Kapitel 1

W enn er die Wahl hatte, spielte er lieber Go als Schach. Die Einfachheit der schwarzen und weißen Scheiben, die in einem Spiel, das Tage dauern kann, über das Brett bewegt werden, hatte etwas Beruhigendes. Bei beiden Spielen mussten die Spieler mehr als zwölf Züge im Voraus denken, aber niemand spielte Go mit einer Stoppuhr. Als er mit seinem früheren Partner auf Missionen war, konnte eine Partie Denkschach Tage dauern, bis sie beendet war.

Und jetzt? Blitzschach hatte ihm den ganzen Spaß genommen, aber das Spiel half ihm, seinen Verstand flink zu halten, während er die ›Schottische Eröffnung‹ und die darauffolgenden Züge gedanklich durcharbeitete.

Die Überwachung ist eine mühsame Arbeit, vor allem, wenn du einsachtzig groß bist und stundenlang sitzen musst. Deine Augen müssen ständig von einem hochauflösenden Objektiv zum anderen wechseln, während dein Ohrhörer jeden Gesprächsfetzen aufnimmt.

Er riskierte ein paar Minuten, um ein paar umgekehrte Klimmzüge an einer Stange zu machen, die er in der Loftwohnung montiert hatte, während sein Richtmikrofon alle Gespräche aus dem Gebäude gegenüber aufnahm.

So viel zur Banalität. Er zählte seine fünfzig Wiederholungen ab und kehrte zu seinen Kameras zurück.

Über die Sizilianer und ihre Cosa Nostra gab es Bücher und Filme. Obwohl er der Meinung war, dass der Begriff ›organisiertes Verbrechen‹ bei ihnen doch etwas übertrieben war, hatten sie zumindest ihre Finger in jede verfügbare Pfütze getaucht, die nach Lasterunterkunft aussah.

Auf der anderen Seite hatte die neapolitanische Camorra – nicht, dass er über irgendjemanden urteilen würde – einen anderen Schwerpunkt entwickelt. Sie hatte sich auf den Drogenhandel spezialisiert, in Zusammenarbeit mit ihren Freunden auf dem südamerikanischen Kontinent.

Pain, Vorname M, hatte mehr Respekt vor einer Bande, die sich für Vielfalt entschied, als vor einem Clan mit einem so begrenzten Aktionsradius wie die Camorra.

Der Auftrag, den er jetzt hatte, war in keinster Weise offiziell. Es war einfach etwas, das er tun musste. Er wusste nicht, ob er als fahnenflüchtig oder als vermisst gemeldet war, aber er war sich ziemlich sicher, dass er bei den Schreibtischhengsten in der Zentrale derzeit eine Persona non grata war. Dennoch hatte er keine Bedenken wegen der begrenzten Aufmerksamkeit, für die er sich entschieden hatte. Langeweile war Teil des Prozesses und er war seinem ehemaligen Partner dankbar, dass er die Übung, sich an die Eröffnungsschachgambits zu erinnern, in seine Beobachtungsroutine eingebaut hatte.

Er kehrte zu seiner Überwachung der Suite im obersten Stockwerk auf der anderen Straßenseite zurück und hielt sich eine Hand ans Ohr, um die Gespräche, die sein Mikrofon aufnahm, besser zu hören.

»Ich sag’s dir, Pops«, sagte gerade eine junge Stimme. Für Pains Ohren klang ›Pops‹ nicht wie eine Anrede, um seinen Vater oder Großvater in einer freundlichen, vertrauten Art und Weise anzusprechen. Es klang wie die Anrede eines Jungspunds, der jederzeit bereit war, seinen alten Herren in die Pfanne zu hauen. Er drehte den Ton lauter.

»Es wird Zeit, dass wir aggressiver werden«, fuhr die junge Stimme fort und er gab dem jüngeren Sprecher gedanklich den Namen Punk. Pops und Punk . Er lächelte. Mal sehen, wie sich das entwickelt.

