A portrait of the artist as a bachelor1

Vermutlich bin ich der am wenigsten geeignete Festredner für eine Feier zum Gedenken der Verleihung des Bachelor of Arts an Joyce, hatte es doch in einem Artikel des St. Stephen’s Magazine von 1901 geheißen, Joyce sei durch die Ideen aus Italien verdorben worden. Aber nicht ich war es, der diese Gedenkfeier gewünscht hat, die Verantwortung trägt das University College. Was den Titel meines Vortrags angeht, so ist mein intertextuelles Spiel kein besonders geistreiches, aber ich bin ja auch nur ein playboy of the southern world.

Dennoch fühle ich mich durch den gewählten Titel ein wenig beengt: Ich hätte gern auch von jenen Zeiten gesprochen, als Jim auf dem Clongowes Wood College sein Alter mit »I am half past six« angab. Aber schweifen wir nicht ab und befassen wir uns mit Joyce in seiner Eigenschaft als bachelor.

Vermutlich wissen Sie alle, daß bachelor in vielen zeitgenössischen Studien über Semantik ein magisches Wort geworden ist, das sich von einem Autor zum anderen weitervererbt als schlagendes Beispiel für einen mehrdeutigen Begriff, der mindestens vier verschiedene Bedeutungen hat. Ein bachelor ist a) ein noch unverheirateter junger Mann, b) ein angehender Ritter im Dienst eines älteren, c) ein Träger des niedrigsten akademischen Grades und d) eine männliche Robbe, die in der Paarungszeit noch kein Weibchen gefunden hat. Roman Jakobson hat jedoch darauf hingewiesen, daß diese vier Homonyme trotz ihrer Bedeutungsunterschiede einen gemeinsamen Grundsinn von Unvollständigkeit oder zumindest Unfertigkeit haben. Ein bachelor ist somit in jedem Fall einer, der noch nicht zur vollen Reife gelangt ist. Der junge Mann ist noch kein Gatte und reifer Familienvater, der Knappe ist noch nicht zum Ritter geschlagen, der BA ist noch kein PhD, und die arme männliche Robbe hat noch nicht die Freuden der Liebe entdeckt.

Zu der Zeit, als unser Jim das University College verließ, war er noch ein unvollständiger Joyce, insofern er noch nicht jene Werke geschrieben hatte, ohne die Joyce nur ein arroganter Debütant geblieben wäre. Allerdings möchte ich hier herausstellen, daß Jim am Ende seiner Studien nicht so unfertig war, wie man glauben möchte, und daß es gerade jene Jahre waren, in denen er mit seinen ersten Schreibversuchen sehr klar die Richtungen eingeschlagen hatte, die er dann in reifem Alter weiterverfolgen sollte.

Er hatte seine Studien 1898 damit begonnen, daß er Englisch bei Pater O’Neill lernte, einem leidenschaftlichen Parteigänger der Bacon-Shakespeare-Kontroverse, Italienisch bei Pater Ghezzi und Französisch bei Edouard Cadic. Es war die Epoche der neothomistischen Studien, jener, die oft den kürzesten Weg zu einem Mißverständnis des Aquinaten weisen, aber sicherlich hatte Jim im College, noch vor den Aufzeichnungen im Pola und im Paris Notebook, etwas von Thomas verstanden. Hatte er doch zu Stanislaus gesagt, Thomas von Aquin sei ein sehr komplexer Denker, denn was er sage, gleiche genau dem, was die gewöhnlichen Leute sagen oder gern sagen würden - und das heißt für mich, daß er sehr viel, wenn nicht alles von der thomistischen Philosophie verstanden hatte.

In seinem Vortrag Drama and Life, den er am 20. Januar 1900 vor der Literary and Historical Society des University College hielt, kündigte Joyce die Poetik der Dubliners an: »Dennoch glaube ich, daß der tristen Monotonie des Daseins Teile vom Drama des Lebens abzugewinnen sind. Auch der größte Gemeinplatz, auch der Abgestorbenste unter den Lebenden kann eine Rolle in diesem großen Drama spielen.«

