Als Autor narrativer Werke bin ich ein eher anomales Subjekt. Denn ich habe im Alter von acht bis fünfzehn angefangen, Erzählungen und Romane zu schreiben, dann habe ich aufgehört, um es erst mit annähernd fünfzig neu zu versuchen. Vor diesem Ausbruch lange gereifter Schamlosigkeit habe ich mehr als dreißig Jahre in vorgeblicher Scham gelebt. Ich sage »vorgeblich«. Dazu gleich mehr. Aber gehen wir der Reihe nach vor, also machen wir, wie es meine erzählerische Gewohnheit ist, einen Schritt zurück.
Angefangen mit dem Romanschreiben habe ich so: Ich nahm ein Heft und schrieb die Titelseite. Der Titel klang nach Salgari, denn seine Romane waren meine Quellen (zusammen mit denen von Verne, Boussenard und Jacolliot in den Jahrgängen 1911 - 1921 des Giornale illustrato dei viaggi e delle avventure di terra e di mare, die ich in einer Kiste im Keller entdeckt hatte). Also Titel wie Gli scorridori del Labrador (Die Kundschafter von
Labrador) oder Lo sciabecco fantasma (Der Geisterkahn). Dann schrieb ich unten den Verlag hin, er hieß Tipografia Matenna (eine kühne Zusammenziehung von matita und penna, Bleistift und Feder). Danach machte ich mich an die Auswahl der Illustrationen, die alle zehn Seiten eingefügt werden sollten, nach dem Muster der Illustrationen von Della Valle oder Amato in den Salgari-Ausgaben.
Die Auswahl der Illustrationen bestimmte die Geschichte, die ich dann schreiben mußte. Tatsächlich schrieb ich einige Seiten des ersten Kapitels. Doch um die Sache richtig professionell aussehen zu lassen, schrieb ich in Blockschrift, ohne mir irgendwelche Korrekturen zu erlauben. Versteht sich, daß ich das Unternehmen nach einigen Seiten abbrach. So war ich zu jener Zeit nur der Autor großer unvollendeter Romane.
Von dieser Produktion (die bei irgendeinem Umzug verlorengegangen ist) habe ich nur noch ein Werk, das zwar vollendet, aber von unbestimmter Gattung ist. Ich hatte eine Art großes Schreibheft geschenkt bekommen, dessen Seiten feine waagerechte Linien und breite veilchenblaue Ränder aufwiesen. Das brachte mich auf die Idee (auf der Titelseite steht das Datum 1942, XXI Era Fascista, wie es damals Pflicht und Brauch war), ein Werk namens In nome del »Calendario« zu schreiben, das Tagebuch eines Zauberers Pirimpimpino, des Entdeckers, Kolonisators und Reformators einer Insel im Arktischen Eismeer namens Ghianda, deren Bewohner den Gott Calendario anbeteten. Dieser Pirimpimpino notierte Tag für Tag mit großer dokumentarischer Pingeligkeit Fakten und (wie ich heute sagen würde) sozio-ethnologische Strukturen seines Volkes, wobei er diese trockenen Aufzählungen mit kleinen literarischen Übungen auflockerte. Zum Beispiel finde ich da eine »futuristische Erzählung«, die so geht: »Luigi war ein tapferer Mann, weshalb er sich, nachdem er die Teller der Häsinnen geküßt hatte, in den Lateran begab, um das passato prossimo zu kaufen [...] Doch unterwegs fiel er in einen Berg und starb. Erschütterndes Beispiel für Heroismus und Philanthropie, wurde er von den Telegrafenmasten beweint.«
Im übrigen beschrieb (und zeichnete) der Ich-Erzähler die Insel, über die er herrschte, mit Wäldern, Seen, Küsten und bergigen Gegenden, erging sich über seine sozialen Reformen, über Riten und Mythen seines Volkes, stellte seine Minister vor, berichtete von Kriegen und Pestilenzen ... Der Text alternierte mit Zeichnungen, und die Erzählung (die keinerlei Regeln irgendwelcher Gattungen gehorchte) mündete in die Enzyklopädie - und mit dem Wissen von heute sieht man, wie die Kühnheiten der Kindheit die Schwächen des Erwachsenen determinieren können.
Als ich nicht mehr wußte, was ich der Insel und ihrem Herrscher noch widerfahren lassen sollte, ließ ich ihn auf Seite 29 mit den Worten schließen: »Ich werde eine lange Reise unternehmen . Vielleicht werde ich auch nicht wiederkommen. Ein kleines Geständnis: In den ersten Tagen habe ich mich als Zauberer bezeichnet. Das war gelogen, ich heiße nur Pirimpimpino. Verzeiht mir.«
Nach diesen Versuchen beschloß ich, mich auf Comics zu verlegen, und brachte tatsächlich einige zustande. Hätte es damals schon Fotokopierer gegeben, ich hätte sie weit verbreitet. Statt dessen schlug ich meinen Schulkameraden vor, um der Ressourcenknappheit meiner Schreibwerkstatt abzuhelfen, mir so viele Lagen Karopapier zu geben, wie das Album Seiten enthielt, plus einige zur Kompensation der aufgewandten Mühe und Tinte, und versprach ihnen, entsprechend viele Kopien des Abenteuers zu produzieren. Ich fertigte alle Verträge aus, ohne mir bewußt zu machen, wie mühsam es sein würde, zehnmal denselben Comic zu zeichnen. Am Ende mußte ich das Papier beschämt zurückgeben, gedemütigt für mein Scheitern nicht als Autor, sondern als Verleger.
In der Unterstufe des Gymnasiums schrieb ich Erzählungen, weil damals die traditionellen Schulaufsätze mit vorgegebenen Themen durch sogenannte »Chroniken« ersetzt worden waren, in denen man frei gewählte Erlebnisse erzählen sollte. Ich glänzte mit humoristischen Stücken. Mein Lieblingsautor war damals P. G. Wode-house. Mein Meisterwerk besitze ich noch: die Beschreibung, wie ich einmal vor Nachbarn und Verwandten, nach langer Vorbereitung und vielen Versuchen, ein technisches Wunderwerk vorgeführt hatte: eines der ersten unzerbrechlichen Gläser, das ich triumphierend zu Boden fallen ließ, wo es natürlich in Scherben ging.
1944 - 45 beschäftigte ich mich mit Epik, mit einer Parodie der Divina Commedia und einer Reihe von Porträts der olympischen Götter, wiederbesichtigt in jenen dunklen Jahren, das heißt im täglichen Ringen mit der Lebensmittelrationierung, der allabendlichen Verdunkelung und den Liedern von Rabagliati. Alles in klassischen Elfsilblern. Solchen wie diesen, damit wir uns recht verstehen:
Ecco qui Apollo, 1’anima piu eletta di quell’Olimpo degli Dei magione, suonare qualche lieve musichetta, senza. piu cetra o Um, ed ha, ragione; ei suona il pianoforte, la, cornetta, il flauto, fisarmonica e trombone.
Perché sprecar la lira se il denaro
per comprar l’olio in questi tempi e caro?
Hier sehen wir Apoll, die erlesenste Seele dieses Olymps, der Götter Behausung, ein leichtes Musikstückchen spielen, nicht mehr auf der Kithara oder der Lyra, und er hat recht;
er spielt Klavier, Kornett,
Flöte, Ziehharmonika und Posaune.
Warum die Lyra (= Lira) verschwenden, wenn das Geld zum Kauf von Öl in diesen Zeiten so teuer ist?
In den nächsten zwei Gymnasialjahren schrieb ich eine Vita illustrata di Euterpe Clips (mit Illustrationen), deren literarisches Vorbild die Romane von Giovanni Mosca und Giovanni Guareschi waren. Es folgten einige Erzählungen mit ernsteren literarischen Absichten. Ich würde sagen, der beherrschende Ton war ein magischer Realismus a la Bontempelli. Lange Zeit bin ich früh aufgestanden, um an einer Novelle namens »Das Konzert« zu arbeiten, die eine interessante erzählerische Idee enthielt. Mario Tobia, ein erfolgloser Komponist, holt alle spiritistischen Medien der Welt zusammen, um sich von ihnen die großen Musiker der Vergangenheit in Form von Ektoplasmen aufs Podium produzieren zu lassen, zwecks Aufführung seiner Komposition Konradin von Schwaben. Beethoven als Dirigent, Liszt am Flügel, Paganini an der Geige etc. Ein einziger Zeitgenosse, der schwarze Jazzer Louis Robertson, an der Posaune. Die Beschreibung war nicht schlecht, wie es den Medien allmählich nicht mehr gelang, ihre Kreaturen am Leben zu erhalten, so daß die Großen der Vergangenheit sich nach und nach auflösten, unter dem dissonanten Miauen und Krächzen ersterbender Instrumente, bis allein auf dem Podium, hoch, magisch, unangefochten, Robertsons Posaune ertönte.
Ich sollte meine getreuen Leser (vierundzwanzig an der Zahl, um nicht mit dem Meister zu wetteifern, den ich nur an Bescheidenheit übertreffen will)2 selbst herausfinden lassen, wie beide Motive vierzig Jahre später im Foucaultschen Pendel ausgebeutet worden sind.
Zwischendurch schrieb ich auch Uralte Geschichten vom jungen Universum, deren Protagonisten die Erde und die anderen Planeten kurz nach der Entstehung des Kosmos waren, erfüllt von wechselseitigen Eifersüchten und Leidenschaften. In einer Geschichte verliebte sich Venus in das Sonnengestirn (das bei uns bekanntlich maskulin ist), riß sich mit äußerster Anstrengung aus ihrer Umlaufbahn und stürzte sich ihm entgegen, um in der glühenden Masse des Geliebten zu vergehen. Meine einfältigen kleinen Cosmicomics.
Mit sechzehn entdeckte ich die Liebe zur Dichtung. Ich verschlang die Hermetiker, aber mein Herz schlug für die Neoklassizisten der Ronda, und im großen ganzen hielt ich mich an Cardarelli. Ich kann nicht mehr rekonstruieren, ob es der Drang nach Poesie war (zur selben Zeit entdeckte ich Chopin), der das Erwachen meiner ersten, uneingestandenen und platonischen Liebe determinierte, oder umgekehrt. Die Verbindung war in jedem Fall desaströs, und nicht einmal die zärtlichste und narzißtischste Nostalgie erlaubt mir heute, zu jenen Versuchen zurückzukehren, ohne tiefe und begründete Scham zu empfinden. Doch aus jener Erfahrung muß mir auch eine strenge kritische Moralität erwachsen sein: jene, die mich im Laufe weniger Jahre zu der Erkenntnis brachte, daß meine Lyrik denselben funktionalen Ursprung und dieselbe formale Konfiguration wie die
Pubertätsakne hatte. Daher die Entscheidung (an die ich mich drei Jahrzehnte lang gehalten habe), vom sogenannten kreativen Schreiben abzulassen und mich auf die philosophische Reflexion und die essayistische Tätigkeit zu beschränken.