»Wir haben schon so lange mit unseren Freunden im Süden zu tun«, fuhr Punk fort und Pain wusste, dass er die südamerikanischen Kartelle meinte, »dass wir vergessen haben, dass sie nicht der einzige Spielpartner in der Stadt sind. Wir müssen ihnen gegenüber aggressiver werden.«

»Aggressiv in welcher Hinsicht?«, fragte Pops. »Warum musst du bei Freunden plötzlich aggressiv werden?«

»So etwas wie Freunde gibt es nicht«, entgegnete das junge Gangmitglied. »Nur Lieferanten. Ich habe Kontakt zu den Afrikanern aufgenommen. Die sagen, sie können uns zum halben Preis beliefern.«

»Oh«, antwortete der Camorra-Anführer, »ich wusste nicht, dass du mit einem nigerianischen Prinzen in Kontakt stehst, der möchte, dass wir ihm helfen, die Opiumfelder zurückzuerobern, die ihm sein Onkel vermacht hat.«

Dem nachfolgenden Schweigen des Jungen zufolge kam Pain nicht umhin zu vermuten, dass Pops Bemerkung der Wahrheit wahrscheinlich ziemlich nahekam.

»Wir müssen in der Lage sein, weiterhin Qualitätsware anzubieten«, fuhr der ältere Mann fort. »Sonst werden die Gewinne versiegen. Wir müssen immer den Weg gehen, der die höchsten Gewinne verspricht.«

Der Weg zu den höchsten Gewinnen . Er schnaufte amüsiert. Das werde ich mir merken müssen.

»Das einzige Problem mit dieser Philosophie«, sagte er und kicherte über die Idee und die Tatsache, dass sie ihn nicht hören würden, »ist, dass sie vielleicht nicht gut genug ist, um dich am Leben zu erhalten.«

Aber wenn er wetten würde, würde er darauf setzen, dass Pops zumindest Punk überlebte.

Aus Gewohnheit wechselte Pain zu seinem zweiten Zielfernrohr, das auf den Eingang desselben Gebäudes ausgerichtet war. Das Fle-Noir , einer der beliebtesten Clubs der Stadt, befand sich im ersten Stock und die Geschäfte, die die Gäste des Clubs nichts angingen, wurden ein paar Stockwerke höher abgewickelt.

»Was ist das jetzt?«, murmelte er. Wenn er in der Gesellschaft anderer war, behielt er seine Gedanken immer für sich. Aber während einer Überwachung, wenn er niemanden zum Reden hatte, neigte er dazu, seine Gedanken auszusprechen. Wenn er jemals eine akustische Antwort von einem anderen Pain im Raum bekommen hätte, hätte er sich professionelle Hilfe gesucht. Da das gerade heute nicht der Fall war, verschob er die Therapie auf ein anderes Mal und konzentrierte sich auf die Tür am Eingang des Clubs. Obwohl es noch früh am Abend war, gab es bereits eine Schlange, die auf Einlass wartete.

Sein Blick blieb an einer Frau hängen, die sich dem Eingang näherte. Ein Polizistenblick lag in ihrem Gesicht, das manche als streng bezeichnen würden, aber er mochte lieber streng als sanft und fand sie hinreißend. Er war nicht auf dem neuesten Stand, was Frisuren anging, aber der kurzgeschorene Annie-Lennox-Look musste wohl gerade ein Comeback feiern. An ihr, mit ihrem fast schwarzen Haar, sah er gut aus.

Der lange Mantel könnte mehrere Waffen verbergen. Er hätte nicht dagegen gewettet, als er sie beobachtete, wie sie sich an die Spitze der Schlange schlängelte. Sie war größer als die meisten Frauen und die Hälfte der Männer. Er schätzte sie auf einsachtzig.