In seinem Aufsatz Ibsen’s New Drama, den er am

1. April 1900 in der Fortnightly Review veröffentlichte, können wir jenen Grundgedanken der Unpersönlichkeit des Künstlers erkennen, den wir im Portrait wiederfinden werden. Ibsen betrachte sein dramatisches Werk, schreibt der 18jährige Joyce, »in regelmäßigen langen Abständen wie aus einer gewaltigen Höhe, mit einer vollkommenen Sicht und einer engelhaften Unparteilichkeit, mit der Sicht dessen, der offenen Auges in die Sonne schauen kann«, und im Portrait wird es heißen, der Künstler bleibe »wie der Gott der Schöpfung . in oder hinter oder jenseits oder über dem Werk seiner Hände, unsichtbar, verfeinert bis zum Verschwinden, gleichgültig, nur damit beschäftigt, sich die Nägel zu maniküren.«

In dem Vortrag James Clarence Mangan, den er am 15. Februar 1902 wiederum vor der Literary and Historical Society hielt und dann in der Mai-Nummer des St. Stephen’s Magazine veröffentlichte, lesen wir: »Schönheit, der Glanz der Wahrheit, ist eine Gnadenerscheinung [graciouspresence], wenn die Imagination gesammelt und angespannt die Wirklichkeit ihres eigenen Seins oder die sichtbare Welt betrachtet, und der Geist, der aus Wahrheit und Schönheit hervorgeht, ist der heilige Geist der Freude. Das sind Realitäten, und sie allein geben und erhalten das

Leben.« Hier haben wir ohne Zweifel den ersten Keim des Begriffs der Epiphame, wie er in späteren Schriften entwickelt werden wird.

In The study of languages, einem Aufsatz aus dem ersten Studienjahr (1898 - 99), finden wir eine eindrucksvolle These, die der Struktur des Ulysses zugrunde liegt: Der junge Autor spricht von einer Sprache der Kunst und sagt, sie erhebe sich »über die Härte, die für platte, nicht gehobene Aussagen hinreicht, durch den zusätzlichen Einfluß dessen, was schön ist an ergreifenden Formulierungen, am Aufschwellen von Worten, an Sturzbächen von Schmähungen, an Tropen und Abwandlungen und Figuren, wobei jedoch selbst in Augenblicken höchster Emotion eine naturgegebene Symmetrie bewahrt bleibt.«

Aus demselben Text können wir sogar ein fernes Echo von Finnegans Wake und der künftigen Vico-Lektüre heraushören, wenn Joyce schreibt: »In der Geschichte der Wörter ist vieles enthalten, was auf die Geschichte der Menschen verweist, und wenn wir die heutige Sprache mit derjenigen vor vielen Jahren vergleichen, haben wir eine brauchbare Illustration dafür, wie sich äußere Einflüsse bis in die Wörter eines Volkes hinein auswirken.«

Auch Joyces grundlegende Obsession, die Suche nach einer Wahrheit der Kunst durch das Manövrieren mit allen Sprachen der Welt, zeigt sich in einem anderen Abschnitt dieses frühen Aufsatzes, wenn Jim noch im ersten Studienjahr schreibt: »Die höheren Ränge der Sprache, Stil, Syntax, Poesie, Beredsamkeit und Rhetorik sind wiederum, in welcher Weise auch immer, die Vorreiter und Vertreter der Wahrheit.«

Wenn es wahr ist, daß jeder Autor sein ganzes Leben lang eine einzige keimhafte Idee entwickelt, dann scheint das für Joyce besonders zu gelten: Noch nicht bachelor, wußte er bereits genau, was er tun mußte, und hat es hier in diesen Mauern ausgesprochen, wenn auch nur beiläufig und eher naiv. Oder, wenn Sie so lieber wollen: Er hatte beschlossen, aus seinem reifen Alter das zu machen, was vorauszusehen ihm während des Studiums in diesen Aulen gelungen war.

In seinem ersten Studienjahr hatte er über die Repräsentation der Wissenschaften in Santa Maria Novella nachgedacht und war zu dem Schluß gekommen, die Grammatik müsse »die primäre Wissenschaft« sein. Also widmete er einen großen Teil seines Lebens der Erfindung einer neuen Grammatik, und die Suche nach Wahrheit wurde für ihn zur Suche nach einer vollkommenen Sprache.

