Nichts ist weniger definierbar als der Aphorismus. Das griechische Wort, eigentlich »das für eine Spende Abgezweigte« und daher »Spende«, bekommt im Laufe der Zeit die Bedeutung »Abgrenzung, Definition, knappe Sentenz«. So beispielsweise die Aphorismen des Hippo-krates. Darum ist der Aphorismus heute für unsere gängigen Wörterbücher, wie den Zingarelli, eine »kurze Maxime, die eine Lebensregel oder eine philosophische Sentenz ausdrückt«.
Was unterscheidet einen Aphorismus von einer Maxime? Nichts außer seiner Kürze.
Wenig genügt, uns zu trösten, weil wenig genügt, uns zu betrüben (Pascal, Pensées, ed. Brunschvicg, 136).
Hätten wir keine Fehler, wäre es uns nicht ein solches Vergnügen, die der anderen zu bemerken (La Rochefoucauld, Maximes, 31).
Die Erinnerung ist das Tagebuch, das wir alle mit uns herumtragen (Wilde, The Importance of Being Earnest).
Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht habe und nicht in Worte fassen könnte, aus der Sprache geschöpft (Karl Kraus, Pro
domo et mundo).
Dies sind Maximen, die auch Aphorismen darstellen, während die folgenden zu lang sind, um als Aphorismen durchgehen zu können:
1 Beitrag zu einem Kongreß über Oscar Wilde an der Universität Bologna, 9. November 2000.
Welch großer Vorteil ist doch der Adel: Schon mit achtzehn Jahren versetzt er einen Menschen in höhere Position, macht ihn bekannt und geachtet, wie es ein anderer erst mit fünfzig erreichen und verdienen könnte. Das sind dreißig mühelos gewonnene Jahre (Pascal, Pensées, ed. Brunschvicg, 322).
Der Künstler hat keine ethischen Überzeugungen. Eine ethische Überzeugung bei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils (Wilde, Vorrede zum Bildnis des Dorian Gray)
Alex Falzon, der Wildes Aphorismen auf italienisch bei Mondadori herausgebracht hat (Aforismi, Mailand 1986), definiert den Aphorismus als eine Maxime, in der es nicht bloß auf die Kürze der Form, sondern auch auf den Witz und Scharfsinn des Inhalts ankomme. Damit folgt er der heutigen Tendenz, im Aphorismus die Anmut und Geschliffenheit höher zu achten als die Annehmbarkeit des Gesagten unter dem Aspekt der Wahrheit. Natürlich ist der Begriff der Wahrheit bei Maximen und Aphorismen abhängig von den Intentionen des Aphoristikers. Zu sagen, ein Aphorismus drücke eine Wahrheit aus, heißt zu sagen, er wolle ausdrücken, was der Autor für wahr hält und wovon er seine Leser überzeugen will. Doch im allgemeinen wollen Maximen und Aphorismen weder unbedingt geistreich erscheinen noch eine gängige Meinung attackieren, sondern vielmehr einen Punkt vertiefen, in dem die gängige Meinung oberflächlich erscheint und der Korrektur bedarf.
Nehmen wir folgende Maxime von Chamfort: »Der Sparsame ist der reichste aller Menschen, der Geizige der ärmste« (Maximes et pensées, I, 145). Hier entspringt der Witz aus der Tatsache, daß die gängige Meinung dazu neigt, den Sparsamen als einen zu betrachten, der seine wenigen Ressourcen nicht verschwendet, also auch seine eigenen Bedürfnisse nur sparsam befriedigt, während der Geizige als einer gilt, der mehr Ressourcen anhäuft, als er braucht. Die Maxime scheint also der gängigen Meinung zu widersprechen und dabei lediglich hinzunehmen, daß »reich« in bezug auf die Ressourcen verstanden wird und »arm« außer im moralischen Sinne auch in bezug auf die Bedürfnisbefriedigung. Ist dieses rhetorische Spiel einmal durchschaut, widerspricht die Maxime der gängigen Meinung nicht mehr, sondern bekräftigt sie eher.
Widerspricht jedoch ein Aphorismus der gängigen Meinung so heftig, daß er auf den ersten Blick falsch und inakzeptabel erscheint und erst nach wohlüberlegter Reduzierung seiner hyperbolischen Form als Träger einer gerade noch akzeptablen Wahrheit erkennbar wird, so haben wir es mit einem Paradox zu tun.
Etymologisch ist paradoxon etwas, das sich para ten doxan, gegen die herrschende Meinung stellt. Daher bezeichnet das Wort ursprünglich eine seltsame, bizzare, unerwartete Behauptung, weitab von den Überzeugungen der Mehrheit, und in diesem Sinne finden wir es noch bei Isidor von Sevilla. Daß aber gerade diese seltsame Behauptung zu einem Träger von Wahrheit werden kann, ist ein Gedanke, der sich nur langsam durchsetzt. Bei Shakespeare ist ein Paradox noch etwas, das in einer bestimmten Zeit falsch ist, aber allmählich wahr werden kann, siehe Hamlet, III, 1, 106 ff.:
Ophelia: Was meint Eure Hoheit?
Hamlet: Daß, wenn Ihr tugendhaft und schön seid, Eure Tugend keinen Verkehr mit Eurer Schönheit pflegen sollte.
Ophelia: Könnte Schönheit wohl bessern Umgang haben als mit der Tugend?
Hamlet: Ja freilich, denn die Macht der Schönheit wird eher die Tugend in eine Kupplerin verwandeln, als die Kraft der Tugend die Schönheit sich ähnlich machen kann. Dies war einst ein Paradox, aber nun stellt die Zeit es unter Beweis.