Eine Entscheidung, die ich über dreißig Jahre lang nie bedauert habe. Soll heißen, ich habe nicht zu denen gehört, die dazu verurteilt sind, wissenschaftliche Bücher zu schreiben, während sie innerlich vom glühenden Wunsch verzehrt werden, in die Kunst überzuwechseln. Ich empfand mich durchaus als selbstverwirklicht, ja ich sah mit einem Anflug von platonischer Verachtung auf die Poeten herab und betrachtete sie als Gefangene ihrer Lüge, Nachahmer von Nachgeahmtem, unfähig zu jener Sicht der hyperuranischen Idee, mit der ich - als Philosoph -täglich keusch und gelassen zu verkehren das Gefühl hatte.
Tatsächlich war ich, wie ich mir heute bewußt mache, zur gleichen Zeit dabei, eine narrative Passion zu befriedigen, ohne es zu bemerken, und zwar auf drei Arten. Erstens durch eine ständige Übung in mündlichem Erzählen (mir fehlten sehr meine jüngeren Geschwister, denen ich, als sie größer wurden, keine Märchen mehr erzählen konnte). Zweitens durch das Spiel mit literarischen Parodien und pastiches verschiedener Art (die sich in meinem Ende der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre entstandenen Diario minime? niedergeschlagen haben). Und drittens, indem ich aus jedem kritischen Essay eine Erzählung machte. Diesen Punkt muß ich genauer erklären, denn ich halte ihn für wesentlich zum Verständnis sowohl meiner essayistischen Tätigkeit als auch meiner (späten) Zukunft als Erzähler.
In der mündlichen Diskussion meiner Doktorarbeit über das Ästhetikproblem bei Thomas von Aquin war ich sehr verblüfft über einen Einwand des zweiten Berichterstatters (Augusto Guzzo, der dann jedoch meine Arbeit so publizierte, wie sie war): Im Grunde, sagte er, hast du die verschiedenen Phasen deiner Forschung so in Szene gesetzt, als ob es sich um eine kriminalistische Untersuchung handelte, mit Erörterung auch der falschen Fährten, der Hypothesen, die du später verworfen hast, während der reife Forscher diese Erfahrungen wegsteckt und der Öffentlichkeit in der Endfassung nur die Ergebnisse präsentiert. Ich gab zu, daß meine Arbeit ganz so war, wie er sagte, aber ich empfand das nicht als einen Mangel. Im Gegenteil, gerade damals gelangte ich zu der Überzeugung, daß jede Forschung auf diese Weise »erzählt« werden muß. Und so glaube ich es auch in allen meinen späteren theoretischen und essayistischen Werken getan zu haben.
Ich konnte also in Ruhe leben, ohne Geschichten zu schreiben, da ich meine narrative Passion de facto auf andere Weise befriedigte; und sollte ich doch einmal Geschichten schreiben, würden sie nichts anderes sein als Berichterstattungen über eine Recherche (nur daß man diese in der erzählenden Literatur eine quest oder quête nennt).
Im Alter zwischen sechsundvierzig und achtundvierzig habe ich meinen ersten Roman geschrieben, Der Name der Rose. Ich habe nicht vor, hier die Gründe (wie sagt man? die existentiellen?) zu erörtern, die mich dazu gebracht haben, einen ersten Roman zu schreiben; sie sind vielfältiger Art, vermutlich bestärken sie sich gegenseitig, und ich denke, wenn man die Lust verspürt, einen Roman zu schreiben, ist das Grund genug.
Eine der Fragen, die die Herausgeberin dieses Bandes den von ihr ausgewählten Autoren gestellt hat, lautet, welche Phasen es beim Hervorbringen eines Textes gebe. Die Frage impliziert glücklicherweise, daß der Schreibprozeß Phasen durchläuft. Gewöhnlich schwanken naive Interviewer zwischen zwei Überzeugungen, die einander wi der sprechen: einerseits, daß ein sogenannter kreativer Text sich quasi blitzartig in der mystischen Flamme einer plötzlichen Eingebung bildet, andererseits, daß der Autor ein Rezept befolgt hat, eine Art geheime Regel, die man gerne aufdecken würde.
Es gibt keine Regel, beziehungsweise es gibt viele, die sehr variabel und flexibel sind; und es gibt auch nicht das Magma der Inspiration. Aber es stimmt, daß es eine Art von erster Idee gibt, und es gibt sehr präzise Phasen eines Prozesses, der sich schrittweise entwickelt.
Meine drei Romane haben sich alle aus einer IdeenKeimzelle entwickelt, die wenig mehr als ein Bild war. Diese erste Idee war es, die mich gepackt und den Wunsch geweckt hatte, sie weiterzuverfolgen. Bei Der Name der Rose war es die Idee der Ermordung eines Mönches in einer Bibliothek. Da ich in meiner Nachschrift zum >Namen der Rose< geschrieben habe: »Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften«, ist diese provokatorische Formel wörtlich genommen worden und hat eine Reihe von Fragen ausgelöst, warum ich denn um Himmels willen ein solches Verbrechen begehen wollte. Aber ich hatte gar keinen Drang, einen Mönch zu vergiften (und habe es auch nie getan): Ich war lediglich fasziniert vom Bild eines Mönches, der vergiftet wird, während er in einer Bibliothek ein Buch liest. Ich weiß nicht, ob ich von der traditionellen Poetik des angelsächsischen Krimis beeinflußt war, nach der das Verbrechen in einer Pfarrei begangen werden muß. Vielleicht waren Gefühle in mir wach geworden, die ich mit sechzehn verspürt hatte, als ich in den Ferien an einem Exerzitienkurs in einem Benediktinerkloster teilnahm, wo ich zwischen gotischen und romanischen Kreuzgängen umherspazierte und plötzlich in eine Bibliothek geriet, in der aufgeschlagen auf einem Lesepult die Acta Sanctorum lagen, aus denen ich erfuhr, daß es nicht nur, wie man mir weisgemacht hatte, einen seligen Umberto gibt, der am 4. März gefeiert wird, sondern auch einen heiligen Bischof Umberto, der am 6. September gefeiert wird und einen Löwen in einem Wald bekehrt hat. Doch offenbar ist mir seit damals, als ich in jenem vertikal vor mir aufgeschlagenen Folianten blätterte, umgeben von einer souveränen Stille, zwischen Lichtstrahlen, die durch gleichsam geriffelte Milchglasscheiben einfielen auf Wände, die in Spitzbögen endeten, ein Moment von Unruhe geblieben.
Ich weiß es nicht. Tatsache ist, daß mich jenes Bild des beim Lesen ermordeten Mönches irgendwann aufforderte, etwas um es herumzubauen. Der Rest ist dann nach und nach entstanden, um jenem Bild einen Sinn zu geben, einschließlich der Entscheidung, die ganze Geschichte ins Mittelalter zu verlegen. Zu Anfang hatte ich noch gedacht, sie müßte in unserer Zeit spielen, dann sagte ich mir, da ich das Mittelalter nun einmal kannte und liebte, könnte es ebensogut auch der Schauplatz meiner Geschichte sein. Alles weitere ergab sich dann mit der Zeit beim Lesen, beim Betrachten von Bildern, beim Wiederöffnen von Schränken, in denen sich seit fünfundzwanzig Jahren meine mediävistischen Zettelkästen befanden, die ich zu ganz anderen Zwecken angelegt hatte.
Mit dem Foucaultschen Pendel verhielt es sich komplizierter. Die Bild-Keimzelle - genauer: die zwei Bilder, aus denen das Ganze hervorgehen sollte - habe ich mir erst suchen müssen, so wie ein Psychoanalytiker das Geheimnis seines Patienten nach und nach aus Erinnerungsfetzen und Traumfragmenten zutage fördert. Am Anfang hatte ich nur eine Unruhe: Ich habe einen Roman geschrieben, sagte ich mir, den ersten meines Lebens, und vielleicht den letzten, denn mir scheint, daß ich alles hineingelegt habe, was mir Vergnügen und was mir Sorgen bereitet, und alles, was ich, sei’s auch nur indirekt, über mich sagen kann. Gibt es noch etwas anderes, was wirklich zu mir gehört und was ich erzählen könnte? So kamen mir zwei Bilder in den Sinn.
Das erste war das des Pendels, das ich zum ersten Mal vor über dreißig Jahren in Paris gesehen hatte. Es hatte mir großen Eindruck gemacht, und ich sage nicht, daß ich es die ganze Zeit über vergessen hätte. Im Gegenteil, in den sechziger Jahren bin ich einmal von einem befreundeten Regisseur gebeten worden, das Drehbuch für einen Film zu schreiben. Ich möchte hier nicht darüber sprechen, denn das Sujet ist dann schlecht verwendet worden, um daraus einen scheußlichen Film zu machen, der mit meiner ursprünglichen Idee nichts mehr zu tun hatte, und zum Glück konnte ich erreichen - auch dank der Tatsache, daß ich nur ein symbolisches Honorar bekommen hatte -, daß mein Name nirgendwo erwähnt wurde. Aber es gab in jenem Drehbuch eine Szene, die in einer Höhle spielte, in deren Mitte ein Pendel hing, an das sich dann jemand klammerte, um durchs Dunkel zu schwingen.
Das zweite Bild, das sich mir aufdrängte, war das von mir selbst als dreizehnjährigem Bub, der bei einem Begräbnis von Partisanen die Trompete spielte. Eine wahre Geschichte, die ich übrigens immer wieder erzählt hatte. Nicht oft, aber stets in Situationen von großer Zärtlichkeit: spätabends bei einem letzten Whisky im Dunkel einer einladenden Bar, oder bei einem Spaziergang am Ufer eines stillen Gewässers, wenn ich spürte, daß eine Frau vor mir oder an meiner Seite nichts anderes erwartete, als eine schöne Erzählung zu hören, um dann zu sagen »wie schön« und meine Hand zu nehmen. Eine wahre Geschichte, mit der sich verschiedene Erinnerungen verbanden und die ich als schön empfand.
Das war’s: das Pendel und jene Szene auf einem Friedhof an einem sonnigen Morgen. Ich spürte, daß ich von diesen beiden Dingen würde erzählen können. Das Problem war nur: Wie kommt man vom Pendel zur Trompete? Die Antwort hat mich acht Jahre gekostet, und sie ist der Roman.