In diesem Jahr, in dem Dublin als Kulturhauptstadt Europas gefeiert wird, ist es angebracht, über die Tatsache nachzudenken, daß die Suche nach einer vollkommenen Sprache ein typisch europäisches Phänomen war und weiterhin bleiben wird. Europa hat sich aus einem einzigen Kern von Sprachen und Kulturen entwickelt (aus der griechisch-römischen Welt) und ist dann in verschiedene Nationen mit verschiedenen Sprachen auseinandergefallen. Die alte Welt hatte sich weder um das Problem einer vollkommenen Sprache noch um das der Sprachenvielfalt gekümmert. Die hellenistische koine und später das Latein der Kaiserzeit gewährleisteten ein zufriedenstellendes universelles Kommunikationssystem vom Mittelmeerraum bis zu den Britischen Inseln. Die beiden Völker, welche die Sprache der Philosophie und die Sprache der Gesetze erfunden hatten, setzten die Strukturen ihrer Sprache mit den Strukturen der menschlichen Vernunft gleich. Für die Griechen war das Griechische die Sprache schlechthin. Alle anderen Menschen waren Barbaren, das heißt Leute, die unverständliches Zeug stammelten.

Der Fall des Römischen Reiches markierte den Anfang einer Periode sprachlicher und politischer Teilung. Das Latein verwilderte. Die Barbaren mit ihren Sprachen und Gebräuchen strömten herein. Die Hälfte der römischen Besitzungen ging an die Griechen des Ostreichs. In Teilen Europas und im ganzen Mittelmeerraum begann man Arabisch zu sprechen. An der Schwelle des neuen Jahrtausends bildeten sich jene Nationalsprachen, die wir noch heute auf diesem Kontinent sprechen.

Genau in diesem historischen Augenblick begann nun die christliche Kultur, die biblische Geschichte von der Sprachverwirrung nach dem Fall des Turms zu Babel neu zu lesen. Erst in diesen Jahrhunderten fing man an, von der Wiederentdeckung oder Neuerfindung einer vor-babelschen Sprache zu träumen, einer gemeinsamen Sprache der ganzen Menschheit, die fähig sein müßte, das Wesen der Dinge durch eine Art von angeborener Homologie zwischen Dingen und Worten auszudrücken. Die so bestimmte Suche nach einem universalen Kommunikationssystem ist seither und bis heute in verschiedenen Formen betrieben worden - manche haben versucht, zeitlich zurückzugehen, um die Sprache wiederzufinden, die Adam mit Gott gesprochen hat, andere sind vorwärts gegangen im Versuch, eine Sprache der Vernunft zu konstruieren, ausgestattet mit jener verlorenen Vollkommenheit, die Adams Sprache gehabt haben mußte. Man hat versucht, Vicos Ideal zu folgen und eine allen Völkern gemeinsame Sprache des Geistes zu finden. Internationale sogenannte »Welthilfssprachen« wie das Esperanto wurden erfunden, und man arbeitet noch an der Konstruktion einer language of mind, die Menschen und Computern gemeinsam sein soll ...

Gleichwohl hat es im Laufe dieser Suche auch Fälle gegeben, in denen jemand behauptete, die einzige wahrhaft vollkommene Sprache sei die von ihm und seinen Landsleuten gesprochene. So hat Georg Philipp Hars-dörffer im 17. Jahrhundert behauptet, Adam habe nicht anders als deutsch sprechen können, da nur im Deutschen die Wörter das Wesen der Dinge vollendet zum Ausdruck brächten (später sollte Heidegger sagen, man könne nur auf deutsch philosophieren - und sonst allenfalls noch auf griechisch). Für Antoine de Rivarol (Discours sur l’universalité de la langue française, 1784) war das Französische die einzige Sprache, in der die syntaktische Struktur der Sätze die authentische Struktur der menschlichen Vernunft widerspiegele, und darum sei es die einzige logische Sprache der Welt (das Deutsche sei zu kehlig, das Italienische zu süß, das Spanische zu redundant, das Englische zu dunkel).

Bekanntlich ist Joyce in diesem College zu einem Verehrer Dantes geworden und dann sein Leben lang auch geblieben. Zwar bezieht er sich, wenn er von Dante spricht, immer nur auf die Divina Commedia, aber es gibt gute Gründe zu glauben, daß er auch eine gewisse Vertrautheit mit Dantes Ideen über die Ursprünge der Sprache hatte sowie mit seinem Projekt, eine neue, in sich vollkommene poetische Sprache zu erschaffen, wie Dante selbst es in seiner Abhandlung De vulgari eloquentia ausgedrückt hat. Auf jeden Fall muß Joyce in der Commedia deutliche Hinweise auf dieses Thema und im 26. Gesang des Paradiso auch eine neue Version der alten Debatte über das Thema der adamitischen Sprache gefunden haben.