Einen besonderen Platz haben die Paradoxa der Logik: Sie sind in sich widersprüchliche Behauptungen, bei denen man weder beweisen kann, daß sie wahr, noch daß sie falsch sind, wie beim Paradox des kretischen Lügners. Aber nach und nach setzt sich auch der para-rhetorische Sinn durch, und hier halte ich mich an die Definition im Battaglia:1
These, Auffassung, Behauptung, Sentenz, geistreiche Bemerkung, meist innerhalb eines ethischen oder theoretischen Diskurses, im Widerspruch zur verbreiteten oder allgemein anerkannten Meinung, zum gesunden Menschenverstand und zur allgemeinen Erfahrung, zum System der Glaubensvorstellungen, auf die man sich bezieht, oder zu den Prinzipien und Kenntnissen, die als anerkannt gelten (oft hat das P. auch keinerlei Wahrheitswert und ist bloß ein Sophismus, geprägt aus Liebe zur Exzentrizität oder um dialektische Fähigkeiten zu bezeugen; aber es kann auch unter einer scheinbar unlogischen und verwirrenden Form einen objektiv gültigen Kern enthalten, der dazu bestimmt ist, sich gegen die Ignoranz und Leichtfertigkeit der unkritisch die Meinung der Mehrheit Befolgenden zu behaupten).
Demnach wäre der Aphorismus eine Maxime, die als wahr anerkannt werden will, obwohl sie vor allem geistreich erscheinen möchte, während das Paradox als eine Maxime auftritt, die auf den ersten Blick falsch ist und erst nach einiger Überlegung erkennen läßt, daß sie ausdrücken soll, was der Autor für wahr hält. Aufgrund der Kluft zwischen den Erwartungen der gängigen Meinung und der provokatorischen Form, in der die Maxime auftritt, wirkt sie dann geistreich.
Die Literaturgeschichte ist reich an Aphorismen und etwas weniger reich an Paradoxen. Aphorismen zu prägen ist relativ leicht (und zu den Aphorismen gehören auch
Sprichwörter wie »La mamma e sempre la mamma« oder »Ein Hund, der bellt, beißt nicht«), Paradoxe dagegen sind eher schwierig.
Vor Jahren habe ich mich einmal mit einem Meister des Aphorismus wie Pitigrilli beschäftigt2, hier einige seiner brillantesten Maximen. Manche davon wollen, wenn auch mit Witz, eine Wahrheit bekräftigen, die sich keineswegs gegen die gängige Meinung stellt:
Gastronom: ein Koch, der das Gymnasium besucht hat.
Grammatik: ein kompliziertes Instrument, das Sprachen lehrt, aber am Sprechen hindert.
Fragmente: eine Himmelsgabe für Schriftsteller, die keine ganzen Bücher zustande bringen.
Dipsomanie: ein medizinischer Fachausdruck, der so schön ist, daß er einem Lust macht zu trinken.
Andere formulieren weniger eine angebliche Wahrheit als eine ethische Entscheidung oder Handlungsmaxime:
Ich verstehe den Kuß für einen Leprakranken, aber nicht den Händedruck mit einem Kretin.
Sei nachsichtig mit denen, die dir ein Unrecht getan haben, denn du weißt nicht, was die anderen für dich bereithalten.
Doch gerade in jenem Band mit dem schönen Titel Dizionario antiballistico (Mailand, Sonzogno, 1962), in dem er Maximen, Sprüche und Aphorismen von sich und anderen versammelt, warnt Pitigrilli, der stets und um jeden Preis zynisch sein wollte, auch auf die Gefahr hin, treuherzig seine Bosheiten zu gestehen, wie tückisch das Spiel des Aphorismus sein kann:
Da wir schon einmal bei Vertraulichkeiten sind, gestehe ich, daß ich das Rowdytum des Lesers gefördert habe. Ich meine folgendes: Wenn auf der Straße ein Streit ausbricht oder ein Verkehrsunfall passiert, taucht häufig plötzlich wie aus den Eingeweiden der Erde ein Individuum auf und versucht, einem der beiden Streithähne, gewöhnlich dem Automobilisten, seinen Regenschirm über den Schädel zu hauen. Der unbekannte Rowdy läßt seine latente Wut heraus. Ähnliches kommt auch in Büchern vor: Wenn ein Leser, der keine Ideen hat oder nur solche in formlosem Zustand, auf einen pittoresken, phosphoreszierenden oder explosiven Satz stößt, verliebt er sich in ihn, adoptiert ihn, versieht ihn mit einem Ausrufungszeichen am Rande, mit einem »gut!« oder »richtig!«, als hätte er schon immer so gedacht, als wäre dieser Satz die Quintessenz seines Denkens und Philosophierens. Er »bezieht Position«, wie der Duce sagte. Ich biete ihm die Möglichkeit, Position zu beziehen, ohne daß er in den Dschungel der verschiedenen Literaturen eintauchen muß.
So verstanden, drückt der Aphorismus auf brillante Weise einen Gemeinplatz aus. Vom Harmonium zu sagen, es sei »ein Pianoforte, das sich angeekelt vom Leben in die Religion geflüchtet hat«, ist nichts als eine effektvolle Formulierung dessen, was wir schon wußten und glaubten, nämlich daß das Harmonium ein Kircheninstrument ist. Vom Alkohol zu sagen, er sei »eine Flüssigkeit, welche die Lebenden tötet und die Toten konserviert«, fügt dem, was wir über die Gefahren der Trunksucht und die Gebräuche in anatomischen Instituten wußten, nichts hinzu.
Wenn Pitigrilli (in Esperimento di Pott, Mailand, Sonzogno, 1929) seinen Protagonisten sagen läßt: »Intelligenz bei Frauen ist eine Anomalie, die so selten auftritt wie Albinotum, Linkshändigkeit, Hermaphroditismus oder Polydaktilie«, dann sagt er genau das, wenn auch auf witzige Weise, was der männliche Leser (und vermutlich auch die weibliche Leserin von 1929) zu lesen erwarteten.