Auch bei der Insel des vorigen Tages bin ich von zwei sehr kräftigen Bildern ausgegangen, die mir fast sofort vor Augen standen, als ich mich fragte: Was könnte ich erzählen, wenn ich einen dritten Roman schreiben müßte? Ich habe zuviel von Klöstern und Museen erzählt, sagte ich mir, also von Stätten der Kultur: Ich sollte es einmal mit der Natur versuchen. Einfach Natur und sonst gar nichts. Und wo würde ich gezwungen sein, nichts als
Natur zu sehen? Bei einem Schiffbrüchigen auf einer einsamen Insel.
Zur selben Zeit, aber aus ganz anderen Gründen, hatte ich mir eine jener Uhren mit »Weltzeit« gekauft, auf denen sich ein mittlerer Kranz gegen den Uhrzeigersinn dreht, um die Ortszeit mit einer Reihe von Ortsnamen auf einem größeren Kranz zu korrelieren. Diese Art Uhren haben auch ein Zeichen, das die Datumslinie anzeigt. Daß es diese Linie gibt, wissen wir alle, sei’s auch nur aus der Lektüre von In achtzig Tagen um die Welt, aber wir denken nicht jeden Tag daran. Für mich war es wie eine Offenbarung: Mein Schiffbrüchiger mußte sich westlich dieser Linie befinden und eine Insel im Osten sehen, die nicht nur räumlich entfernt war, sondern auch zeitlich. Von da bis zu der Entscheidung, ihn nicht auf diese Insel, sondern vor sie zu versetzen, war es nur ein kleiner Schritt.
Doch zunächst gab nur meine Uhr an dem schicksalsträchtigen Punkt die Aleuten-Inseln an, und ich sah keinen rechten Grund, jemanden dorthin zu versetzen, um ihn etwas tun zu lassen. Wohin? Sollte er auf einer Ölplattform zurückgeblieben sein? Außerdem muß ich, wie ich gleich noch genauer ausführen werde, wenn ich von einem Ort erzählen will, dort gewesen sein, und die Vorstellung, mich in eine so kalte Gegend zu begeben, um nach einer Ölplattform zu suchen, war alles andere als berückend.
Aber dann entdeckte ich beim Weiterblättern im Atlas, daß die Datumslinie auch durch den Archipel der FidschiInseln verläuft. Fidschi, Samoa, Salomon-Inseln ... Diese Namen weckten andere Erinnerungen, führten zu anderen Fährten. Ein paar Lektüren, und schon war ich mitten im 17. Jahrhundert, der Zeit, in der die Entdeckungsreisen in den Pazifik sich zu häufen begannen. Ich erinnerte mich an meine vielen Ausflüge in die Kultur der Barockzeit, die ich früher unternommen hatte, und so kam ich schließlich auf die Idee, den Schiffbrüchigen auf ein verlassenes Schiff zu versetzen, eine Art Geisterschiff ... Und so weiter. Von diesem Punkt an konnte der Roman schon fast von allein seinen Weg gehen.
Aber wo geht ein Roman seinen Weg? Dies ist das zweite Problem, das ich als grundlegend für eine Poetik der Erzählkunst ansehe. Wenn ich in einem Interview gefragt werde: »Wie haben Sie Ihren Roman geschrieben?«, antworte ich gewöhnlich kurz und bündig: »Von links nach rechts.« Aber hier habe ich genügend Platz für eine ausführlichere Antwort.
Ich bin überzeugt (oder jedenfalls ist mir nach vier Erfahrungen als Erzähler klarer geworden), daß ein Roman nicht nur eine Angelegenheit der Sprache ist. Ein Roman (wie jede Erzählung, die wir jeden Tag produzieren, wenn wir berichten, warum wir am Morgen zu spät gekommen sind oder wie wir uns eines lästigen Zeitgenossen entledigt haben) benutzt eine Ausdrucksebene (das heißt Wörter, die sich in der Dichtung so schwer übersetzen lassen, weil auch ihr Klang zählt), um einen Inhalt wiederzugeben, das heißt die erzählten Tatsachen. Aber auf der Inhaltsebene können wir noch zwei weitere Elemente unterscheiden, die Fabel und den Plot.
Die Fabel von Rotkäppchen ist eine bloße Folge von Handlungen in chronologischer Ordnung - die Mutter schickt das Mädchen in den Wald, das Mädchen begegnet dem Wolf, der Wolf geht zum Haus der Großmutter, um
Rotkäppchen dort zu erwarten, verschlingt die Großmutter und zieht ihre Kleider an und so weiter. Der Plot kann diese Teile anders organisieren; zum Beispiel könnte die Erzählung damit beginnen, daß Rotkäppchen die Großmutter erblickt und sich über ihr Aussehen wundert, um dann zurückzublenden auf den Moment, da Rotkäppchen das elterliche Haus verläßt; oder damit, daß Rotkäppchen heil und gesund nach Hause zurückkehrt, sich beim Jäger bedankt und dann der Mutter die vorangegangenen Teile der Fabel erzählt .
Die Geschichte von Rotkäppchen ist so sehr auf die Fabel (und durch sie auf den Plot) konzentriert, daß sie in jedem Diskurs befriedigend wiedergegeben werden kann, also durch jeden beliebigen Ausdruck: durch Filmbilder, auf französisch, auf deutsch, oder auch als Comic (wie geschehen).
Ich habe mich verschiedentlich über die Beziehungen zwischen Ausdruck und Inhalt in der Gegenüberstellung von Prosa und Poesie ausgelassen. Nehmen wir die Verse: La Vispa Teresa / avea tra l’erbetta / al volo sorpresa / gentil farfallettaA? Warum hat die Wepsige Teresa den netten Schmetterling beim Flug im niederen Gras (erbetta) überrascht und nicht in einem Gebüsch (cespuglio) oder zwischen Kletterblumen, auf denen sie den Blütenstaub, an dem sie sich berauscht, viel besser hätte aufsaugen können? Natürlich weil erbetta sich auf farfalletta reimt, während cespuglio einen guazzabuglio (Wirrwarr) nach sich ziehen würde. Das ist kein Spiel. Lassen wir die Vispa Teresa und wenden wir uns Montale zu: »Spesso il male di vivere ho incontrato: / era il rivo strozzato che gorgoglia, / era l ’incartocciarsi della foglia / riarsa, era il cavallo stramazzato ... «3 Warum hat der Dichter von allen Symbolen oder Epiphanien des male di vivere ausgerechnet das verdorrte Blatt (foglia riarsa) gewählt und nicht irgendeine andere Erscheinungsform des Welkens und Todes? Warum »gurgelt« (gorgoglia) der gestaute Bach? Oder gurgelt er vielleicht und ist ein Bach, weil er das Erscheinen eben jener foglia vorbereiten soll? In jedem Fall hat allein die Notwendigkeit dieses Reims zu dem wunderbaren Enjambement jenes riarsa geführt, durch das im folgenden Vers die Agonie eines schon vegetalischen Lebens verlängert wird, so daß man es in den letzten Zuckungen beinahe röcheln hört.
Wäre jedoch (und hier spielen wir wirklich, zum Glück für die Geschichte der Poesie) vorher ein Bach eingeführt worden, der murmelt (borbotta), dann hätte das Übel des Lebens sich im Dunkel und in der Muffigkeit einer Höhle (grotta) manifestieren müssen.
Wenn es dagegen heißt: »Einst waren die Malavoglia zahlreich wie die Steine der alten Straße nach Trezza«, und »es gab sogar welche in Ognina und in Aci Castello«4, dann hätte Verga gewiß auch andere Ortsnamen wählen können (und vielleicht hätten ihm Montepulciano oder Viserba gefallen), aber seine Wahl war eingeschränkt durch seine Entscheidung, die Geschichte in Sizilien spielen zu lassen, und sogar der Vergleich mit den Steinen der Straße war durch die Natur des Ortes vorgegeben, die keine frischen, fast irisch grünen Wiesen mit erbetta erlaubte.
Kurzum, in der Poesie ist es die Wahl des Ausdrucks, die den Inhalt bestimmt, während es in der Prosa umgekehrt die Welt ist, die man wählt, mitsamt allem, was in dieser Welt geschieht, die uns den Rhythmus, den Stil und sogar die Wortwahl aufzwingt.
Gleichwohl wäre es falsch zu sagen, daß in der Poesie der Inhalt (und mit ihm das Verhältnis zwischen Fabel und Plot) irrelevant sei. Um nur ein Beispiel zu bringen, in Leopardis Gedicht A Silvia gibt es eine Fabel (es lebte einmal ein Mädchen, das so und so war, der Dichter liebte es, aber es ist gestorben, und nun ruft der Dichter es an), und es gibt einen Plot (der Dichter tritt auf, als das Mädchen bereits tot ist, und läßt es in seiner Erinnerung Wiederaufleben). Es genügt nicht zu sagen, in einer Übersetzung dieses Gedichts erzwinge der Wechsel des Ausdrucks den Verzicht auf viele lautsymbolische Werte (Silvia/salivi), auf den Reim und die Metrik. Denn sie wäre keine adäquate Übersetzung, wenn sie nicht sowohl die Fabel als auch den Plot respektiert. Sie wäre die Übersetzung eines anderen Gedichts.
Das scheint eine banale Bemerkung zu sein, aber sie zeigt, daß sogar in einem poetischen Text der Autor von einer Welt spricht (es gibt zwei Häuser, eins gegenüber dem anderen, und es gibt ein Mädchen all’opre femminili intenta, »mit weiblichen Arbeiten beschäftigt«). Um so mehr gilt das für die erzählende Prosa. Manzoni schreibt ziemlich gut (heißt es gewöhnlich), aber was wäre sein Roman, wenn darin nicht die Lombardei des 17. Jahrhunderts, der Corner See, zwei Verliebte von niederem
Stand, ein arroganter Kleinadliger und ein feiger Pfarrer vorkämen? Was würde aus den Promessi Sposi, wenn die Geschichte in Neapel spielte, zu der Zeit, als dort Eleonora Pimental Fonseca hingerichtet wurde? Denken wir nur.