Die Schrift De vulgari eloquentia ist zwischen 1303 und 1305 verfaßt worden, also vor der Commedia. Obwohl sie wie eine gelehrte Abhandlung daherkommt, ist sie in Wirklichkeit ein Selbstkommentar, in dem der Autor tendenziell seine Methoden der künstlerischen Produktion analysiert, die er unausgesprochen mit dem Modell jedes poetischen Diskurses gleichsetzt.

Nach Dante hatte es vor der Pluralität der Volkssprachen, also vor der Sünde von Babel, eine vollkommene Sprache gegeben, in welcher Adam mit Gott gesprochen hatte und in der auch Adams Nachkommen miteinander sprachen. Nach der babylonischen Verwirrung hatten sich die Sprachen vervielfacht, zuerst in den verschiedenen Teilen der Welt, dann innerhalb jener Zone, die wir heute die Romania nennen, durch Aufteilung in eine Sprache des st, eine Sprache des oc und eine Sprache des oil. Die Sprache des st, das Italienische, ist dann ihrerseits in eine Vielzahl von Dialekten zerfallen, die mitunter sogar von einem Stadtteil zum anderen variieren. Dieses Zerbrechen habe seinen Grund darin, so Dante, daß der Mensch ein instabiles Wesen sei, veränderlich in seinen Gebräuchen, Gewohnheiten und Sprechweisen, in der Zeit wie im Raum. Gerade um diese langsamen, aber unaufhaltsamen Veränderungen in der natürlichen Sprache zu kompensieren, hätten die Erfinder der Grammatik nach einer unveränderlichen Sprache gesucht, die sich in Raum und Zeit gleichbleibt, und diese Sprache sei das Latein gewesen, wie es in den Universitäten des Mittelalters gesprochen wurde. Aber Dante war auf der Suche nach einer italienischen Volkssprache, und dank seiner dichterischen Bildung und seiner Kontakte als umherreisender Exilant lernte er sowohl die verschiedenen italienischen Dialekte als auch die verschiedenen europäischen Volkssprachen kennen. In seiner Schrift De vulgari eloquentia geht es darum, eine würdigere und edlere Sprache zu finden, und daher macht er zunächst eine strenge kritische Analyse der italienischen Dialekte. Da die besten Dichter sich, jeder auf seine Weise, von ihren regionalen Dialekten entfernt hätten, böte sich die Möglichkeit, einen »edlen Dialekt« zu finden, ein volgare illustre, das würdig genug wäre, im Königspalast eines nationalen Reiches gesprochen zu werden, wenn denn die Italiener je eines hätten. Es müßte sich um einen Dialekt handeln, der allen italienischen Städten gemeinsam wäre und keiner im besonderen gehörte, eine Art ideales Modell, dem sich die besten Dichter annäherten und an dem alle bestehenden Dialekte zu messen sein würden.

Im Gegensatz zur Verwirrung der verschiedenen Sprachen scheint Dante also eine poetische Sprache ähnlich der Sprache Adams vorzuschlagen, eine, die jener poetischen Sprache entspricht, als deren Begründer er sich nicht ohne Stolz betrachtet. Diese vollkommene Sprache, der Dante nachjagt wie einer »duftenden Pantherkatze«, taucht da und dort in den Werken jener Dichter auf, die Dante als die größten betrachtet, wenn auch noch eher ungeformt, noch nicht mit festen Regeln versehen und noch nicht mit klaren grammatischen Grundsätzen ausgestattet.

In dieser Lage, angesichts der Existenz von Dialekten, die natürlich, aber nicht universal sind, sowie der lateinischen Grammatik, die universal, aber künstlich ist, jagt Dante seinem Traum einer Wiederherstellung jener paradiesischen Sprache nach, die gleichzeitig natürlich und universal war. Doch anders als jene, die später versuchen werden, das Hebräisch der paradiesischen Ursprünge wiederzufinden, will Dante die ursprüngliche Lage mit einem Akt moderner Erfindung neu schaffen. Das volgare illustre, für das seine eigene poetische Sprache ein Beispiel sein sollte, ist die Art und Weise, wie der »moderne« Dichter die Wunde nach Babel heilen wird.