Doch, bei aller Kritik an seiner vis aphoristica, sagt Pitigrilli noch etwas mehr, nämlich daß viele glänzende Aphorismen auch umgedreht werden können, ohne dadurch an Kraft zu verlieren. Sehen wir uns einige der von ihm selbst vorgebrachten Beispiele solcher Umkehrung an (Dizionario, cit., S. 199 ff.):
Viele verachten die Reichtümer, aber nur wenige wissen sie zu verschenken.
Viele wissen Reichtümer zu verschenken, aber nur wenige verachten sie.
Wir versprechen gemäß unseren Befürchtungen und halten gemäß unseren Hoffnungen.
Wir versprechen gemäß unseren Hoffnungen und halten gemäß unseren Befürchtungen.
Die Geschichte ist nur ein Abenteuer der Freiheit.
Die Freiheit ist nur ein Abenteuer der Geschichte.
Das Glück liegt in den Dingen und nicht in unserem Geschmack.
Das Glück liegt in unserem Geschmack und nicht in den Dingen.
Überdies stellt er Maximen verschiedener Autoren zusammen, die zwar einander widersprechen, aber dennoch eine gesicherte Wahrheit auszudrücken scheinen:
Man täuscht sich nur aus Optimismus (Hervieu).
Man wird öfter durch Mißtrauen als durch Vertrauen getäuscht (Rivarol).
Die Völker wären glücklich, wenn die Könige philosophierten und die Philosophen regierten (Plutarch).
Wenn ich eine Provinz bestrafen will, werde ich sie von einem Philosophen regieren lassen (Friedrich II.).
Ich werde für diese umkehrbaren Aphorismen hier den Begriff »kanzerisierbare Aphorismen« verwenden. Der kanzerisierbare - also krebsanfällige - Aphorismus ist eine Krankheit der Neigung zum Witz oder Aperçu, mit anderen Worten, eine Maxime, die sich, solange sie nur geistreich erscheint, nicht darum schert, daß ihr Gegenteil ebenso wahr ist. Das Paradox ist eine reale Umkehrung des Gewohnten, die eine inakzeptable Welt präsentiert, weshalb es erst einmal Widerstand und Ablehnung hervorruft, dann aber, wenn man es genauer bedenkt, Erkenntnis produziert; am Ende erscheint es geistreich, weil man zugeben muß, daß es wahr ist. Der kanzerisier-bare Aphorismus ist demgegenüber lediglich Träger einer partiellen Wahrheit, und oft enthüllt er, sobald er kanzerisiert worden ist, daß keine der beiden behaupteten Ansichten wahr ist. Es schien nur so, weil er witzig formuliert war.
Das Paradox ist jedoch keine Abart des klassischen Topos der »verkehrten Welt«. Dieser ist bloß mechanisch, er führt eine Welt vor, in der Tiere sprechen und Menschen brüllen, Fische fliegen und Vögel schwimmen, Affen die Messe lesen und Bischöfe auf den Bäumen herumspringen. Er operiert mit einer Aneinanderreihung von adynata oder impossibilia ohne Logik. Er ist ein Karnevalsjux.
Um Paradox zu werden, muß die Umkehrung einer Logik folgen und auf einen Teil der Welt begrenzt sein. Ein Perser kommt nach Paris und beschreibt Frankreich so, wie ein Pariser Persien beschreiben würde. Die Wirkung ist paradox, weil sie den Leser zwingt, die Dinge anders als in der gewohnten Perspektive zu sehen.
Eine der Prüfungen, durch die sich ein Paradox von einem kanzerisierbaren Aphorismus unterscheiden läßt, ist der Versuch, es umzukehren. Pitigrilli zitiert eine Definition des Zionismus von Tristan Bernard, die offensichtlich vor der Gründung des Staates Israel formuliert worden sein muß: »wenn ein Jude einen anderen Juden um Geld bittet, um einen dritten Juden nach Palästina zu schicken.« Man probiere nur, das umzukehren: Es geht nicht. Woran man sieht, daß die korrekte Form tatsächlich eine Wahrheit enthielt - oder jedenfalls das, was Bernard als Wahrheit anerkannt haben wollte.
Nehmen wir nun eine Reihe berühmter Paradoxa von Karl Kraus. Ich versuche gar nicht, sie umzukehren, da das, wie sich bei kurzem Nachdenken zeigt, unmöglich ist. Sie sind allesamt Träger einer unkonventionellen, gegen die gängige Meinung gerichteten Wahrheit. Sie lassen sich nicht zum Ausdruck der gegenteiligen Wahrheit verbiegen.
Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.
Zur Vollkommenheit fehlte ihr nur ein Mangel.
Das Virginitätsideal ist das Ideal jener, die entjungfern wollen.
Die Unzucht mit Tieren ist verboten, das Schlachten von Tieren ist erlaubt.
Aber hat man noch nie bedacht, daß es ein Lustmord sein könnte?
Die Strafen dienen zur Abschreckung derer, die keine Sünden begehen wollen.
Es gibt einen dunklen Weltteil, der Entdecker aussendet.
Kinder spielen Soldaten. Das ist sinnvoll. Warum aber spielen Soldaten Kinder?
Die Irrsinnigen werden von den Psychiatern allemal daran erkannt, daß sie nach der Internierung ein aufgeregtes Benehmen zur Schau tragen.
Natürlich ist auch Karl Kraus nicht gegen die Sünde des kanzerisierbaren Aphorismus gefeit; hier einige seiner Sprüche, die leicht widerlegt und folglich umgedreht werden können (die kursiven Umkehrungen sind naturgemäß von mir):
Nichts ist unergründlicher als die Oberflächlichkeit des Weibes.
Nichts ist oberflächlicher als die Unergründlichkeit des Weibes.
Lieber ein häßlicher Fuß verziehen als ein häßlicher Strumpf!
Lieber ein häßlicher Strumpf verziehen als ein häßlicher Fuß!
Es gibt Frauen, die nicht schön sind, sondern nur so aussehen.
Es gibt Frauen, die schön sind, aber nicht so aussehen.
Der Übermensch ist ein verfrühtes Ideal, das den Menschen voraussetzt.