Deswegen habe ich, als ich den Namen der Rose schrieb, ein reichliches Jahr, wenn ich mich recht erinnere, mit Vorbereitungen verbracht, ohne eine einzige Zeile zu schreiben (und beim Foucaultschen Pendel waren es mindestens zwei Jahre, ebenso bei der Insel des vorigen Tages). Ich las, machte Zeichnungen und Diagramme, erfand eine Welt. Diese Welt mußte so präzise wie irgend möglich sein, damit ich mich mit vollkommener Vertrautheit in ihr bewegen konnte. Für den Namen der Rose habe ich Hunderte von Labyrinthen und Abteiplänen gezeichnet, ausgehend von anderen Zeichnungen und von Orten, die ich besuchte, denn es war für mich eine Grundbedingung, daß alles funktionierte, ich mußte wissen, wie lange zwei Personen brauchten, um während eines Gesprächs von einem Ort zu einem anderen zu gehen. Das bestimmte dann auch die Länge der Dialoge.
Wenn ich in einem Roman schreiben müßte: »Als der Zug im Bahnhof von Modena hielt, stieg er rasch aus und kaufte sich eine Zeitung«, könnte ich es nicht, wenn ich nicht in Modena gewesen wäre und mich vergewissert hätte, ob der Zug dort lange genug hält und wie weit es von den Gleisen bis zum Zeitungskiosk ist (und das gilt auch, wenn der Zug in Innisfree halten müßte). Dies alles würde nur sehr wenig mit dem Verlauf meiner Geschichte zu tun haben (stelle ich mir vor), aber wenn ich es nicht täte, könnte ich nicht erzählen.
Im Foucaultschen Pendel lasse ich die beiden Verlage Manuzio und Garamond in zwei verschiedenen, aber an der Rückseite aneinanderstoßenden Gebäuden residieren, zwischen denen es einen Durchgang mit einer Mattglastür und drei Stufen gibt. Ich habe lange berechnet, wie dieser Durchgang zwischen zwei Gebäuden in der Mailänder Innenstadt beschaffen sein könnte und ob es da einen Niveauunterschied zu bedenken gab, wozu ich mehrere Pläne gezeichnet habe. Der Leser steigt jene drei Stufen hinauf, ohne sie zu beachten (glaube ich), aber für mich waren sie fundamental.
Manchmal habe ich mich gefragt, ob es wirklich nötig war, meine Welt so detailliert zu entwerfen, wenn diese Einzelheiten dann später in der Erzählung gar nicht hervortraten. Aber ich brauchte sie wohl, um mich mit dem Ambiente vertraut zu machen. Im übrigen hat mir einmal jemand erzählt, daß Luchino Visconti, wenn in einem seiner Filme zwei Personen von einer Schatulle voller Juwelen sprechen sollten, darauf bestand, daß sich echte Juwelen in der Schatulle befanden, auch wenn sie gar nicht geöffnet wurde, da sonst die Personen nicht glaubwürdig gewesen wären - das heißt, die Schauspieler mit weniger Überzeugung gespielt hätten.
So hatte ich für den Namen der Rose alle Mönche der Abtei gezeichnet. Ich hatte sie fast alle mit Bart gezeichnet, obwohl ich keineswegs sicher war, daß die Benediktiner zu jener Zeit Bärte trugen (die Frage wurde dann bei den Dreharbeiten für den Film zu einem philologischen Problem, das Jean-Jacques Annaud mit Hilfe mehrerer wissenschaftlicher Berater lösen mußte). Man beachte, daß im Roman nirgendwo gesagt wird, ob es jene Bärte gibt oder nicht. Aber ich brauchte sie, um mir meine Personen vorstellen zu können, während ich sie reden und handeln ließ, sonst hätte ich nicht gewußt, was sie sagen sollten.
Für das Foucaultsche Pendel habe ich viele Abende bis zur Schließung im Pariser Conservatoire des Arts et Metiers verbracht, wo einige der wichtigsten Szenen des
Romans spielen. Um von den Templern sprechen zu können, bin ich in den Foret d’Orient in der Nähe von Troyes gefahren, wo es Reste von ihrer Ordensburg gibt (auf die dann im Roman nur mit ein paar kurzen Worten angespielt wird). Um Casaubons nächtlichen Gang durch Paris zu beschreiben, vom Conservatoire zur Place des Vosges und dann bis zum Eiffelturm, bin ich mehrere Male nachts zwischen zwei und drei Uhr mit einem Taschenrecorder durch die Straßen gelaufen und habe alles auf Band gesprochen, was ich sah, um nicht die Straßennamen und die Kreuzungen zu verwechseln. Für die Insel des vorigen Tages bin ich natürlich in die Südsee gereist, genau zu der geographischen Position, von der ich erzähle, um die Farben des Meeres, des Himmels, der Fische und der Korallen an den verschiedenen Tageszeiten zu sehen. Aber ich habe auch zwei bis drei Jahre über Zeichnungen und Modellen von Schiffen der Epoche gearbeitet, um zu wissen, wie groß eine Kabine oder ein Verschlag im Unterdeck sein konnte und wie man von der einen zum anderen gelangte.
Als mich kürzlich ein ausländischer Verleger fragte, ob es nicht sinnvoll wäre, dem Roman einen Aufriß des Schiffes beizugeben, ähnlich dem Plan der Abtei auf dem Vorsatzblatt von Der Name der Rose, drohte ich ihm mit meinem Anwalt. Im Namen der Rose wollte ich, daß der Leser genau begriff, wie die Umgebung beschaffen war, in der Insel des vorigen Tages wollte ich, daß der Leser sich verirrte und sich nicht mehr zurechtfand in dem kleinen Labyrinth jenes Schiffes, das immer neue Überraschungen bereithielt. Doch um von einem dunklen, Ungewissen, zwischen Traum und Wachen und Alkoholrausch erlebten Raum erzählen zu können und dem Leser den Kopf zu verwirren, mußte ich den Kopf vollkommen klar haben und mich beim Schreiben immer auf einen millimetergenau berechneten Bauplan des Schiffes beziehen.
Ist die Welt einmal entworfen, ergeben sich die Worte von selbst und sind (wenn alles gutgeht) genau die richtigen für diese Welt und das, was in ihr geschieht. Deshalb folgt der Stil im Namen der Rose dem der mittelalterlichen Chronisten, die - immer gleichbleibend - präzise, getreu, naiv und staunend erzählten, gelegentlich auch platt (ein Mönchlein im 14. Jahrhundert schreibt nicht wie Gadda und erinnert sich nicht wie Proust); dagegen mußte im Foucaultschen Pendel eine Vielzahl von Sprachen ins Spiel kommen - die gebildet-archaisierende von Aglie, die pseudodannunzianische von Ardenti, die desillusioniert und ironisch (gewollt und erlitten) literarische von Belbo in seinen geheimen files, die kaufmännische und aufgeblasene von Garamond, dazu die ständig witzelnden Dialoge der drei Lektoren bei ihren unverantwortlichen Phantasien, in denen sich gelehrte Bezugnahmen mit Wortspielen auch dubiosen Geschmacks vermischen. Aber was Maria Corti einmal als »sprunghafte Registerwechsel« definiert hat5 (und ich bin ihr für den Hinweis dankbar), war nicht die Folge einer einfachen Stilwahl, sondern vorgegeben durch die je besondere Art der Welt, in der das Geschehen spielte.
Bei der Insel des vorigen Tages war dann die Art der Ausgangswelt nicht nur bestimmend für den Stil, sondern sogar für die Struktur des Gesprächs und Dauerkonflikts zwischen Erzähler und Hauptfigur mit daraus folgender Einbeziehung des Lesers, der immer wieder als Zeuge und Mitwisser jenes Konflikts angerufen wird. Bedenken wir, im Foucaultschen Pendel spielte das Geschehen in unseren Tagen, so daß sich das Problem der Wiederverwendung einer vergangenen Sprachform nicht stellte. Im Namen der Rose spielte es in einer viele Jahrhunderte zurückliegenden Zeit, in der eine andere Sprache gesprochen wurde, jenes Kirchenlatein, das so oft (nach Ansicht mancher zu oft) eingestreut wird, um den Leser daran zu erinnern, daß sich die Geschichte in einer fernen Zeit abspielt. Darum war das stilistische Vorbild zwar mittelbar das der damaligen Chronisten, aber unmittelbar das der modernen Übersetzungen, in denen wir sie gewöhnlich lesen (zudem hatte ich meine Vorkehrungen getroffen und eigens darauf hingewiesen, daß ich eine neugotisch-französische Übersetzung einer mittelalterlichen Chronik bearbeitete). In der Insel dagegen konnte meine Hauptfigur nicht anders als barock reden, aber ich konnte nicht im Barockstil schreiben, da ich sonst riskierte, die Parodie jener alten Handschrift zu fabrizieren, die Manzoni am Anfang der Promessi Sposi als ungenießbar verwirft. Daher brauchte ich einen Erzähler, der sich bald über die verbalen Ausschweifungen seines Protagonisten erbost, bald ihnen zum Opfer fällt und sie dann durch Appelle an den Leser abzumildern sucht.
So haben mir drei verschiedene Welten drei verschiedene »Stilübungen« auferlegt, die dann im Laufe des Schreibens zu drei verschiedenen Denk- und Sehweisen wurden, in denen ich mich so selbstverständlich bewegte, daß ich versucht war, selbst meine Alltagserfahrungen während dieser Zeiten in ihre Begriffe zu übersetzen.
Bisher habe ich gesagt, daß man a) von einer IdeenKeimzelle ausgeht und daß b) die Konstruktion der Welt den Stil determiniert. Meine letzte erzählerische Erfahrung, Baudolino, scheint diese beiden Prinzipien zu widerlegen. Was die Ideen-Keimzelle angeht, so hatte ich mindestens zwei Jahre lang viele davon, und wenn man zu viele Ideen-Keimzellen hat, ist das ein Zeichen dafür, daß sie keine Keimzellen sind. Tatsächlich hat jede von ihnen nur einzelne, auf wenige Kapitel begrenzte Situationen erbracht, nicht die Gesamtstruktur des Romans.
Die erste Idee verrate ich nicht, denn ich habe sie aufgegeben - aus verschiedenen Gründen, vor allem weil es mir nicht gelungen ist, sie zu entwickeln -, und womöglich reserviere ich sie mir, wer weiß, für einen fünften Roman. Sie wurde jedoch von einer anderen begleitet, die sich auf den Topos des Mordes in einem geschlossenen Raum reduzieren läßt, und wie man sieht, wenn man den Roman liest, habe ich diesen Topos nur für das Kapitel über Friedrichs Tod verwendet.
Die zweite Idee war, daß die Schlußszene zwischen den mumifizierten Leichen in der Kapuzinergruft von Palermo spielen sollte (tatsächlich war ich mehrmals dorthin gegangen und hatte mir zahlreiche Fotos der Örtlichkeit und einzelner Mumien gemacht). Wer den Roman gelesen hat, weiß, daß diese Idee für den Showdown zwischen Baudolino und dem Poeten benutzt worden ist, aber in der Ökonomie des Romans hat sie nur eine marginale Funktion, eine rein szenographische, würde ich sagen.