Aus dieser kühnen Konzeption seiner eigenen Rolle als Restaurator einer vollkommenen Sprache erklärt sich, warum Dante in De vulgari eloquentia, anstatt die Vielfalt der Sprachen zu beklagen, ihre gleichsam biologische Kraft hervorhebt, ihre Fähigkeit, sich im Laufe der Zeit zu erneuern. Gerade aufgrund dieser sprachlichen Kreativität kann er sich vornehmen, eine perfekte moderne und natürliche Sprache zu konzipieren und zu erfinden, ohne sich auf verlorene Vorbilder zu beziehen. Wenn Dante geglaubt hätte, daß die ursprüngliche Sprache mit dem Hebräischen identisch sei, hätte er ohne Zweifel beschlossen, Hebräisch zu lernen und seine Dichtung in der Sprache der Bibel zu schreiben. Doch eine solche Möglichkeit hat er nie in Erwägung gezogen, da er sicher war, durch eine Perfektionierung der verschiedenen italienischen Dialekte jene universale Sprache finden zu können, für welche die hebräische Sprache nur die ehrwürdigste Inkarnation gewesen war.

Viele der arroganten Behauptungen des jungen Joyce scheinen auf dieselbe Aufgabe anzuspielen: auf eine Wiederherstellung der Bedingungen einer vollkommenen Sprache durch die eigene dichterische Erfindung, auf das Ziel, »das ungeschaffne Gewissen meines Volkes zu schmieden«, das heißt eine Sprache zu formen, die nicht willkürlich wie die gewöhnliche Sprache, sondern notwendig und motiviert ist. In diesem Sinne hatte der junge bachelor Dantes Idee vollständig und auf mysteriöse Weise verstanden und ist ihr sein Leben lang auf den Fersen geblieben.

Allerdings bestand Dantes Projekt, wie jedes andere Projekt einer vollkommenen Sprache, darin, eine Sprache zu finden oder zu schaffen, die der Menschheit erlauben sollte, dem nachbabylonischen Labyrinth zu entkommen. Man kann, wie es Dante getan hat, die Pluralität der Sprachen positiv sehen, aber eine vollkommene Sprache müßte klar und evident sein, nicht labyrinthisch. Im Gegensatz dazu scheint Joyces Projekt, je weiter er sich von seiner ersten thomistischen Ästhetik entfernt und der in Finnegans Wake ausgedrückten Sicht der Welt annähert, darin zu bestehen, das Chaos nach Babel nicht durch dessen Ablehnung zu überwinden, sondern indem er es als die einzige Möglichkeit anerkennt. Joyce hat niemals versucht, sich vor oder hinter dem Turm von Babel anzusiedeln, er hat in ihm leben wollen - und man kann sich fragen, ob die Entscheidung, den Ulysses auf der Spitze eines Turms beginnen zu lassen, nicht eine unbewußte Vorwegnahme seines Endziels ist, nämlich einen polyglutturalen und multilingualen Schmelztiegel zu erzeugen, der nicht das Ende, sondern den Triumph der babylonischen Sprachverwirrung darstellt.

Was könnte der ferne Ursprung einer solchen Entscheidung gewesen sein?