»Du bist offensichtlich aus geschäftlichen Gründen hier«, murmelte er. »Sei bitte schlau und misch dich nicht in mein Geschäft ein.«

Während er über die ›Schottische Eröffnung‹ nachdachte, beobachtete er, wie sie am Seil ankam und wie der Türsteher nickte, obwohl seine Hand das Seil erst öffnete, nachdem er einen Anruf getätigt hatte. Pain behielt die Tür im Auge, aber sein Mikrofon blieb auf das Büro im Obergeschoss gerichtet und die Stimmen waren nicht immer klar zu verstehen. Der Ruf des Türstehers musste erhört worden sein, denn einer der jungen Gangster verkündete: »Das Miststück ist hier.«

Okay. Er notierte sich die bisherigen Spieler. Ich habe Pops, den Punk, den Rausschmeißer und das Miststück.

»Bring sie hoch«, befahl Pops.

Diese Entscheidung wurde mit einem Stimmengewirr quittiert, das alles andere als glücklich klang, gemischt mit ein paar Rufen und Pfiffen. Der Befehl wurde befolgt und ein weiterer Türsteher erschien. Das absperrende Seil wurde ausgehängt, der neue Mann eskortierte das Miststück hinein und Pain konzentrierte sich wieder ganz auf die Kamera, die auf das Büro gerichtet war.

Die verdunkelten Fenster verhinderten nicht, dass sein P-59-Objektiv eine klare Sicht hatte, obwohl es alles und jeden im Inneren in ein sanftes, gelbes Licht tauchte. Auch hier waren die Stimmen im Inneren schwer zu verstehen. Er würde sein Mikrofon bald aufrüsten müssen. Sein jetziges war gut, wenn nur eine Stimme gleichzeitig sprach, aber nicht so gut, wenn mehrere auf einmal redeten.

Sein Objektiv funktionierte jedoch einwandfrei, obwohl ihm nicht gefiel, was er sah. Es schien eine einheitliche Bewegung und Positionierung zu geben und er war sich sicher, dass jeder Spieler bewaffnet war. Für das Miststück war er nicht verantwortlich, aber er hatte sich noch nie für den Anblick von Lämmern interessiert, die zur Schlachtbank geführt wurden. Vielleicht irrte er sich ja auch. Vielleicht war es nichts weiter als ein Einschüchterungsmanöver.

Dieser hoffnungsvolle Gedanke verschwand, als er eine Stimme hörte, die fragte: »Und wer wird hinterher die Schweinerei aufräumen?«

»Scheiße.« Dieses Mal murmelte er nicht. Er wusste zwar nichts über das Miststück, aber er wusste, dass Pops und die Punks keine guten Menschen waren. Es schien also logisch, dass sie, wenn sie vorhatten, sie zu beseitigen, ein guter Mensch sein musste. Natürlich , so dachte er kurz nach, könnte sie auch die Konkurrenz und genauso schlecht sein.

Dennoch tendierte sein Instinkt zu Ersterem – und ja, vielleicht lag es daran, dass er glauben wollte, dass sie gut war. Wie auch immer, er konnte nicht einfach zusehen, wie sich die Dinge entwickelten, denn seine erste Wahrnehmung könnte die richtige sein. Er hatte nicht immer eine Wahl, aber wenn er sie hatte, versuchte er, sich auf die Seite des Guten zu schlagen. Bleib rechtschaffen, mein Freund , ermahnte ihn eine Stimme aus seiner Vergangenheit.

Pain war damit beschäftigt, rechtschaffen zu sein. Die ganze Zeit über fluchend, packte und verstaute er seine gesamte Ausrüstung bis auf das Mikrofon und trug sie auf das Dach. Er wusste, dass der Müllcontainer in der Gasse erst in drei Tagen geleert werden würde, was ihm mehr als genug Zeit geben sollte, seine Ausrüstung zu holen. Nach einem hastigen Blick nach unten warf er den verschlossenen Koffer über die Kante und freute sich jetzt schon nicht über den Müll, den er später durchwühlen musste, um seine Ausrüstung zu holen.