Die dritte Idee war, daß es in dem Roman um eine Gruppe von Personen gehen sollte, die Fälschungen fabrizieren. Mit der Semiotik des Falschen und der
Fälschung hatte ich mich schon einige Male beschäftigt.6 Ursprünglich sollten diese Personen Zeitgenossen sein, die eine Tageszeitung gründen wollen und in einer Reihe von Nullnummern ausprobieren, wie man Sensationsmeldungen »kreieren« kann. Tatsächlich schwebte mir für den Roman der Titel Nullnummer vor. Aber auch hier gab es etwas, das mich nicht überzeugte, und ich fürchtete, am Ende dasselbe Personal wie im Foucaultschen Pendel vor mir zu haben.
Bis mir schließlich einfiel, was eine der schönsten Fälschungen in der ganzen abendländischen Geschichte gewesen war, nämlich der Brief des Priesters Johannes. Diese Idee weckte eine Reihe von Erinnerungen und Lektüreerfahrungen. So hatte ich 1960 für Bompiani die italienische Ausgabe des Buches Lands Beyond von W. Ley und L. Sprague De Camp betreut.7 Darin gab es natürlich auch ein Kapitel über das Reich des Priesters Johannes und ein anderes über die verstreuten Stämme Israels. Auf den Umschlag hatten wir einen Skiapoden gesetzt (einen Stich aus dem 15. Jahrhundert, wenn ich mich recht erinnere, mit fingierter Kolorierung au pochoir). Jahre später hatte ich mir eine farbige Karte aus einem zerlegten Ortelius gekauft, die das Reich des Priesters Johannes zeigte, und hatte sie mir an die Wand meines Arbeitszimmers gehängt. In den achtziger Jahren hatte ich dann verschiedene Versionen des Briefes gelesen. Kurzum, der Priester Johannes war mir nicht aus dem Kopf gegangen, und mich reizte der Gedanke, die Monster, die sein Reich bevölkerten, sowie die anderen, die in den diversen Alexanderromanen, in den Reisen von Mandeville und einer Reihe von Bestiarien erwähnt werden, als Romanfiguren zum Leben zu erwecken. Überdies bot sich damit eine schöne Gelegenheit, in mein geliebtes Mittelalter zurückzukehren. Infolgedessen war meine wahre Keim-Idee die des Priesters Johannes. Aber ich war nicht von ihr ausgegangen, sondern nach einigen Umwegen bei ihr angelangt.
Vielleicht hätte mir das alles noch nicht genügt, wäre der Brief nicht - dies ist eine der möglichen Hypothesen über seinen Ursprung - der Kanzlei des Staufenkaisers Friedrich Barbarossa zugeschrieben worden. Dieser nämlich war für mich ein weiterer magischer Name, da ich aus Alessandria stamme, der Stadt, die eigens gegründet worden war, um sich dem Kaiser entgegenzustellen. So traf ich eine Reihe fast instinktiver Entscheidungen: einen Friedrich Barbarossa jenseits der traditionellen Klischees zu zeigen, eher aus der Sicht eines Sohnes als aus der seiner Gegner und seiner Höflinge (also weg mit vielen Barbarossabildern in unseren Geschichtsbüchern), die Anfänge meiner Heimatstadt zu erzählen, mitsamt ihren Legenden, zu denen auch die von Gaghaudo und seiner Kuh gehört. Jahre zuvor hatte ich einen Essay über die Gründung und Geschichte von Alessandria geschrieben (betitelt, welch ein Zufall, »Das Wunder von San Baudolino«)8, und so kam mir die Idee, die ganze
Geschichte von einem Landsmann erleben zu lassen, der wie der Schutzheilige von Alessandria Baudolino heißt, ihn zum Sohn des Gagliaudo zu machen und dem Ganzen einen pikaresk-populären Tonfall zu geben - also eine Art Antistrophe zum Namen der Rose zu schaffen: dort eine Geschichte von Gelehrten, die sich gewählt ausdrückten, hier eine Geschichte von Bauern und Kriegern, die eher ungehobelt sind und fast Dialekt sprechen.
Aber auch diesmal, wie vorgehen? Sollte ich Baudolino im pseudo-piemontesischen Dialekt eines 12. Jahrhunderts sprechen lassen, von dem wir nur sehr wenige volkssprachliche Dokumente haben und keines aus dem piemontesischen Raum? Sollte ich einen modernen Erzähler sprechen lassen, dessen Stil die Spontaneität Baudo-linos beeinträchtigt hätte? Hier kam mir eine weitere fixe Idee zu Hilfe, die mir seit geraumer Zeit im Kopf herumspukte, ohne daß ich jemals gedacht hätte, sie bei dieser Gelegenheit verwenden zu können: eine Geschichte zu erzählen, die in Byzanz spielt. Warum? Weil ich sehr wenig von der byzantinischen Kultur wußte und noch nie in Konstantinopel gewesen war. Vielen mag das als ein sehr schwacher Grund erscheinen, um etwas erzählen zu wollen, was in Konstantinopel spielt, zumal Konstantinopel mit Friedrich Barbarossa nur sehr am Rande zu tun hatte. Aber manchmal entscheidet man sich für eine Geschichte nur, um sie besser kennenzulernen.
Gesagt, getan. Ich fuhr nach Konstantinopel, las viel über das alte Byzanz, machte mich vertraut mit seiner Topographie und stieß auf Niketas Choniates mit seiner »chronologischen Erzählung« (Diegesis chronike) der byzantinischen Geschichte.11 Ich hatte den Schlüssel gefunden, die Art und Weise, wie ich die »Stimmen« meiner Erzählung artikulieren konnte: Ein gleichsam gestaltloser Erzähler gibt das Gespräch zwischen Niketas und Baudolino wieder, läßt die gelehrten und höfischen Reflexionen des Byzantiners mit den pikaresken Erzählungen Baudolinos alternieren, so daß weder Niketas noch gar der Leser jemals begreifen kann, ob und wann Baudolino lügt, und das einzig Gesicherte ist, daß er behauptet, ein Lügner zu sein (Paradox des Lügners und des Kreters Epimenides).
Damit hatte ich das Spiel der »Stimmen«, aber noch nicht die Stimme von Baudolino. Und hier widerlegte ich das zweite meiner Prinzipien. Einige Zeit vorher, während ich noch die Chroniken der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer las (und beschloß, diese Geschichte zu erzählen, die schon in den Texten von Villehardouin, Robert de Clary und Niketas so romanhaft klingt), hatte ich nebenbei, als Zeitvertreib auf dem Land, jene erste Schreibübung Baudolinos in einem hypothetischen Pidgin-Piemontesisch des 12. Jahrhunderts verfaßt, die jetzt den Roman eröffnet. Zwar habe ich diese Seiten in den folgenden Jahren immer wieder umgeschrieben, nach Konsultation historischer und Dialektwörterbücher und aller erreichbaren Dokumente, aber schon bei jener ersten Fassung war mir durch den Sprachstil klargeworden, wie ich Baudolino denken und reden lassen mußte. So ist letztlich Baudolinos Sprache nicht durch den Bau einer Welt entstanden, sondern der Reiz dieser Sprache hat zum Bau einer Welt geführt.
Ich weiß nicht, wie ich diese Umkehrung theoretisch erklären soll. Mir bliebe nichts anderes übrig, als Walt Whitman zu zitieren: »Ich widerspreche mir? Wohlan, ich widerspreche mir.« Wäre da nicht der Umstand, daß mich - vermutlich - der Rückgriff auf dialektale Sprachmuster in meine Kindheit und meine Geburtsstadt zurückgeführt hat, also in eine bereits präkonstituierte Welt, zumindest in der Erinnerung.
Allerdings, ob nun Welt zur Sprache oder Sprache zur Welt führt, man verbringt nicht zwei bis drei Jahre damit, eine Welt zu errichten, als existierte diese Welt nur für sich, unabhängig von der Geschichte, die man in ihr geschehen lassen will. Diese »kosmogonische« Phase geht eng einher (in einem Maße, das ich beim besten Willen nicht auf eine Formel oder ein Programm zurückführen könnte) mit einer Hypothese über die Grundstruktur des Romans sowie der Welt, die man errichtet. Und diese Struktur besteht im wesentlichen aus Zwängen und Zeitvorgaben.
Zwänge sind von grundlegender Bedeutung für jede künstlerische Operation. Einen Zwang wählt der Maler, der beschließt, lieber Öl- als Temperafarben zu nehmen und lieber auf Leinwand als auf frischen Putz zu malen; der Musiker, der sich für eine Grundtonart entscheidet (danach kann er modulieren und modulieren, aber am Ende muß er zu ihr zurück); der Dichter, der sich den Käfig des Endreims oder eines Versmaßes baut. Und man glaube nicht, daß der avantgardistische Maler, Musiker oder Dichter - der gerade diese Zwänge zu vermeiden scheint - sich nicht andere Zwänge errichtet. Er tut es, nur ist nicht gesagt, daß wir es bemerken sollen.
Es kann ein Zwang sein, als Schema für die Abfolge der Ereignisse das der sieben Posaunen der Apokalypse zu nehmen. Aber auch, die Geschichte auf ein bestimmtes Datum zu legen, denn manches kann man da geschehen lassen und anderes nicht. Es kann ein Zwang sein zu beschließen, daß im Foucaultschen Pendel, um den magischen Leidenschaften der Personen entgegenzukommen, die Zahl der Kapitel 120 sein muß, keins mehr und keins weniger, und die der Hauptteile zehn, wie die zehn Sefiroth der Kabbala.
Die Zwänge bestimmen auch mehr und mehr eine Zeitstruktur. Im Namen der Rose konnte, wenn man sich an die Abfolge in der Apokalypse halten mußte, die Zeit des Plots (abzüglich langer Einschübe) mit der Zeit der Fabel zusammenfallen: Die Geschichte beginnt mit der Ankunft von William und Adson in der Abtei und endet mit ihrer Abreise. Leicht (auch zu lesen).
Beim Foucaultschen Pendel zwang mich gerade die Schwingbewegung des titelgebenden Apparats zu einer anderen Zeitstruktur. Casaubon kommt eines Abends ins Conservatoire, versteckt sich dort und ruft sich die vergangenen Geschehnisse in Erinnerung, dann kehrt die Geschichte zum Anfang zurück und so weiter. Hatte ich mir für den Namen der Rose eine Art Stundenplan oder Kalender angelegt, um Tag für Tag festzulegen, was alles im Laufe einer Woche geschehen sollte, so war es beim Foucaultschen Pendel eine Art Höhenmesser, der die Rückgriffe in die Vergangenheit und die Vorgriffe in die Zukunft registrierte. Wie ein graduierter Meßstab oder rechtwinklige Koordinatenachsen. Der Protagonist befindet sich jetzt hier, aber er ruft sich in Erinnerung, was in einem bestimmten Moment der Vergangenheit geschah.