In der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts war in Irland eine Abhandlung über Grammatik erschienen, die den Titel Auraicept na n-Eces (»Fibel der Gelehrten«) trug. Ihr Grundgedanke war, daß man, um das Modell der lateinischen Grammatik ans Irische anzupassen, die Struktur des Turms zu Babel nachahmen müsse: So wie es acht oder neun (je nach den Versionen des Textes) Wortarten gebe, nämlich Nomen, Pronomen, Verb, Adverb und so weiter, so seien beim Bau des Turms acht oder neun Grundmaterialien verwendet worden: Wasser, Blut, Ton, Holz und so weiter. Warum diese Parallele? Weil die zweiundsiebzig Gelehrten der Schule von Fenius Farrsaid, die zehn Jahre nach dem Chaos von Babel die erste Sprache entworfen hatten (und es versteht sich von selbst, daß diese Sprache das Gälische war), ein Idiom zu konstruieren versuchten, das wie die ursprüngliche Sprache nicht nur dem Wesen der Dinge homolog sein, sondern auch imstande sein sollte, das Wesen aller anderen nach Babel entstandenen Sprachen zu berücksichtigen. Inspiriert war dieses Vorhaben von Jesaja 66,18: »Ich werde kommen, um alle Völker und alle Zungen zu versammeln.« Die benutzte Methode bestand darin, aus jeder Sprache das Beste auszuwählen, indem man die anderen Sprachen sozusagen zerlegte und die Bruchstücke zu einer neuen, nun vollkommenen Struktur zusammenfügte. Man ist versucht zu sagen, mit diesem Vorgehen seien die zweiundsiebzig Gelehrten wahre Künstler gewesen, denn wie Joyce erklärt: »der Künstler, der die feingesponnene Seele des Bildes aus dem Netzwerk der sie bestimmenden Zusammenhänge am exaktesten herauslösen und sie in künstlerischen Zusammenhängen wiederverkörpern konnte, die als die für sie in ihrem neuen Amt exaktesten gewählt waren, der war der höchste Künstler« [Stephen der Held, dt. v. Klaus Reichert, S. 82]. Zerlegen, segmentieren - heute ein Grundbegriff in der Analyse von Sprachsystemen - war für jene Gelehrten so wichtig, daß (wie ich meiner Quelle entnehme2) das Wort teipe, »segmentieren«, also auswählen, modellieren, automatisch die irische Sprache als berla teipide bezeichnete. Infolgedessen wurde das Auraicept in seiner Eigenschaft als der

Text, der dieses Ereignis definierte, als eine Allegorie der Welt betrachtet.

Interessanterweise ist nun eine ganz ähnliche Theorie von einem Quasi-Zeitgenossen Dantes vertreten worden, nämlich dem großen Kabbalisten Abraham Abulafia im 12. Jahrhundert. Ihm zufolge hatte Gott dem ersten Menschen nicht eine spezifische Sprache gegeben, sondern eine Art Methode, eine universale Grammatik, die zwar in der Katastrophe von Babel verlorengegangen ist, aber im Volk der Hebräer überlebt hat, welches sie so gut zu nutzen verstand, daß es mit ihr die hebräische Sprache erschuf, die vollkommenste der siebzig nachbabelschen Sprachen.

Doch das Hebräische, von dem Abulafia spricht, war kein Flickenteppich aus anderen Sprachen, sondern ein ganz neues Gebilde, erzeugt durch Kombination der zweiundzwanzig ursprünglichen Buchstaben (der elementaren Segmente) des göttlichen Alphabets.

Im Gegensatz dazu hatten die irischen Grammatiker nicht beschlossen zurückzugehen, um nach der Sprache Adams zu suchen, sondern sich lieber eine neue vollkommene Sprache zu konstruieren, eben ihr Gälisch.

Kannte Joyce diese frühmittelalterlichen Grammatiker? In seinem Werk habe ich keine Bezugnahme auf das Auraicept gefunden, aber stutzig gemacht hat mich ein Umstand, den Ellmann mitteilt, nämlich daß der junge Joyce am 11. Oktober 1901, auf einem Treffen der Student Debating Society, zu dem Vortrag von John F. Taylor gegangen war, bei dem nicht nur die Schönheit und Perfektion des Irischen gefeiert, sondern auch eine Parallele gezogen wurde zwischen dem Recht des irischen Volkes auf den Gebrauch seiner eigenen Sprache und dem Recht des Moses und der Hebräer auf den Gebrauch des Hebräischen als der Sprache der Offenbarung, entgegen dem Ägyptischen als einer aufgezwungenen Sprache. Bekanntlich ist Taylors Idee ausgiebig im Aeolus-Kapitel des Ulysses benutzt worden, das von der Parallele zwischen Hebräisch und Irisch beherrscht wird, und diese stellt eine Art sprachliches Komplement zur Parallele zwischen Bloom und Stephen dar.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Zweifel zu äußern. In Finnegans Wake gibt es (S. 356) das Wort taylorised, das Atherton als Bezugnahme auf den Neuplatoniker Thomas Taylor interpretiert.3 Mir würde es jedoch gefallen, darin eine Anspielung auf John F. Taylor sehen zu können. Ich habe keinen Beweis dafür, aber es scheint mir interessant, daß es in einem Kontext steht (F. W., S. 353 ff.), in dem Joyce zunächst von der abnihilisation of the etym spricht, dann Ausdrücke wie vociferagitant, viceversounding und alldconfusalem benutzt und schließlich mit den Worten endet how comes every a body in our taylorised world to selve out thishis, mit einer Bezugnahme auf das primeum nobilees und das Wort notomise. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Idee, Sprachen zu erfinden, indem man die Wurzeln der Wörter anatomisiert und zerschneidet, von jenem alten Vortrag Taylors inspiriert worden ist, womöglich auch von einer indirekten Kenntnis des Auraicept. Aber da es dafür keinerlei Textbeleg gibt, kann ich meine Idee hier nur als interessante Hypothese oder einfach als ein persönliches Divertimento vortragen.