Der Mensch ist ein verfrühtes Ideal, das den Übermenschen voraussetzt.
Das Vollweib betrügt, um zu genießen. Das andere genießt, um zu betrügen.
Das Vollweib genießt, um zu betrügen. Das andere betrügt, um zu genießen.
Die einzigen Paradoxe, die sich fast niemals kanzerisieren lassen, sind die von Stanislaw Jerzy Lec. Hier eine kurze Liste seiner Unfrisierten Gedanken:3
Könnte man den Tod doch abzahlen, indem man ihn in Raten schliefe!
Ich habe von der Wirklichkeit geträumt. Welche Erleichterung, zu erwachen!
Sesam öffne dich - ich möchte hinaus!
Wer weiß, was Kolumbus entdeckt hätte, wenn ihm Amerika nicht in die Quere gekommen wäre!
Wie schrecklich: ein mit Honig beschmierter Knebel.
Der Krebs errötet nach seinem Tod. Was für ein beispielhaftes Feingefühl bei einem Opfer!
Schont die Sockel, wenn ihr die Denkmäler stürzt. Sie könnten noch gebraucht werden.
Er hat die Wissenschaft besessen, aber nicht geschwängert.
Scheiterhaufen erleuchten die Finsternis nicht.
Man kann auf St. Helena sterben, ohne Napoleon gewesen zu sein.
Sie standen sich so nah, daß es zwischen ihnen keinen Platz mehr für Gefühle gab.
Er streute Asche auf sein Haupt - die seiner Opfer.
Ich habe von Freud geträumt. Was bedeutet das?
Umgang mit Zwergen krümmt das Rückgrat.
Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.
Sogar in seinem Schweigen gab es Sprachfehler.
Ich gebe zu, ich habe eine Schwäche für Lee, aber bisher konnte ich nur einen einzigen Aphorismus bei ihm finden, der sich umkehren läßt:
Überlege, bevor du denkst.
Denke, bevor du überlegst.
Kommen wir nun zu Oscar Wilde. Angesichts der unzähligen Aphorismen, die er in seine Werke eingestreut hat, müßten wir zugeben, daß wir es mit einem dandyhaft seichten, auf oberflächliche Reize erpichten Autor zu tun haben, der, solange er nur den braven Bürger erschreckt, nicht zwischen Aphorismus, kanzerisierbarem Aphorismus und Paradox unterscheidet. Ja, er traut sich sogar, uns Behauptungen als scharfsinnige Aphorismen vorzusetzen, die sich unter der witzigen Oberfläche als triviale Gemeinplätze entpuppen - jedenfalls als Gemeinplätze für die viktorianische Oberschicht.
Auch hier jedoch läßt uns ein Experiment dieser Art erkennen, ob und inwieweit ein Autor, der die aphoristische Provokation zum Salz seiner Romane, Komödien und Essays gemacht hat, tatsächlich ein Schöpfer fulminanter Paradoxe war oder bloß ein begabter Bonmot-Sammler. Natürlich ist mein Experiment nur eine erste Geländeerkundung und zielt darauf ab, zu einer Magister- oder, warum nicht, Doktorarbeit zu ermuntern, die das ganze Feld systematisch erforscht.
Ich werde zunächst eine Reihe echter Paradoxe auflisten, die sich, wie mir scheint, nicht kanzerisieren lassen (oder höchstens mit dem Ergebnis einer sinnlosen oder eindeutig falschen Behauptung):
Das Leben ist einfach ein mauvais quart d’heure aus erlesenen Augenblicken.
Egoismus besteht nicht darin, zu leben, wie es uns paßt, sondern zu verlangen, daß die anderen leben, wie es uns paßt.
Es ist viel klüger, von allen schlecht zu denken - bis man entdeckt, daß jemand gut ist, aber das erfordert heutzutage eine Unzahl von Untersuchungen.
[man beachte: hier ist zwar eine Umkehrung möglich - Es ist viel klüger, von allen gut zu denken, bis man entdeckt, daß jemand schlecht ist, aber das erfordert heutzutage eine Unzahl von Untersuchungen -, aber das Ergebnis ist offenkundig falsch.]
Die Häßlichen und Dummen haben es am besten in dieser Welt: Sie können ruhig dasitzen und das Schauspiel begaffen. Wenn sie auch nichts vom Sieg wissen, bleibt ihnen wenigstens die Erfahrung der Niederlage erspart. Ein feinfühliger Mensch ist einer, der, wenn er Schwielen hat, stets auf die Füße der anderen tritt.
All jene, die unfähig zum Lernen sind, haben sich aufs Lehren verlegt. Jedesmal, wenn die Leute mit mir einer Meinung sind, habe ich das Gefühl, im Unrecht zu sein.
Ein Mann, über den viel geredet wird, ist eo ipso attraktiv. Irgend etwas muß schließlich an ihm dran sein.
Jeder große Mann hat heutzutage seine Jünger, und es ist immer Judas, der seine Biographie schreibt.
Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung. Falschheit ist die Wahrheit der anderen.
Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie neu zu schreiben.
Eine Sache ist nicht notwendigerweise wahr, weil jemand für sie gestorben ist.
Die Verwandten sind ein Haufen langweiliger Leute, die nicht den geringsten Sinn dafür haben, wie man lebt, und nicht die blasseste Ahnung, wann man stirbt.
Aber es gibt auch unzählige Aphorismen von Wilde, die sich leicht kanzerisieren lassen (die Kanzerisierungen sind selbstredend von mir):
Leben ist das Seltenste auf der Welt. Die meisten Leute existieren bloß und sonst nichts.
Existieren ist das Seltenste auf der Welt. Die meisten Leute leben bloß und sonst nichts.
Wer einen Unterschied zwischen Seele und Körper findet, hat weder die eine noch den anderen.
Wer keinen Unterschied zwischen Seele und Körper findet, hat weder die eine noch den anderen.
