stelle hielt.

Und dann sprach er, stotterte die einzigen zwei Silben im ganzen Universum, die Alouettes Herz anhalten konnten. Die ganze Welt schien stillzustehen.

»Lisole?«

Es war nicht mehr als ein Flüstern, schockiert und überrascht und …

Er erkennt mich, dachte Alouette erschrocken.

Doch es war nicht sie, die er zu kennen glaubte. Er starrte Alouette mit derselben Verblüffung, demselben Unglauben an wie Madame Blanchard im Bordell in Montfer. Seine wässrigen grauen Augen waren weit aufgerissen, blinzelten kein einziges Mal. Er war völlig verzaubert von ihrer Erscheinung.

Nein, nicht von Alouette.

Von ihrer Mutter, die er zu sehen glaubte.

»Monsieur le Patriarche«, sagte der Berater mit einem beunruhigten Blick auf Alouette und ihren Kittel. »Wir sollten zum Bankett gehen. Die Matrone wartet dort auf Euch.« Er versuchte, den Patriarchen zum Weitergehen zu animieren, doch Lyon weigerte sich und wandte sich stattdessen zu Alouette um.

»Lisole!«, rief er wieder. Diesmal war es keine Frage. Es war eine Antwort. Ein erleichtertes Seufzen. »Ich dachte, du wärst … Sie haben mir erzählt, du wärst …« Seine Stimme verlor sich. Und da entdeckte Alouette etwas in seiner Miene, das sie tief im Inneren aufwühlte und völlig verwirrte.

Zuneigung.

Verblüfft und überwältigt wich Alouette zurück, doch etwas an der grünen Robe des Beraters ließ sie abermals erstarren. Ihr Blick fiel auf seine Brusttasche, auf die ein verschlungenes Emblem gestickt war.

Und plötzlich hörte Alouette nichts mehr bis auf das laut rauschende Blut in ihren Ohren.

Sie beugte sich vor, als würde die kleine Stickerei sie magisch anziehen.

Zwei Löwen standen mit geöffneten Mäulern auf den Hinterbeinen, die Vorderpfoten hoch in die Luft gereckt.

Es waren dieselben Löwen wie jene, die in den Deckel ihrer Titanium-Schatulle geschnitzt worden waren. Sie war zwar beim Absturz des Voyageurs verloren gegangen, doch Alouette hatte so viele Stunden damit verbracht, sie zu betrachten, dass sie die kunstvolle Verzierung aus dem Gedächtnis hätte aufzeichnen können.

Und trotzdem hatte ihr Kopf die Verbindung bislang nicht hergestellt.

Es war das Wappen der Familie Paresse.

Alouette hatte das majestätische Abzeichen unzählige Male in den Chroniken gesehen, es jedoch nie mit dem Bild auf der Schatulle ihrer Mutter in Verbindung gebracht. Vielleicht, weil es keine augenscheinlichen Gemeinsamkeiten zu geben schien. Ihre Mutter und die Herrscherfamilie waren so weit voneinander entfernt wie Usonien und Sol 1.

Was hatte ihre Mutter mit einer Schatulle der Paresses zu tun gehabt?

»Monsieur le Patriarche«, ertönte eine andere Stimme. Sie war tief und sprach in knappem, präzisem Ton, und obwohl Alouette sie noch nie gehört hatte, wurde ihr augenblicklich eiskalt. »Stimmt etwas nicht? Wir warten auf der anderen Seite der Terrasse auf Euch. Wir müssen zum Bankett gehen.«

Zuerst sah Alouette nur die weiße Uniformjacke mit den funkelnden Titanium-Knöpfen, die sich auf sie zubewegte. Dann fielen ihr die breiten Schultern auf. Das dichte Haar, die haselnussbraunen Augen – genau wie bei Marcellus. Jedes Molekül in ihrem Körper schien zu explodieren wie eine Sol, die ihr Leben ausgehaucht hatte.

»Aber schauen Sie nur, General!«, ereiferte sich der Patriarche stotternd und mit weit aufgerissenen Augen, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht. »Sie ist es! Lisole. W-w-wie ist das möglich? Sie haben mir doch gesagt, sie sei tot.«

Der grausame, durchdringende Blick des Generals legte sich auf Alouette, und als sein Kiefer sich anspannte, die Augen sich unmerklich weiteten, wurde Alouette klar, dass er ganz genau wusste, wer sie war. »Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend«, sagte er nüchtern. »Warum schließt Ihr Euch nicht Eurer Frau an, und ich kümmere mich darum.«

Lauf!

Das Wort raste durch Alouettes Geist, und sie wusste augenblicklich, dass es ihre einzige Option war. Doch dem General schien es ebenso zu gehen, denn bevor sie auch nur einen Schritt machen konnte, hatte sich seine riesige Hand schon um ihren Arm geschlossen, und er zog sie wieder auf die Treppe zu, von der sie gekommen war.

Sie wehrte sich, versuchte, sich aus seinem Schraubstockgriff zu befreien, doch er war zu stark. Er schüttelte sie kurz und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich weiß, warum du hier bist. Ich weiß, was du vorhast. Aber ich habe nicht so lange und so hart gearbeitet, damit mir nun alles von der Tochter einer wertlosen Bluthure kaputt gemacht wird.«

Er schnipste mit den Fingern, und zwei Offiziere in weißen Uniformen, die in der Nähe patrouillierten, kamen herbeigeeilt. Alouette schluckte schwer, sie glaubte, ihr Herz würde jeden Moment aus ihrer Brust springen.

»Offiziere«, sagte der General mit Befehlsstimme. »Diese Bedienstete wurde dabei erwischt, wie sie versuchte, den Patriarchen zu bestehlen. Nehmen Sie sie in Gewahrsam. Ich kümmere mich nach dem Bankett um sie. Lassen Sie sie nicht entkommen.«