Es gibt keine Beweise für eine eventuelle Vertrautheit des jungen Joyce mit den mittelalterlich-irischen Traditionen. In seinem Vortrag Irland, Insel der Heiligen und

der Weisen, den er 1907 in Triest hielt, hat er auf dem Alter der irischen Sprache insistiert und es mit dem der phönizischen gleichgesetzt. Joyce war kein unfehlbarer Historiker, und in diesem Vortrag verwechselt er, als handle es sich um ein und dieselbe Person, Johannes Scotus Eriugena (der mit Sicherheit ein Ire des

11. Jahrhunderts war) mit Johannes Duns Scotus (der zwei Jahrhunderte später in Edinburg geboren wurde, auch wenn damals viele überzeugt waren, daß er ein Ire sei); zudem glaubte er, daß der Autor des Corpus Dionysianum, den er den Pseudo-Areopagita Dionysius nannte, der heilige Dionysius sei, also der Schutzpatron Frankreichs, Saint-Denis - während der Dionysius des Corpus in der mittelalterlichen Tradition mit jenem Dionysius Areopagita gleichgesetzt wurde, der zur Zeit des Apostels Paulus gelebt hatte -, und da auch diese Zuschreibung falsch war und man nicht einmal weiß, ob Dionysius wirklich ein Dionysius war, ist der wahre Autor des Corpus in jedem Fall ein Pseudo-Dionysius Areopagita und nicht ein Pseudo-Areopagita Dionysius. Doch am University College hatte Joyce nur Latein, Französisch, Englisch, Mathematik, Naturphilosophie und Logik studiert, nicht Philosophie des Mittelalters. Auf jeden Fall aber sind die Analogien zwischen den Behauptungen der irischen Grammatiker und der Suche nach einer vollkommenen poetischen Sprache bei Joyce so überraschend, daß es sich lohnt, nach weiteren Assoziationen zu suchen.

Immer im Blick auf sein Ziel, sich eine poetische Sprache zu erfinden, kannte Joyce, auch wenn er nur ungenaue Vorstellungen von den altirischen Traditionen besaß, relativ gut einen Text, den er zum ersten Mal explizit in seinem Triestiner Vortrag erwähnt: das Book of Kells.

Als Student hatte er das Original sicher im Trinity College gesehen, und später erwähnte er eine Reproduktion, The Book of Kells, described by Sir Edward Sullivan, and illustrated with twenty-four plates in colour (London/Paris/New York, Studio Press, 2. Auflage, 1920). Ein Exemplar davon schenkte er übrigens Miss Weaver zu Weihnachten 1922.

Kürzlich habe ich in einem Vorwort zu der prächtigen Faksimile-Ausgabe des Manuskripts4 darauf hingewiesen, daß diesem Meisterwerk der irischen Buchkunst ein allgemeines »Gemurmel« vorausgegangen und gefolgt ist, und ich bin sicher, daß Joyce von diesem Gemurmel irgendwie beeinflußt war. Vorgestern habe ich einen Nachmittag (den zweiten in meinem Leben) am magischsten Ort von Irland verbracht, bei den Sieben Kirchen von Clonmacnoise, und dabei ist mir erneut klargeworden, daß niemand, auch wer noch nie etwas von den irischen Grammatikern oder dem Book of Kells, von Durrow, von Lindisfarne oder von Dun Cow gehört hat, dieses Panorama und diese alten Steine betrachten kann, ohne das Gemurmel zu hören, das die Geburt und das tausendjährige Leben des Book of Kells begleitet hat.