Er rannte zur Vorderseite des Gebäudes. »Scheiß auf die Regierung der Vereinigten Staaten und ihre bürokratischen Agenturen, wo alle ihre Köpfe nicht aus ihrem eigenen Arsch rausbekommen! Und ich piss auf die Camorra. Mögen sie alle in einem kochenden Bottich mit Alfredo-Sauce sterben!«

Hastig schnallte er sich sein Gurtzeug um. Er hatte drei Wochen gebraucht, um die Seilbahn zu dem Gebäude auf der anderen Straßenseite aufzubauen und so hatte er sie nicht benutzen wollen. Die Leine selbst war so stark wie Stahl, aber aus einem hochdichten Nylon-Hybrid, das keinen Strom leitete, sodass er die vorhandenen Stromleitungen hatte nutzen können, um die Leine unentdeckt über die Straße zu bekommen.

»Du hast besser tiefe Taschen, Fräulein Miststück. Das Zeug ist nicht billig und wenn ich es verschwenden muss, um dich zu retten, erwarte ich eine kleine finanzielle Entschädigung.«

Pain hörte lange genug auf zu fluchen, um zuzuhören und die Situation auf der anderen Straßenseite neu einzuschätzen. Wenn die Sache schiefging, schuldete sie ihm vielleicht auch noch das Mikrofon, das er in Betrieb gelassen hatte. Auch wenn seine Kameras eingepackt waren und in einem Müllcontainer auf ihn warteten, brauchte er das Mikrofon, um zu hören, wie sich die Situation entwickelte. Es war nicht sinnvoll, einen übermäßig dramatischen Auftritt hinzulegen, wenn sich kein wirkliches Drama abspielte.

»Willkommen, Miss Goni«, sagte Pops. »Was verschafft uns die Ehre?«

Der Name des Miststücks ist Joni? Sie sah nicht aus wie eine Joni. Es kam ihm einfach nicht in den Sinn, dass es ein G sein könnte, das die weichere Aussprache wie in Giraffe trägt und nicht ein J.

* * *

Agony war schon oft in dem Club gewesen, aber immer als Gesetzeshüterin, wenn sie die Besitzer daran erinnerte, dass sie sie immer auf dem Radar hatte. Sie hatte oft darüber nachgedacht, in ihrer Freizeit in den Club zu gehen, um die Nacht durchzutanzen, aber es war nie eine gute Idee, sich mit ihren Feinden zu sehr anzufreunden. In ihrem Berufszweig endete der Versuch, Geschäft und Vergnügen zu verbinden, selten als positive Erfahrung.

Sie schaute sich das Hauptgeschoss an und folgte dem Türsteher zu einer der beiden offenen Treppen, die in den zweiten Stock führten. Das Fle-Noir präsentierte sich in den Nächten, in denen es geöffnet war, abwechselnd auf zwei verschiedene Arten. In der einen Nacht wurde getanzt – blinkende Lichter, ohrenbetäubende Musik und eine Tanzfläche voller sich drehender Körper, die zu den pulsierenden Beats tanzten.

An diesem Abend war nichts als chillige Eleganz angesagt. Es war nicht ungewöhnlich, dass zwei Leute, die sich in der Nacht zuvor auf der Tanzfläche getroffen hatten, zurückkamen und sich unterhielten, denn bei der lauten Musik war ein Gespräch nur selten möglich.

Obwohl es eine ruhige Nacht war, stellte sie fest, dass die Anzahl der Muskelpakete in Anzügen ungefähr genauso hoch war wie in den Tanznächten. Zusätzlich zu den Türstehern gab es auch einige gut aussehende Männer, die alle ebenfalls auf der Lohnliste der Mafiosi zu stehen schienen. Sie hatte den Verdacht, dass die Beziehung zwischen der Camorra und den Kolumbianern nicht mehr so reibungslos war wie früher. Die Mexikaner könnten Druck ausüben und man wusste nie, was die Freunde auf der anderen Seite des großen Teichs in Russland oder in einem afrikanischen Land vorhatten.