Leben ist zu wichtig, um ernst darüber zu sprechen.
Leben ist zu unwichtig, um darüber zu scherzen.
Es gibt auf der Welt zwei Kategorien von Menschen: diejenigen, die an das Unglaubliche glauben, wie die anderen, und diejenigen, die das Unwahrscheinliche tun, wie ich.
Es gibt auf der Welt zwei Kategorien von Menschen: diejenigen, die an das Unwahrscheinliche glauben, wie die anderen, und diejenigen, die das Unglaubliche tun, wie ich.
Mäßigung ist etwas Verhängnisvolles. Nichts hat mehr Erfolg als die Maßlosigkeit.
Maßlosigkeit ist etwas Verhängnisvolles. Nichts hat mehr Erfolg als die Mäßigung.
Es liegt etwas Verhängnisvolles in allen guten Vorsätzen: Sie werden immer zu früh gefaßt.
Es liegt etwas Verhängnisvolles in allen guten Vorsätzen: Sie werden immer zu spät gefaßt.
Es liegt etwas Offenkundiges in allen schlechten Vorsätzen: Sie werden immer im richtigen Augenblick gefaßt.
Unreif sein heißt vollkommen sein.
Reif sein heißt unvollkommen sein.
Vollkommen sein heißt unreif sein.
Unvollkommen sein heißt reif sein.
Die Unwissenheit gleicht einer delikaten exotischen Frucht: Man braucht sie nur zu streifen, und schon wird sie welk.
Das Wissen gleicht einer delikaten exotischen Frucht: Man braucht es nur zu streifen, und schon wird es welk.
Je mehr wir die Kunst studieren, desto weniger interessiert uns die Natur.
Je mehr wir die Natur studieren, desto weniger interessiert uns die Kunst.
Sonnenuntergänge sind aus der Mode. Sie gehören zu der Zeit, als Turner der letzte Schrei war. Sie zu bewundern, ist ein Kennzeichen für provinziellen Geschmack.
Sonnenuntergänge sind wieder in Mode, denn sie gehören zu der Zeit, als Turner der letzte Schrei war. Sie zu bewundern, heißt up to date sein.
Schönheit enthüllt alles, weil sie nichts ausdrückt.
Schönheit enthüllt nichts, weil sie alles ausdrückt.
Kein verheirateter Mann ist attraktiv, außer für seine eigene Frau, und oft, wie man hört, nicht einmal für sie.
Jeder verheiratete Mann ist attraktiv, außer für seine eigene Frau, und oft, wie man hört, sogar für sie.
Dandytum ist auf seine Weise ein Versuch, die absolute Modernität der Schönheit zu verfechten.
Dandytum ist auf seine Weise ein Versuch, die absolute Inaktualität der Schönheit zu verfechten.
Die Konversation müßte alles streifen, ohne sich je auf etwas zu konzentrieren.
Die Konversation dürfte nichts streifen, um sich auf alles zu konzentrieren.
Ich liebe es, über nichts zu sprechen. Es ist das einzige, worüber ich alles weiß.
Ich liebe es, über alles zu sprechen. Es ist das einzige, worüber ich nichts weiß.
Nur die großen Meister des Stils verstehen es, klar zu sein.
Nur die großen Meister des Stils verstehen es, dunkel zu sein.
Jeder kann teilhaben an der Geschichte. Nur ein großer Mann kann sie schreiben.
Jeder kann Geschichte schreiben. Nur ein großer Mann kann an ihr teilhaben.
Die Engländer haben mit den Amerikanern alles gemeinsam außer der Sprache.
Die Engländer haben mit den Amerikanern nichts gemeinsam außer der Sprache.
Nur die Modernen werden überholt.
Nur die Überholten werden modern.
Müßten wir hier unser Urteil über Wilde fällen, würde es ziemlich streng ausfallen. Als höchste Inkarnation des Dandytums, aber im Rückstand hinter Lord Brummel und sogar hinter seinem geliebten Des Esseintes, kümmert er sich nicht um die Unterscheidung zwischen Paradoxen als Trägern zugespitzter Wahrheiten, Aphorismen als Trägern akzeptabler Wahrheiten und kanzerisierbaren Aphorismen als bloß geistreichen Spielereien ohne Wahrheitsanspruch. Im übrigen würde sein Verhalten durch seine Vorstellungen von der Kunst autorisiert, dürfte es doch ihnen zufolge bei einem Aphorismus niemals um Nützlichkeit,
Wahrheit oder Moralität gehen, sondern stets nur um stilistische Schönheit und Eleganz.
Allerdings würde sein Bemühen um ästhetische Provokation und Stil nicht genügen, um Oscar Wilde freizusprechen, da es ihm nicht gelang, zwischen der echten Provokation durch das Paradox und der bloß oberflächlichen Provokation zu unterscheiden. Doch bekanntlich hätte er, wäre es nach seinen Prinzipien gegangen, nicht ins Gefängnis gesteckt werden dürfen, weil er Lord Douglas liebte, sondern weil er ihm Briefe wie diesen geschrieben hatte: »Es ist ein Wunder, daß deine rosenroten Lippen nicht minder für die Musik des Gesanges als für die Tollheit der Küsse gemacht sind« - und nicht nur deshalb, sondern weil er während des Prozesses auch noch behauptet hatte, dieser Brief sei eine Stilübung und eine Art Sonett in Prosa gewesen.
Das Bildnis des Dorian Gray wurde von den Londoner Richtern aus absolut törichten Gründen verurteilt, aber unter dem Gesichtspunkt der literarischen Originalität ist es bei allem Zauber, den es hat, nur eine Imitation von Balzacs Chagrinleder und eine weitgehende (auch indirekt eingestandene) Kopie von Huysmans’ Gegen den Strich. Mario Praz hat darauf hingewiesen, daß der Dorian Gray fast ebensoviel dem Monsieur de Phocas von Jean Lorrain verdankt, und sogar eine der Grundmaximen des Ästheten Wilde (»Kein Verbrechen ist vulgär, aber Vulgarität ist ein Verbrechen«) ist eine Übernahme von Baudelaires »Ein Dandy kann niemals ein vulgärer Mensch sein: Wenn er ein Delikt beginge, würde er nichts von seiner Reputation verlieren; wenn aber diesem Delikt ein banales Motiv unterläge, dann wäre die Schande irreparabel«.