Das Schöne an solchen Schemata ist, daß sie zwar ehern aussehen, wenn man jedes für sich betrachtet, aber ich habe Schubladen voller Schemata, die ich im gleichen Maße, wie der Roman vorankam, immer neu gezeichnet hatte. Mit anderen Worten, das Schöne an der Sache ist: Einerseits muß man sich Zwänge schaffen, andererseits muß man sich frei fühlen, sie im Laufe der Arbeit zu ändern. Allerdings muß man dann alles ändern und wieder von vorn beginnen.
Einer der Zwänge im Foucaultschen Pendel war, daß die Protagonisten das Jahr 1968 erlebt haben sollten, aber da Belbo dann seine files am Computer schreibt (der in der ganzen Geschichte auch eine formale Rolle spielt, indem er ihre aleatorische und kombinatorische Natur inspiriert), durften die letzten Ereignisse erst zwischen 1983 und 1984 stattfinden, nicht vorher. Der Grund ist sehr einfach: Die ersten Personalcomputer mit Schreibprogramm sind in Italien 1983 (frühestens 1982) auf den Markt gekommen. Und dies ist auch die Antwort an alle, die immer wieder behaupten, der Name der Rose sei am Computer geschrieben worden und damit erkläre sich sein Erfolg. 1978 - 79 kamen in Amerika gerade die ersten Home-computerchen auf den Markt, die sich Tandy nannten und mit denen man kaum mehr als einen Brief zu schreiben gewagt hätte.
Um nun jedoch die lange Zeit von 1968 bis 1983 mit irgend etwas zu füllen, war ich gezwungen, Casaubon anderswohin zu schicken. Wohin? Meine Erinnerungen an magische Riten, denen ich einmal in den siebziger Jahren am Rande von Sao Paulo beigewohnt hatte9, führten mich nach Brasilien (da wußte ich, wovon ich sprach und welche Form jene Welt hatte). Das war der Grund und glückliche Ursprung jener Abschweifung, die vielen als zu lang erschien, die aber für mich (und einige wohlwollende Leser) von grundlegender Bedeutung war, denn sie erlaubte mir, in Brasilien und mit Amparo in gedrängter Form das geschehen zu lassen, was mit den anderen Personen im Laufe des Romans geschehen sollte. Hätten IBM, Apple oder Olivetti ihre Wordprocessor sechs oder sieben Jahre früher auf den Markt gebracht, wäre mein Roman anders geworden. Brasilien wäre nicht darin vorgekommen, was viele oberflächliche Leser erleichtert hätte, aus meiner Sicht aber ein großer Mangel gewesen wäre.
Die Konstruktion der Insel des vorigen Tages beruhte auf einer Reihe von historischen Zwängen und ehernen Gesetzen der Romanform. Die historischen Zwänge ergaben sich daraus, daß Roberto als junger Mann an der Belagerung von Casale teilgenommen haben und dann bei Richelieus Tod anwesend sein sollte, also erst nach dem Dezember 1642 auf seine Insel gelangen konnte, aber nicht nach 1643, dem Jahr, in dem Abel Tasman durch jene Gegend der Südsee kam, wenn auch etwas früher im Kalender, als meine Geschichte dort spielte. Aber ich konnte die Geschichte nur in den Monaten Juli und August spielen lassen, denn zu dieser Zeit hatte ich die FidschiInseln gesehen, und ein Segelschiff brauchte mehrere Monate, um dorthin zu gelangen. Das erklärt die romanhaft maliziösen Unterstellungen, die ich im Schlußkapitel mache, um mich und den Leser davon zu überzeugen, daß Abel Tasman vielleicht noch einmal in jenen Archipel zurückgekehrt war, ohne es jemandem erzählt zu haben. Hier kann man sehen, daß Zwänge auch eine heuristische Nützlichkeit haben können, indem sie zur Erfindung von
Verschwiegenheiten, Komplotten und Ambivalenzen führen.
Man wird mich nun fragen: Und warum all diese Zwänge? War es denn wirklich notwendig, daß Roberto Richelieus Tod miterlebte? Keineswegs. Aber es war notwendig, daß ich mir Zwänge setzte. Sonst hätte sich die Geschichte nicht entwickeln können.
Was die Zwänge der Romanform angeht, so sollte Roberto sich auf dem Schiff befinden, es nicht mehr verlassen können und vergeblich versuchen schwimmen zu lernen, um auf die Insel zu gelangen. Unterdessen sollte er, während er über Leben und Tod nachdachte, nach und nach die ganze Philosophie der Epoche erfinden und sie aus Torheit wieder verwerfen. Für einen gutwilligen Leser würde das mehr als nur ein Zwang sein, den ich mir gesetzt hätte, um mich zu stimulieren: Es würde die innerste Essenz des Begehrens sein. Ich wäre der letzte, der das verneinen könnte. Aber da ich hier davon spreche, wie ich geschrieben habe, und nicht, was der Leser in dem von mir Geschriebenen finden sollte oder könnte (denn um dies zu sagen, genügt entweder der Roman so, wie er ist, oder ich hätte besser daran getan, ihn nicht zu schreiben, und der Leser, ihn nicht zu lesen - was nicht auszuschließen ist), will ich hier nur sagen: Einerseits ist es der Zwang, der dem Roman erlaubt, sich gemäß einem Sinn zu entwickeln, und andererseits ist es die noch unklare Vorstellung von diesem Sinn, die Zwänge nahelegt. Da jedoch das eine nicht ohne das andere abgeht, sprechen wir hier von Zwängen und nicht vom Sinn, der nicht zu den Dingen gehört, über die sich der Autor im nachhinein äußern darf.
Nebenbei: Ein schamloser Zeitungsschmierer, der den Romanautor verhöhnen wollte, um den politisch engagierten Kolumnisten zu treffen, hat geschrieben, der
Roman sei ein einziger Akt der Masturbation. Bei aller Grobheit (auch in der Wortwahl) hat der Ahnungslose ins Schwarze getroffen: Onanistisch ist zweifellos, und zwar per definitionem, die Lage eines Schiffbrüchigen, der für immer vom Objekt seiner Leidenschaft getrennt ist. Nur hat der Hyliker, den ich hier meine, befangen in seiner eigenen dumpfen Fleischlichkeit Manna vom Himmel fallen sehen und es für Kot von häßlichen Vögeln gehalten. Und nicht das »Mentale« - und letztlich Metaphysische - jener einsamen virtus erfaßt, jenes Versuchs, Sein zu erzeugen durch unkontrolliertes Verstreuen des Samens einer Seele, die aufgrund ihrer Einsamkeit so übererregt ist, daß sie Visionen sieht.
Aber kommen wir zum Ergo. Ergo durfte Roberto das Schiff nicht verlassen (außer am Ende, aber mit Ungewissem Ziel und noch ungewisserem Ausgang). Ergo konnte alles, was nicht auf dem Schiff geschah, nur im Modus der Rückbesinnung erzählt werden, es sei denn, man verflachte den Plot auf die Fabel und erzählte linear, wie ein junger Mann zuerst nach Casale, dann nach Paris kommt und sich dann schiffbrüchig auf einem Schiff wiederfindet usw. Versucht es nur, wenn ihr wollt, aber ich versichere euch, so vergeblich meine Mühe gewesen sein mag, die eure wird noch vergeblicher sein.
Dies hat mir nicht eine zeitliche Folge in Zickzacksprüngen auferlegt, wie beim Foucaultschen Pendel, sondern eine Gangart nach dem Muster einen-Schritt-vor-und-drei-zurück, einen-vor-und-zwei-zurück, einen-vor-und-einen-zurück. Roberto erinnert sich an etwas, und dabei geschieht etwas auf dem Schiff. Etwas geschieht auf dem Schiff, und Roberto erinnert sich an etwas. Nach und nach, während Robertos Erinnerungen von 1630 zu 1643 fortschreiten, schreiten die Ereignisse auf dem Schiff von Stunde zu Stunde voran. So geht es bis zum Erscheinen von Pater Caspar. Von da an verweilt sozusagen die Handlung eine Zeitlang in der Gegenwart. Dann verschwindet Pater Caspar im Meer und Roberto bleibt wieder allein.
Was sollte ich ihn jetzt tun lassen? Die Zwänge der Romanform verlangten, ihn mehrere Annäherungsversuche ans Ufer machen zu lassen. Aber diese Versuche mußten langsam sein, Tag für Tag neu, repetitiv und monoton. Schließlich hatte ich einen Roman zu schreiben, dessen Zweck ja darin bestehen soll - es sei zum Kummer aller Ästheten gesagt, doch voller Achtung vor den Regeln der Gattung, wie sie sich vom hellenistischen Roman bis heute gebildet haben, zu schweigen von der Poetik des Aristoteles -, dem Leser das Vergnügen der Erzählung zu liefern.
Zum Glück war ich Opfer eines weiteren Zwanges. Um mich an den Geist des barocken Romans zu halten, hatte ich zu Beginn einen Doppelgänger eingeführt, ohne zu wissen, was ich im weiteren mit ihm anfangen sollte. Nun kam er mir wie gerufen: Während Roberto die Insel zu erreichen sucht und jeden Tag besser schwimmen lernt (aber nicht gut genug), denkt er sich den Roman seines Doppelgängers aus, und so kann sich erneut die Struktur einen-Schritt-vor-und-drei-zuriick ergeben, denn während Roberto nicht auf die Insel gelangt, läßt er statt dessen seinen Doppelgänger auf ihr ankommen, nachdem er ihn dort hat aufbrechen lassen, wo er selbst aufgebrochen war. Wie schön ist es, einen Roman zu sehen, der sich von selber entwickelt! Ich wußte nicht, wo ich ankommen würde, denn zum Zwang der von mir gewählten Romanform gehörte, daß Roberto nirgendwo ankommen durfte. Der Roman endet, weil er von selber geradewegs auf sein Ende zugeht. Dies war es, was mein ModellLeser, wie ich mir wünschte, erkennen sollte. Daß der
Roman sich von selber schreibt, denn so war es gewesen und so ist es immer, wirklich.