Agony fand, das könnte gut für sie sein. Sie war nur da, um höflich eine einfache Bitte vorzutragen, nämlich dass man sie ihren Geschäften nachgehen lassen sollte. Da sie schon so viel anderes zu tun hatten, warum sollten sie Ärger suchen, wo es keinen gibt? Eine Sorge weniger für sie, richtig? Sie hoffte, dass sie die Logik darin erkennen würden.

Die übliche Prozedur war, dass die Türsteher die Treppe hinaufgingen und die Bittsteller ihnen folgten, aber da sie eine regelmäßige Besucherin war und den Weg kannte, ließ er ihr den Vortritt und folgte ihr. Apropos Hintern: Obwohl ihr langer Mantel einen genauen Blick darauf verhinderte, wusste sie, dass der Türsteher seine ›Ladies first‹-Höflichkeit vor allem damit begründete, dass er so die Möglichkeit hatte, ihren Hintern auf dem ganzen Weg nach oben ausgiebig zu studieren.

Als sie die oberste Etage erreichten, übernahm der Türsteher wieder die Führung, klopfte zweimal leicht, öffnete die Tür und zog sich leise zurück.

»Komm rein, komm rein.« Augusto Zaza begrüßte sie. »Willkommen, Miss Goni. Wie kommen wir zu diesem Vergnügen?«

Ihre Instinkte meldeten sich und sie untersuchte hastig den Raum. Alle schienen auf einer Seite zu stehen – und das war sicher nicht ihre Seite. Außerdem schien jeder Mafiosi eine Hand außer Sichtweite zu halten, was nie ein gutes Zeichen war.

»Ach, komm schon, Gus.« Sie benutzte ihren Kosenamen für den älteren Chef der Camorra, obwohl sie schon immer wusste, dass ihn das ärgerte. Kaum hatte sie es ausgesprochen, schimpfte sie im Geiste mit sich selbst, weil sie ihn geärgert hatte, obwohl sie keine Dienstmarke mehr besaß. Sie gab sich auch keine Extrapunkte dafür, dass sie sich in eine unbekannte Situation begeben hatte, in der sie keine Verstärkung rufen konnte.

Auf dem Dach gegenüber, auch wenn er durch die verdunkelten Fenster nichts sehen konnte, erinnerte Pain sich daran, dass zumindest immer nur eine Person sprach. Das Mädchen hatte Chuzpe, das musste er ihr lassen. Er wusste, dass Augusto Zaza es genauso wenig mochte, Gus genannt zu werden, wie es dem Mafia-Patriarchen gefallen hätte, wenn er ihn Pops genannt hätte.

»Sie sind nicht mehr im Besitz einer Dienstmarke, Miss Goni«, antwortete der alte Mann. »Sie stellen also nicht mehr die Gefahr dar, die Sie einst verkörperten, als Sie so vielen meiner Geschäftspartner vorübergehend Unannehmlichkeiten bereiteten.«

Agony wusste nicht, ob sie mit den Füßen scharren oder sich verbeugen sollte. »Es war nie etwas Persönliches.« Sie entschied sich für ein leichtes Lächeln. »Ich war nur eine Angestellte, die versucht hat, ihren Job zu machen.«

»Wir haben eine Menge hart arbeitende Mädchen«, mischte sich einer der Punks ein. »Wenn du für mich arbeiten würdest, verdienst du viel mehr Geld, als du jemals mit einer Dienstmarke bekommen hättest.«

»Mit deinem Aussehen«, fügte eine andere Stimme hinzu, »können wir dich im mittleren Management einsetzen. So kannst du ganz oben anfangen.«

»Oder vielleicht«, fragte der erste Punk, »liegst du lieber unten?«

»Rispetto!« Zaza brachte das Schimpfen und Lachen zum Schweigen.