Gleichwohl ist es mühsam, wie Alex Falzon in der erwähnten italienischen Aphorismen-Ausgabe schreibt, die Aphorismen eines Autors zu sammeln, der nie ein eigenes Aphorismenbuch geschrieben hat - denn die Sätze und Sprüche, die wir als solche betrachten, sind ja nicht isoliert entstanden, um außerhalb jedes Kontexts zu glänzen, sondern in narrativen oder szenischen Umgebungen und folglich als Aussprüche von bestimmten Personen unter bestimmten Umständen. Kann man zum Beispiel einen Aphorismus als schwach bezeichnen, den der Autor einer bewußt als seicht dargestellten Figur in den Mund legt? Ist es ein Aphorismus, wenn Lady Bracknell in The Importance of Being Earnest zu Algernon sagt: »Den Vater oder die Mutter zu verlieren kann als bedauerlicher Unglücksfall gelten. Beide zu verlieren, grenzt schon an Schlamperei«? Daher der begründete Verdacht, daß Wilde an keinen seiner Aphorismen glaubte und nicht einmal an die besten seiner Paradoxa, sondern einzig daran interessiert war, eine Gesellschaft vorzuführen, die solche Sprüche zu schätzen wußte.
Im übrigen sagt er das selbst. Man lese nur diesen Dialog in The Importance of Being Earnest:
Algernon: Alle Frauen ähneln mit der Zeit ihren Müttern. Das ist ihre Tragik. Aber nie ein Mann. Das ist seine Tragik.
Jack: Findest du das geistreich?
Algernon: Es ist perfekt formuliert. Und so zutreffend, wie man es unter kultivierten Leuten von einem Aperçu erwarten darf.
Darum sollte man Oscar Wilde nicht als einen liederlichen Aphoristiker ansehen, sondern als einen Satiriker und Kritiker der herrschenden Bräuche. Daß er dann in und mit diesen Bräuchen sehr gut zu leben verstand, ist eine andere Sache und war sein Pech.
Sehen wir das Bildnis des Dorian Gray einmal daraufhin durch. Bis auf wenige Ausnahmen werden die denkwürdigsten Aphorismen dem als seichten Salonlöwen porträtierten Lord Henry Wotton in den Mund gelegt.
Wilde präsentiert sie uns keineswegs als Lebensregeln, die er selber für richtig hielte.
Lord Henry formuliert, wenn auch mit Esprit, eine unerträgliche Reihe von Gemeinplätzen der viktorianischen Gesellschaft (und gerade deshalb delektierten sich Wildes Leser an seinen falschen Paradoxa): Ein Bischof sagt als Achtzigjähriger noch genau dasselbe, was man ihn als Achtzehnjährigen gelehrt hat. Das Gewöhnlichste wird begehrenswert, sobald man es versteckt. Der einzige Reiz der Ehe liegt darin, daß sie ein Leben in Täuschung für beide Teile unentbehrlich macht (später wird Lord Henry jedoch sagen, der wahre Nachteil der Ehe sei, daß sie selbstlos mache). Nicht einmal zehn Prozent der Proletarier leben rechtschaffen. Heutzutage bringt es ein gebrochenes Herz zu vielen Auflagen. Die Jungen möchten treu sein und sind es nicht, die Alten würden gern untreu sein und können es nicht. Nur wer seine Rechnungen bezahlt, braucht Geld, und ich bezahle meine nie. Ich möchte in England nichts ändern, nur das Klima. Um die eigene Jugend wiederzufinden, muß man nur dieselben Verrücktheiten wieder begehen. Männer heiraten aus Müdigkeit und Frauen aus Neugier. Keine Frau ist ein Genie, die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Frauen haben einen wunderbaren Sinn für die Praxis: wir vergessen oft, von Heirat zu sprechen, aber sie erinnern uns immer wieder daran. Wenn wir glücklich sind, sind wir immer gut, aber wenn wir gut sind, sind wir nicht immer glücklich. Die wahre Tragik der Armen ist, daß sie sich nichts außer der Selbstaufopferung gönnen (wer weiß, ob Lord Henry das Kommunistische Manifest gelesen hatte und wußte, daß die Proletarier nichts zu verlieren haben als ihre Ketten?). Es ist besser zu lieben, als geliebt zu werden, geliebt zu werden ist eine Belästigung. Mit jedem Effekt, den wir erzielen, machen wir uns einen Feind, um beliebt zu sein, muß man mittelmäßig sein. Auf dem Land kann jeder gut sein, dort gibt es keine Versuchungen. Das Eheleben ist nur eine Gewohnheit. Das Verbrechen ist das Vorrecht der Unterklassen, für sie ist das Verbrechen das, was für uns die Kunst ist: eine Art und Weise, sich Gefühle außerhalb des Gewöhnlichen zu verschaffen. Mord ist immer ein Fehler, man sollte nie etwas tun, worüber man nicht nach dem Essen reden kann .. ,5
Neben diesen Platitüden, die nur darum brillant erscheinen, weil sie in Salven abgeschossen werden - wie bei jener Technik der Aufzählung, in der die banalsten Wörter an Glanz gewinnen, weil sie ein inkongruentes Verhältnis mit ebenso banalen anderen Wörtern eingehen -, bezeugt Lord Henry ein besonderes Genie im Aufspüren von Gemeinplätzen, die sogar für die Spruchkärtchen in Pralineschachteln zu fad wären, und macht sie durch Umkehrung würzig:
Natürlichkeit ist nichts als Pose, und zwar die ärgerlichste, die ich kenne. Die einzige Art, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben. Ich liebe die einfachen Freuden, sie sind die letzte Zuflucht der komplizierten Personen.