Was die historischen Zwänge bei Baudolino betraf, so sollte die Rahmenerzählung im Jahre 1204 spielen, da ich von der Eroberung Konstantinopels erzählen wollte. Aber Baudolino sollte um die Mitte des 12. Jahrhunderts geboren worden sein (ich hatte mir das Jahr 1142 als Datum fixiert, um meine Figur mit vielen Tatsachen konfrontieren zu können, von denen ich gerne erzählen wollte). Der Brief des Priesters Johannes wird erstmals um 1165 erwähnt, und ich lasse ihn schon ein paar Jahre später zirkulieren, aber warum macht sich dann Baudolino, nachdem er Friedrich überzeugt hat, nicht sofort auf die Suche nach dem Reich des Priesters? Weil ich ihn erst im Jahre 1204 aus dem fernen Osten zurückkehren lassen durfte, damit er dem Niketas die ganze Geschichte während des Brandes von Konstantinopel erzählen konnte. Und was sollte ich ihn während der fast vierzig Jahre dazwischen tun lassen? Es war ein bißchen wie die Sache mit dem Computer im Pendel.
Ich lasse ihn allerlei Dinge tun, und derweil lasse ihn die Abreise immer weiter hinausschieben. Zu Anfang kam mir das wie eine Verschwendung vor, mir war, als fügte ich in die Erzählung eine Reihe von zeitlichen Füllseln ein, um endlich zu jenem verflixten Jahr 1204 zu gelangen. Aber am Ende, als alles fertig war (und ich hoffe, ja ich glaube zu wissen, daß viele Leser es bemerkt haben), hatte ich die Qual des Begehrens zum Ausdruck gebracht (oder besser gesagt: der Roman hatte sie zum Ausdruck gebracht, ohne daß ich mir dessen gleich bewußt geworden war). Baudolino begehrt das Reich, aber er muß den Beginn der Suche nach ihm ständig aufschieben. So wächst das Reich des Priesters Johannes in Baudolinos Begehren ins Riesenhafte - und ebenso (hoffe ich) in den Augen des
Lesers. Ein weiteres Mal erkennen wir die Vorzüge des Zwanges.
Nun versteht man, wie gegenstandslos Fragen von der Art sind: »Fangen Sie mit Notizen an, schreiben Sie gleich das erste Kapitel oder das letzte, schreiben Sie mit der Feder, dem Bleistift, der Schreibmaschine oder am Computer?« Wenn man Tag für Tag eine Welt erbauen muß, wenn man immer neue Zeitstrukturen ausprobieren muß, wenn die Handlungen, die von den Personen vollführt werden und nach der Logik des gesunden Menschenverstandes oder den Konventionen des Erzählens (oder gegen diese Konventionen) ablaufen sollen, sich in die Logik der Zwänge fügen müssen (mit ständigen Abänderungen, Streichungen, Neuansätzen), dann gibt es keine gleichbleibende Art und Weise, einen Roman zu schreiben.
Jedenfalls nicht für mich. Ich weiß von Autoren, die morgens um acht aufstehen, sich von halb neun bis zwölf an die Maschine setzen (nulla dies sine linea) und dann aufhören, um bis abends spazierenzugehen. Ich gehöre nicht dazu. Vor allem kommt, wenn man einen Roman schreiben will, der Akt des Schreibens erst später. Zuerst wird gelesen, man macht sich Auszüge, zeichnet Porträts von Personen, Karten von Orten und Muster von Zeitsequenzen. Und diese Dinge macht man mit Stift oder Füller oder am Computer, je nachdem, wann und wo man sich gerade befindet, welche Art von erzählerischer Idee oder Faktum man sich notieren will: auf der Rückseite des Fahrscheins, wenn man gerade im Zug sitzt, in einer Kladde, auf einer Karteikarte, mit dem Kuli, mit dem Diktiergerät, wenn es sein muß mit Brombeersaft.
Dann kommt es vor, daß ich etwas wegwerfe, zerreiße, zerknülle, irgendwo vergesse, aber ich habe Schachteln voller Hefte, Notizblöcke mit Seiten in verschiedenen Farben, mit Kärtchen, sogar mit Kanzleibögen. Und diese ungeordnete Vielfalt von Schreibmaterial ist mir eine Gedächtnishilfe, denn ich erinnere mich zum Beispiel, daß ich mir eine bestimmte Notiz auf dem Briefpapier eines Hotels in London gemacht hatte und daß ich den Anfang eines bestimmten Kapitels in meinem Arbeitszimmer auf einer blaßblau liniierten Karteikarte skizziert hatte, und zwar mit dem Montblanc-Füller, während der erste Entwurf des folgenden Kapitels auf dem Land entstanden war, auf der Rückseite eines wiederverwendeten Einkaufszettels.
Ich habe keine Methode, keine festen Tage, Stunden, Jahreszeiten. Aber vom zweiten bis zum dritten Roman hatte ich eine Gewohnheit entwickelt. Ich sammelte Ideen, machte mir Notizen, schrieb provisorische Fassungen, wo immer es mir gerade unterkam, aber dann, wenn ich wenigstens eine Woche in meinem Haus auf dem Land verbringen konnte, schrieb ich die Kapitel dort am Computer. Bevor ich wieder abreisen mußte, druckte ich sie aus, korrigierte sie und ließ sie dann in einer Schublade liegen, bis ich das nächste Mal aufs Land kam. Die Schlußfassungen meiner drei ersten Romane habe ich dort geschrieben, gewöhnlich in den zwei bis drei Wochen der Weihnachtsferien. Deshalb hatte ich angefangen, einen Aberglauben zu kultivieren (ich, der am wenigsten abergläubische Mensch der Welt - ich gehe unter Leitern hindurch, grüße freundlich alle schwarzen Katzen, die mir über den Weg laufen, und lege, um die abergläubischen Studenten zu bestrafen, meine Prüfungstermine immer auf Dienstage oder Freitage, solange sie nur dreizehnte oder siebzehnte sind): Die so gut wie endgültige Fassung, bis auf kleinere Korrekturen, mußte am 5. Januar, meinem Geburtstag, fertig sein. Wenn ich es nicht schaffte, wartete ich bis zum nächsten Jahr (und einmal, als ich schon im November fast fertig war, ließ ich alles andere liegen, um das Ziel bis Januar zu erreichen).
Auch hier war Baudolino die Ausnahme. Oder anders gesagt, er war im selben Rhythmus geschrieben worden, immer auf dem Lande, aber gegen Ende der ersten Hälfte, in den Weihnachtsferien 1999 - 2000, war ich ins Stocken geraten. Zuerst dachte ich, es läge an dem damals vielbeschrienen Millenium Bug. Es war das Kapitel über den Tod von Barbarossa, und was darin geschehen würde, war bestimmend für die Schlußkapitel und für die ganze Art, wie ich die Reise zum Reich des Priesters Johannes erzählen würde. Einige Monate war ich völlig blockiert, ich wußte beim besten Willen nicht, wie ich diese Schwelle überwinden oder diese Klippe umschiffen sollte. Ich verdrängte das Problem und ließ mir die (noch zu schreibenden) Kapitel durch den Kopf gehen, auf die ich mich schon von Anfang an gefreut hatte: die Begegnung mit den Monstern und vor allem die Begegnung mit Hypatia. Ich träumte davon, diese Kapitel schreiben zu können, aber ich wollte es nicht tun, solange ich das Problem nicht gelöst hatte, das mir zu einer Obsession geworden war.
Im Sommer 2000, wieder auf dem Lande, gelang es mir dann Mitte Juni, »die Klippe zu umschiffen«. 1995 hatte ich angefangen, an den Roman zu denken, ich hatte fünf Jahre gebraucht, um bis zur Mitte zu gelangen, also würde ich - sagte ich mir - nun noch weitere fünf Jahre brauchen, um ihn zu beenden.
Doch offenbar hatte ich die zweite Hälfte in jenen ersten fünf Jahren so intensiv bedacht, daß alles schon wohlgeordnet in meinem Kopf (oder Herz oder Bauch, was weiß ich) bereitlag. Kurz gesagt, zwischen Mitte Juni und den ersten Augusttagen hat sich das Buch fast von selber zu Ende geschrieben, in einem einzigen Zug (danach gab es noch ein paar Monate mit Kontrollen und Korrekturen, aber im Kern war es fertig, die Geschichte war zu Ende). An diesem Punkt brach ein weiteres meiner Prinzipien zusammen, denn auch ein Aberglaube ist ein Prinzip, so irrational er sein mag: Ich hatte das Buch nicht am 5. Januar beendet.
Irdgendwas stimmte nicht, dachte ich ein paar Tage lang. Dann, am 8. August, wurde mein erster Enkel geboren. Mit einem Schlag war mir alles klar, diesmal sollte ich den Roman nicht an meinem Geburtstag beenden, sondern an seinem. Ich widmete ihm mein Buch und war wieder beruhigt.
Wie hat der Gebrauch des Computers mein Schreiben beeinflußt? Sehr stark im Hinblick auf meine Erfahrung, und ich weiß nicht, wie stark im Hinblick auf die Ergebnisse.
Nebenbei: Da im Pendel von einem Computer die Rede ist, der Poesie fabriziert und Ereignisse aleatorisch kombiniert, wollten viele Interviewer um jeden Preis von mir hören, daß der ganze Roman am Computer entstanden sei, indem ich ihm ein Programm eingefüttert hätte, mit dem er dann alles ganz von allein habe erfinden können. Wohlgemerkt, es waren lauter Journalisten, die ihre Artikel inzwischen am Computer schrieben, von wo sie direkt zum Druck gingen - sie wußten also, was man von diesem dienstbaren Apparat erwarten konnte. Aber sie wußten auch, wie man für ein Publikum schreibt, das noch eine magische Vorstellung vom Computer hatte, und bekanntlich schreibt man ja häufig nicht, um den Lesern die Wahrheit zu sagen, sondern das, was sie gerne hören.