»Selbst mit einer Marke, Augusto« – sie erinnerte sich daran, dass sie hier war, um ihn um einen Gefallen zu bitten und nicht, um ihm in die Eier zu treten – »konnte ich Ihnen nie ernsthaften Schaden zufügen.«

»Das ist wahr, Miss Goni.« Der alte Mann nickte. »Das liegt daran, dass ich Zaza bin. Wie Sie wissen, besteht mein Name aus nur zwei Buchstaben im Alphabet. Aus dem ersten und dem letzten. Ich stehe am Anfang und ich stehe am Ende. Sie sind nur einer der vielen kleinen Buchstaben, die in der Mitte durcheinandergewürfelt wurden.«

»Ja, Augusto, das ist genau das, was ich bin. Ein durcheinander in der Mitte.«

»Also, Miss Goni in der Mitte, ohne Dienstmarke und nicht arbeitssuchend, bitte beantworten Sie meine erste Frage. Wem verdanken wir dieses Vergnügen?«

»Ich bin jetzt Privatdetektiv, Gus«, antwortete sie gleichmäßig, »ich arbeite an einem Vermisstenfall. Er hat nichts mit Ihnen und Ihrer Familie zu tun, aber es kann sein, dass ich in Ihr Gebiet ermitteln muss, um einigen Leuten ein paar Fragen zu stellen. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass mein einziges Interesse darin besteht, diese Person zu finden und ich hoffe, dass Sie mir das erlauben.«

»Wer ist diese Person?«, fragte Zaza. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«

»Sie bieten mir Ihre Hilfe an?« Hilfe von ihm war das Letzte, wonach sie gesucht hatte.

Er zuckte mit den Schultern: »Es kann doch nicht schaden, oder?«

»Gus, bei Ihnen kann es immer wehtun.«

»Leider ist das wahr.« Der Mann seufzte und zeigte seine Pistole, das Signal für alle anderen im Raum, es ihm gleichzutun.

Agony hatte mit einer rüden Behandlung durch die jungen Mafiosi gerechnet und schlimmstenfalls mit einem klaren Nein ihres Anführers. Eine direkte Hinrichtung stand auf einem ganz anderen Blatt.

»Ich wünschte, es wäre nicht so.« Er schien zu denken, dass sie zumindest eine Erklärung verdient hatte. »Jemand hat einen Vertrag auf Ihren charmanten Kopf ausgestellt, der den Tod vorsieht. Der Vertrag beinhaltet natürlich Geld und ein gewisses Maß an Spielraum bei der Verfolgung meiner verschiedenen Geschäftsinteressen. Mit anderen Worten, Miss Goni, es schmerzt mich, Ihnen mitteilen zu müssen, dass derjenige, der hinter Ihnen her ist, von Ihrer Seite des Gesetzes kommt, nicht von meiner. Das ist die schmerzhafteste Form des Verrats, nicht wahr?«

»Und es ist auch sehr ärgerlich«, gab sie zu, »aber das wundert mich nicht. Sie müssen das nicht tun, Gus.«

»Wie Sie bereits gesagt haben, geht es hier nur ums Geschäft. Nichts Persönliches. Wir waren doch Freunde, oder?«

»Freunde?« Agony konnte ihre Waffen heben, aber sie konnte auch verdammt gut mit einer Augenbraue hantieren.

»Dann halt eben freundschaftliche Feinde.« Zaza zuckte mit den Schultern. »Aber mehr Bewegungsfreiheit zusammen mit dem Geld? Wir haben das Angebot angenommen.«

»Was für eine Schande«, erwiderte sie ehrlich. »Von allen hatte ich gehofft, dass Sie derjenige sein würden, der lange genug lebt, um die Gangsterfantasie zu genießen, sich in eine kleine Villa mit gutem Wein, einer fetten Frau und einer dünnen Geliebten zurückzuziehen.«

»Von Ihrem Mund zu Gottes Ohren.« Er versäumte es, ein Amen hinzuzufügen. »Es war mir ein gelegentliches Vergnügen, Sie kennenzulernen, Miss Goni. Sie sind so hart, wie es nur geht, aber niemand ist kugelsicher.«

Sie wusste, dass sie nur die Zeit haben würde, zu ziehen und einen Schuss abzugeben, bevor ihr Körper durchlöchert werden würde. Ihre Gefühle für Gus führten dazu, dass sie sich auf den schlauesten der Jugendlichen konzentrierte, der sie zuvor verspottet hatte.