Was ich hören will, ist eine Neuigkeit, natürlich keine nützliche, sondern eine unnütze.
Alles flößt mir Mitleid ein, nur nicht das Leiden.
Heutzutage entdecken viele, wenn es zu spät ist, daß die einzigen Dinge, die man niemals bedauert, die eigenen Fehler sind.
Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, ich bin zu verliebt [aber dies sagt Dorian, vom Meister verdorben].
Diejenigen, die nur einmal im Leben lieben, sind die wirklich Oberflächlichen.
Die Tragödien der anderen haben immer etwas Erbärmliches. Wenn ein Mann etwas besonders Dummes tut, handelt er stets aus den edelsten Motiven.6
Wir sind in Zwietracht mit uns selbst, wenn wir gezwungen sind, in Eintracht mit den anderen zu sein.
Ein Mann kann mit jeder Frau glücklich sein, solange er sie nicht hebt. Ich fechte niemals die Taten an, nur die Worte. Besser schön sein als gut sein.4 Häßlichkeit ist eine der sieben Todtugenden. Grundlage jedes Skandals ist eine unmoralische Gewißheit. Die einzigen Menschen, deren Meinungen ich jetzt mit Respekt anhöre, sind viel jünger als ich.
Nur die Oberflächlichen urteilen nicht nach dem Schein. Es ist ungeheuerlich, wie die Leute heutzutage herumlaufen und hinter unserem Rücken Dinge sagen, die absolut wahr sind.
Der einzige Unterschied zwischen einer Laune und einer lebenslangen Leidenschaft ist, daß die Laune etwas länger andauert.
Man kann Lord Henry auch nicht die Erfindung einiger schöner Paradoxa absprechen, etwa:
Meine Freunde wähle ich wegen ihrer Schönheit aus, meine Bekannten wegen ihres guten Charakters und meine Feinde wegen ihrer Intelligenz.
Amerikanische Mädchen verbergen ihre Eltern so geschickt wie englische Frauen ihre Vergangenheit.
Die Philanthropen verlieren jeden Sinn für Humanität. Das ist ihr Erkennungszeichen.
Rohe Gewalt kann ich tolerieren, aber rohe Vernunft ist unerträglich.
Wagners Musik gefällt mir mehr als jede andere. Sie ist so laut, daß man die ganze Zeit reden kann, ohne daß jemand hört, was man sagt.
Wenn man sich verliebt, beginnt man stets damit, sich selbst zu täuschen, und endet stets damit, die anderen zu täuschen.
Eine grande passion ist das Privileg derer, die nichts zu tun haben.
Die Frauen wecken in uns den Wunsch, Meisterwerke zu schaffen, um uns dann ständig daran zu hindern, sie auszuführen.
Wer nicht zögert, einen Spaten einen Spaten zu nennen, sollte gezwungen sein, ihn zu benutzen.
Häufiger sind die Paradoxe Lord Henrys jedoch kanzeri-sierbare Aphorismen (Kanzerisierungen wie immer von mir):
Die Sünde ist der einzige Farbtupfer, der dem modernen Leben geblieben ist.
Die Tugend ist der einzige Farbtupfer, der dem modernen Leben geblieben ist.
Die Menschheit nimmt sich zu ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Wäre der Höhlenbewohner fähig gewesen zu lachen, hätte die Geschichte einen anderen Lauf genommen.
Die Menschheit nimmt sich zu wenig ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Wäre der Höhlenbewohner fähig gewesen, sich das Lachen zu verkneifen, hätte die Geschichte einen anderen Lauf genommen.
Die Frauen verkörpern den Sieg der Materie über den Geist, so wie die Männer den Sieg des Geistes über die Moral verkörpern.
Die Männer verkörpern den Sieg der Materie über den Geist, so wie die Frauen den Sieg des Geistes über die Moral verkörpern.
Die Wahrheit ist, daß im Dorian Gray die Seichtheit Lord Wottons in Szene gesetzt und zugleich denunziert wird. Über ihn wird gesagt: »Hör ihm nicht zu, meine Liebe ... Er redet nie ernsthaft.« Über ihn sagt der Autor:
»Er spielte mit der Idee und versteifte sich immer mehr darauf; er warf sie in die Luft und verwandelte sie, ließ sie entkommen und fing sie wieder ein, machte sie schillernd vor Phantasie und geflügelt mit dem Paradox ... Er spürte, daß Dorian Grays Augen ihn fixierten, und das Bewußtsein, daß unter seinen Zuhörern einer war, den er faszinieren wollte, schien seinem Witz noch mehr Schärfe und seiner Phantasie noch mehr Farbe zu geben.«
Lord Wotton delektiert sich an dem, was er für Paradoxe hält, aber seine Bekannten haben keine besonders hohe Meinung von Paradoxen:
»Man sagt, wenn die guten Amerikaner sterben, gehen sie nach Paris«, feixte Sir Thomas, der über ein großes Repertoire an Aperçus aus zweiter Hand verfügte.
»Paradoxe passen auf ihre Art immer«, meinte der Baronet.
Es stimmt zwar, daß Mr. Erskine daraufhin sagt: »War das ein Paradox? Mir kam es nicht so vor. Aber vielleicht habe ich mich getäuscht. Nun, der Weg des Paradoxons ist der Weg der Wahrheit. Um die Wirklichkeit zu testen, muß man sie auf dem Seil tanzen sehen. Nur wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.« Mr. Erskine hat sich nicht getäuscht, aber Lord Henry geizt mit Paradoxen (da er nichts hat, woran er glauben kann), und was auf seinem Seil tanzt, ist der common sense, nicht die Wahrheit. Doch andererseits, was hat für Lord Henry schon Bedeutung?