Jedenfalls geriet ich an einem bestimmten Punkt in Rage und offenbarte einem von ihnen die magische Formel:
Erstens braucht man selbstredend einen Computer, der eine intelligente Maschine ist, die für einen denkt - was für viele vorteilhaft wäre. Es genügt ein Programm von wenigen Zeilen, das auch ein Kind schreiben kann. Dann füttert man den Computer mit dem Inhalt einiger hundert Romane, wissenschaftlicher Werke, der Bibel und des Korans sowie etlicher Telefonbücher (sehr nützlich für die Namen der handelnden Personen). Sagen wir rund hundertzwanzigtausend Seiten. Danach randomisiert man das Ganze mit einem anderen Programm, d. h. man verquirlt alle diese Texte miteinander unter Beigabe eines Zusatzbefehls, zum Beispiel der Eliminierung sämtlicher Buchstaben a. So erhält man außer einem Roman auch noch ein Lipogramm. Nun gibt man den Befehl Print, und das Ganze wird ausgedruckt. Da man alle a eliminiert hat, kommen etwas weniger als hundertzwanzigtausend Seiten heraus. Nachdem man sie mehrmals sorgfältig gelesen und die wichtigsten Stellen unterstrichen hat, lädt man sie auf einen Lkw und fährt sie zu einer Müllverbrennungsanlage. Dann setzt man sich mit einem Kohlestift und Fabrianopapier unter einen Baum, läßt die Gedanken schweifen und schreibt zwei Zeilen, zum Beispiel: »Der Mond steht hoch am Himmel / der Wald raschelt und rauscht.« Vielleicht kommt noch nicht gleich ein Roman heraus, sondern bloß ein japanisches Haiku, aber das Entscheidende ist, einmal angefangen zu haben.
Niemand hatte den Mut, mein Geheimrezept abzudrucken. Aber jemand schrieb: »Man spürt, daß der Roman direkt am Computer geschrieben wurde; abgesehen von der Szene mit der Trompete auf dem Friedhof: Die ist wirklich erlitten, er muß sie mehrmals geschrieben haben, und zwar mit der Hand.« Ich schäme mich, es zu sagen, aber bei diesem Roman, der so viele Schreibphasen durchgemacht hat, bei denen der Kuli, der Bleistift, der Füllfederhalter und zahllose Revisionen ins
Spiel gekommen waren, ist das einzige Kapitel, das direkt am Computer geschrieben wurde, in einem Zug und ohne viele Korrekturen, genau das mit der Trompete gewesen. Der Grund ist sehr einfach: Ich hatte diese Geschichte so gegenwärtig, hatte sie mir und anderen so oft erzählt, daß es war, als ob ich sie längst geschrieben hätte. Ich brauchte nichts mehr zu ändern oder hinzuzufügen, ich bewegte die Hände über die Tastatur wie über die Tasten eines Klaviers, auf dem ich eine Melodie spielte, die ich längst auswendig konnte; und wenn es in jener Szene so etwas wie ein Glücksgefühl gibt, dann liegt das daran, daß sie entstanden ist wie eine Jam Session: Man spielt und läßt sich gehen, man nimmt auf, und was da ist, ist da.
Tatsächlich ist das Schöne am Computer, daß er die Spontaneität ermutigt: Man schreibt rasch und in einem Zug herunter, was einem durch den Kopf geht. Hinterher kann man ja immer noch korrigieren und variieren.
Der Gebrauch des Computers betrifft tatsächlich vor allem das Problem der Korrekturen und folglich der Varianten.
Der Name der Rose war in seinen Endfassungen mit der Schreibmaschine geschrieben. Danach korrigierte ich, tippte neu, überklebte Passagen, gab das Ganze zum Abtippen und fing von neuem an zu korrigieren, zu ersetzen und zu überkleben. Aber mit der Schreibmaschine kann man das Korrigieren nur bis zu einem bestimmten Punkt treiben, dann wird man das Kleben und Neuabtippen leid und gibt den Text zum Satz. Den Rest kann man immer noch in den Fahnen korrigieren.
Mit dem Gebrauch des Computers (das Foucaultsche Pendel habe ich mit Wordstar 2000 geschrieben, die Insel des vorigen Tages mit Word 5 und Baudolino mit Winword in den diversen releases der letzten Jahre) ändern sich die Dinge. Man ist versucht, ad infinitum zu korrigieren. Man schreibt, druckt aus und liest sich. Und korrigiert. Dann tippt man die korrigierten Stellen neu und druckt sie wieder aus. Ich habe die verschiedenen Fassungen (bis auf einige Lücken) aufbewahrt. Aber es wäre ein Irrtum zu meinen, daß morgen ein Varianten-Fan den ganzen Schreibprozeß rekonstruieren könnte. Denn in der Praxis schreibt man (am Computer), druckt aus, korrigiert (mit der Hand) und überträgt die Korrekturen in den Computer, aber dabei wählt man schon wieder andere Varianten, das heißt, man überträgt nicht genau die Korrekturen, die man mit der Hand geschrieben hat. Der penible Variantenphilologe fände noch Varianten zwischen der letzten handschriftlichen Korrektur im Papierausdruck und der neu ausgedruckten Fassung. Wollte man zu wirklich unnützen Doktorarbeiten ermuntern, hier gäbe es ein weites Feld zu beackern. Denn mit der Existenz des Computers ändert sich die innere Logik der Varianten. Sie repräsentieren nicht länger mehr eine Sinnesänderung noch die endgültige Entscheidung. Da der Schreibende weiß, daß die Entscheidung jeden Moment widerrufen werden kann, probiert er viele aus und kehrt oft zum früheren Zustand zurück.
Ich glaube wirklich, daß die Existenz der elektronischen Schreibwerkzeuge die Kritik der Varianten grundlegend ändern wird, bei aller Hochachtung vor dem Geist unserer großen Philologen. Vor Jahren habe ich mich einmal mit den Varianten von Manzonis Inni sacri beschäftigt. Damals war die Ersetzung eines Wortes von einschneidender Bedeutung. Heute nicht: Ich kann morgen auf das Wort zurückgreifen, das ich gestern gestrichen habe. Was zählt, ist höchstens der Unterschied zwischen der ersten Manuskript- und der letzten Druckfassung. Der Rest ist ein Hin und Her, das oft nur vom momentanen Blutdruck bestimmt wird.
Mehr will ich nicht sagen über die Art und Weise, wie ich meine Romane schreibe. Außer daß es für mich notwendig ist, viele Jahre daran zu arbeiten. Ich verstehe diejenigen Autoren nicht, die jedes Jahr ein Buch schreiben (es können sehr große Autoren sein, ich bewundere sie, aber ich beneide sie nicht). Das Schöne am Schreiben eines Romans ist nicht das Schöne einer Live-Sendung, sondern das Schöne einer sorgfältig vor- und nachbereiteten Aufzeichnung.
Ich bin immer mißmutig, wenn ich spüre, daß einer meiner Romane dem Ende entgegengeht, das heißt, wenn es nach seiner inneren Logik Zeit wird, daß er (daß sie, daß es) endet und ich aufhöre. Wenn ich spüre, daß weitermachen nur heißen würde, ihn zu verschlechtern. Das Schöne, die wahre Freude ist, sechs, sieben, acht Jahre lang (möglichst ewig) in einer Welt zu leben, die man sich nach und nach erbaut, bis sie die eigene wird.
Die Traurigkeit beginnt, wenn der Roman zu Ende ist.
Allein deshalb würde man sich wünschen, sofort einen nächsten zu beginnen. Aber wenn er nicht schon bereitsteht und einen erwartet, hat es keinen Zweck, sich zu beeilen.
Nun möchte ich allerdings nicht, daß diese letzten Behauptungen prompt zu einer anderen ermuntern, die allen schlechten Autoren gemeinsam ist: daß man nur für sich selber schreibe. Mißtrauen wir jedem, der so redet, er ist ein unehrlicher und verlogener Narziß.
Es gibt nur eines, was man für sich selber schreibt: den Einkaufszettel. Er dient als Gedächtnisstütze, wenn man einkaufen geht, und danach wirft man ihn weg, weil er zu nichts weiter nützt. Alles andere, was man schreibt, schreibt man, um jemandem etwas zu sagen.
Ich habe mich oft gefragt: Würde ich heute noch schreiben, wenn ich erführe, daß morgen eine kosmische Katastrophe das Universum zerstört, so daß niemand mehr lesen kann, was ich schreibe?
Im ersten Moment ist die Antwort: nein. Wozu schreiben, wenn niemand mich lesen kann? Im zweiten ist sie: ja, aber nur weil ich die verzweifelte Hoffnung hege, daß in der Katastrophe der Galaxien irgendein Stern überlebt und morgen noch jemand meine Zeichen entziffern kann. Dann hätte es auch am Vorabend der Apokalypse noch einen Sinn zu schreiben.
Man schreibt nur für einen Leser. Wer sagt, er schreibe nur für sich selbst, ist nicht bloß ein Lügner. Er ist auf eine furchterregende Weise Atheist. Auch aus streng weltlicher Sicht.
Unglücklich und verzweifelt, wer sich nicht an einen künftigen Leser zu wenden weiß.
Erweiterte Fassung meines Beitrags zu einem Sammelband von Maria Teresa Serafini (Hg.), Come si scrive un romanzo (Mailand, Bompiani, 1996). Die Herausgeberin hatte einer Anzahl Autoren eine Reihe von Fragen gestellt, die den Abschnitten dieses Beitrags entsprechen. Inzwischen ist mein vierter Roman, Baudolino, erschienen, und so habe ich einige Seiten über meine bisher letzte Erfahrung als Romancier eingefügt.
Anspielung auf eine berühmte Stelle im 1. Kapitel der Promessi Sposi, wo Manzoni ironisch seine »fünfundzwanzig Leser« anspricht (A. d. Ü.).
Eugenio Montale, Ossi di sepia, zu deutsch etwa: »Oft bin ich dem Übel des Lebens begegnet: / Es war der gestaute Bach, der gurgelte, / es war das Sich-Einrollen des welken / Blattes, es war das zusammengesackte Pferd.« Vgl. E. Montale, Gedichte 1920 -1954, übertragen von Hanno Helbling, Hanser 1987, S. 66 f. (A. d. Ü.).
Der Anfang des Romans I Malavoglia von Giovanni Verga (A. d. Ü.).
Maria Corti, »I giochi del Piano«, in L ’indice dei Libri del Mese, 10, 1988, S. 14 - 15.
Zuerst in dem Kapitel »Nachahmungen und Fälschungen« meines Buches Die Grenzen der Interpretation (Hanser 1992); aber siehe auch die vorstehende Inaugurationsrede über das Falsche, die vielleicht, bedenkt man das Datum (1994), die erste Keimzelle von Baudolino darstellt.
Deutsch nicht erschienen, vgl. aber Lyon Sprague De Camp, Geheimnisvolle Stätten der Geschichte, Düsseldorf, Econ, 1966 (A. d. Ü.).
Bompiani 1992 [dt. Wie man mit einem Lachs verreist, Hanser 1993, S. 173 - 187].
Dt. Nicetas Acominatus, übers., eingeleitet u. erklärt von Franz Grabler (Byzantinische Geschichtsschreiber Bd. 7 - 9), Graz, Styria, 1958 (A. d. Ü.).
Vgl. meinen Essay »Mit wem halten es die Orixa?« in Über Gott und die Welt, Hanser 1985, S. 116 - 125.