Agony hielt eine Sekunde inne, bevor sie ihre Waffe zog. Nein, das war nicht ihre Einbildung. Alle Anwesenden zeigten, dass sie den Aufruhr aus dem Flur auf der anderen Seite der Tür gehört hatten. Es war das Geräusch eines vielleicht einhundert Kilo schweren Gegenstandes, der an den Wänden und der Tür abprallte.

»Was zum Teufel ist da los?« Zaza blinzelte, als er sie ansah. »Sie sind keine Polizistin mehr, also haben Sie keine Unterstützung.«

Obwohl sie sich dessen vollends bewusst war, zuckte sie mit den Schultern und hoffte, dass das kalte Lächeln, das jetzt über ihre Lippen kam, alle davon ablenkte, dass sie einen festen Stand einnahm und ihre Muskeln in hoffnungsvoller Vorbereitung auf die bevorstehende Gewalt anspannte.

»Stuvo. Nahman«, befahl der Camorra-Anführer. »Kümmert euch um die Tür.«

Stuvo war der Erste, der die Tür erreichte und als er seine Hand auf den Knauf legte und ihn drehen wollte, wurde sein Arm gebrochen, als die Tür aufsprang. Auch dem Gesicht des jungen Punks tat das Holz der Tür keinen wirklichen Gefallen.

Aus ihrem Blickwinkel konnte Agony den Tritt in den Schritt nicht sehen, aber Nahman schrie auf, krümmte sich und sackte zusammen. Es gab keinen Zweifel an seinem Schmerz, aber umso mehr, ob er jemals in der Lage sein würde, genug funktionierende Spermien zu produzieren, um seine Familienlinie fortzusetzen.

Alle erstarrten für einen Moment, weil sie nicht genau wussten, was sie von dem Eindringling halten sollten, aber er gehörte auf jeden Fall zur Feind-Seite der Freund-Feind-Gleichung.

Eine kurze Sekunde später war die Hölle los, aber Agony und ihrem geübten Blick nahmen eine Menge Details auf.

Der Eindringling war einige Zentimeter größer als sie und von kräftiger Statur. Ohne sichtbare Anstrengung hielt er einen der harten Männer, die sie unten gesehen hatte, quer über die Brust und wuchtete ihn in die Gruppe der Mafiosi, die mit gezogenen Waffen in einer Reihe an der Wand standen.

Wie beurteilte man ein Gesicht, wenn man nur einen Sekundenbruchteil Zeit hatte? Wenn es eine Insel mitten im Mittelmeer gab, hätte das Gesicht sie verkörpern können – von Spanien bis Italien, vom Nahen Osten bis Ägypten und entlang der nordafrikanischen Küste bis nach Marokko hüpfend. Nur eine Sache war sicher. Er würde niemals mit einem Skandinavier verwechselt werden.

Er zeigte auch einen harten Gesamteindruck, um zu bezeugen, dass er schon eine Weile ein abwechslungsreiches Leben gelebt hatte – ein Aussehen, das ihm zu stehen schien. In seinen dunklen Augen lag nichts als Gefahr und ein Schimmer, der verriet, dass er mehr als bereit war, ein wenig wild zu werden, wenn es die Gelegenheit erforderte.

Der Körper, der auf die Menschen an der Wand geworfen worden war, brachte drei der Männer zu Fall. Agony nutzte den Moment des gemeinsamen Schocks, um einen bunten Mini-Springbrunnen von einem Beistelltisch in das Gesicht des jungen Mafiosos zu kicken, der noch stand und die beste Sicht auf sie hatte. Sie hob ihre Pistole, die sie in ihrem langen Mantel versteckt hatte und gab den ersten Schuss ab.

Dann begann der Spaß erst richtig.