»Und nun, mein lieber junger Freund - wenn Sie mir erlauben, Sie so zu nennen -, darf ich Sie fragen, ob Sie das alles wirklich meinten, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?« - »Ich habe völlig vergessen, was ich gesagt habe«, antwortete Lord Henry lächelnd. »War es so schlimm?«
Im Dorian Gray werden wenige wirklich schlimme Dinge gesagt und viele getan. Aber im Grunde tut Dorian sie, weil seine Freunde ihn mit ihren falschen Paradoxen verdorben haben. Am Ende ist dies die Lehre, die wir aus dem Roman ziehen können. Doch sogar diese Lehre würde Oscar Wilde verneinen, schließlich hat er in der Vorrede des Romans gesagt: »Der Künstler hat keine ethischen Überzeugungen. Eine ethische Überzeugung bei einem Künstler ist eine unverzeihliche Manieriertheit des Stils.« Und im Dorian Gray liegt der Stil in der Art, wie die Oberflächlichkeit in Szene gesetzt worden ist. Deshalb sollte man, auch wenn Oscar Wilde selbst dem von ihm zur Schau gestellten Zynismus, der seine Leser und Zuschauer entzückte, zum Opfer gefallen ist, ihm nicht das Unrecht antun, seine Aphorismen isoliert zu zitieren, als ob sie uns etwas lehren wollten oder könnten.
Wahr ist, daß einige seiner besten Paradoxa in jenen »Sätzen und Philosophien zum Gebrauch der Jungen« stehen, die er ebendeshalb als Lebensmaximen in einem Oxforder Studentenmagazin veröffentlich hat:
Die Bosheit ist ein von den Guten erfundener Mythos, um den eigenartigen Reiz der Nichtguten zu erklären.
Die Religionen sterben, sobald sich ihre Wahrheit erweist. Die Wissenschaft ist das Inventar der toten Religionen.
Gut erzogene Leute widersprechen den anderen. Die Weisen widersprechen sich selbst.
Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht der Gescheiterten.
Bei Prüfungen stellen die Dummen Fragen, auf welche die Weisen nicht antworten können.
Nur den großen Meistern des Stils gelingt es, immer unbemerkt durchzuschlüpfen.
Die erste Pflicht des Lebens ist es, so artifiziell wie möglich zu sein. Welches die zweite ist, weiß ich nicht.
Nichts, was wirklich geschieht, hat die geringste Bedeutung. Überdruß ist das höhere Alter der Ernsthaftigkeit.
Wenn man die Wahrheit sagt, ist man sicher, früher oder später entdeckt zu werden. Nur wer wenig Tiefe hat, erkennt sich selbst.
Doch in welchem Maße er diese Sätze als wahre Lehren ansah, sagt er in den Antworten, die er im Prozeß gab, als sie ihm vorgehalten wurden: »Ich denke selten, daß etwas von dem, was ich schreibe, wahr ist.« Oder: »Dies ist ein amüsantes Paradox, aber als Maxime kann ich ihm nicht viel Wert beimessen.« Andererseits, wenn es stimmt, daß eine Wahrheit »aufhört wahr zu sein, sobald mehr als eine Person an sie glaubt« - auf welchen kollektiven Konsens könnte dann eine von Wilde gesagte Wahrheit hoffen? Und da »in allen unbedeutenden Dingen das wesentliche der Stil, nicht die Ernsthaftigkeit ist und in allen bedeutenden Dingen das wesentliche der Stil, nicht die Ernsthaftigkeit«, ist es richtig, von Wilde keine strenge Unterscheidung zwischen Paradoxa (wahren), Aphorismen (trivialen) und kanzerisierbaren (also falschen oder jedes Wahrheitswertes baren) Aphorismen zu verlangen. Was er zur Schau stellt, ist eine regelrechte Sentenzenwut, ein furor sententialis (und somit eine wohltuende rhetorische Inkontinenz), nicht eine philosophische Passion.
Auf einen Aphorismus hätte Wilde allerdings geschworen, und darauf hat er im Grunde sein Leben gesetzt: »Alle Kunst ist gänzlich nutzlos.«
Salvatore Battaglia, Grande dizionario della lingua italiana, Turin, UTET, 1984, Bd. XII, s. v. »Paradosso« (A. d. U.).
»Pitigrilli: l’uomo che fece arrossire la mamma«, in II superuomo di massa, 2. ed., Milano, Bompiani, 1978. [Pitigrilli, eigentlich Dino Segre, 1893 - 1975, italienischer Journalist und Autor vielgelesener drastisch-satirisch-erotischer Gesellschaftsromane, A. d. Ü.]
Zitiert nach der italienischen Ausgabe Pensieri spettinati, Mailand, Bompiani, 1984 [dt. Alle unfrisierten Gedanken, hrsg. von Karl Dedecius, Hanser 1982, A. d. Ü.].
Eco zitiert aus der Buchfassung von 1891, die sechs Kapitel mehr als die 1890 veröffentlichte Fassung in Lippincott’s Monthly Magazine enthält. In deutschen Übersetzungen, die dem Erstdruck folgen, wie die von Christine Koschel und Inge v. Weidenbaum in der Werkausgabe von Rainer Gruenter, Hanser 1970, oder die von Jörg W. Rademacher, Eichborn 2000, sind dieses und die folgenden Zitate daher nicht zu finden (A. d. Ü.).
Dies kehrt den Gemeinplatz um, daß Schönes und Gutes aus edlen
Motiven getan wird, aber es läßt sich auch so umkehren: Wenn ein
Mann etwas besonders Edles tut, handelt er stets aus den
dümmsten Motiven.
Dies kehrt zwar einen Gemeinplatz um, aber es geht weiter mit: »Doch niemand anerkennt bereitwilliger als ich, daß es besser ist, gut zu sein, als häßlich zu sein«, womit es auf einen Gemeinplatz rekurriert, der banaler nicht sein kann, von der Sorte, die unsere TV-Talkmaster lieben: »Lieber schön, reich und gesund als häßlich, arm und krank.«