Die Geschichten der lateinischen Kultur vor dem Jahr 1000 verzeichnen, insbesondere zwischen dem siebten und zehnten Jahrhundert, die Entwicklung der sogenannten »hisperischen Ästhetik«, das heißt eines neuen Stils, der sich von Spanien über Gallien und Britannien bis nach Irland ausbreitet.5 Die klassisch-lateinische Tradition bezeichnete (und verurteilte) diesen Stil als »asiatisch« und später »afrikanisch«, im Gegensatz zum wohlausgewogenen »attischen« Stil. Schon Quintilian hatte in seiner Institutio Oratoria (XII, 79) hervorgehoben, was der vollendete Stil zu bieten habe, nämlich magna non nimia, sublimia, non abrupta, fortia non temeraria, severa non tristia, gravia non tarda, laeta non luxuriosa, iucunda non dissoluta, grandia non tumida (»das Große, nicht das Überbordende, das Erhabene, nicht das Abrupte, das Starke, nicht das Unbesonnene, das Ernste, nicht das Trübsinnige, das Schwere, nicht das Träge, das Fröhliche, nicht das Schwelgerische, das Freudige, nicht das Lockere, das Grandiose, nicht das Aufgeblasene«). Nicht nur die römisch-griechische, auch die frühchristliche Rhetorik verurteilte das, was sie kakozelön oder mala affectatio nannte, Affektiertheit und Vorliebe für das Ausgefallene. Als Beispiel dafür, wie sich die Kirchenväter zu Anfang des fünften Jahrhunderts über Fälle dieser mala affectatio erregten, lese man folgende Schmährede des Hieronymus (Adversus Jovinianum, I): »Es gibt heutzutage so viele barbarische Schreiber, und die Rede wird durch so viele schlimmste stilistische Laster entstellt, daß man weder zu erkennen vermag, wer da spricht, noch mit welchen Argumenten er das Gesagte beweisen will. Alles bläht sich auf, alles liegt darnieder: es erhebt sich für einen Augenblick und bricht wie eine geschwächte Schlange bereits im Aufschwung zusammen ... Alles verknäuelt sich zu so unentwirrbaren Wörterknoten, daß man mit Plautus ausrufen möchte: >Das versteht ja niemand außer der Sibylle!< Was sollen all diese Wortungetüme?«

Man könnte meinen, dies sei die gehässige Beschreibung einer Seite des Book of Kells oder des Finnegans Wake, verfaßt von einem Traditionalisten - und vielleicht hätte Hieronymus tatsächlich angesichts unseres Buches so reagiert. Doch in der Zwischenzeit hat sich etwas Entscheidendes ereignet: Was die klassische Tradition als ein »Laster« ansah, ist für die hisperische Ästhetik zu einer Tugend geworden. Der hisperische Stil gehorcht nicht mehr den Gesetzen der Syntax und der traditionellen Rhetorik, die Regeln des Rhythmus und Metrums werden verletzt, um Aufzählungen in barocker Manier zu erzielen. Lange Alliterationsketten, die der klassische Geschmack als kakophonisch verurteilt hätte, erzeugen nun eine neue Musik, und der angelsächsische Bischof Aldhelm von Malmesbury ergötzt sich an der Konstruktion von Sätzen, in denen möglichst jedes Wort mit demselben Buchstaben anfängt (Brief an König Aldfrid von Northumbrien, PL 89, 91): Primitus pantorum procerum praetorumque pio potissimum paternoque praesertim privilegio panegyricum poemataque passim prosaton sub polo promulgantes ... Der hisperische Wortschatz bereichert sich mit unglaublichen Kreuzungen aus hebräischen und hellenistischen Ausdrücken, der Text verdickt sich mit Kryptogrammen und Rätseln, die jedem Bemühen um Übersetzung hohnsprechen. Hatte die klassische Ästhetik als ihr Ideal die Klarheit, so wird das Ideal der hisperischen Ästhetik nun die Dunkelheit. Strebte der klassische Stil nach ausgewogenen Proportionen, so bevorzugt der hisperische Stil nun die Komplexität, den Überfluß an Epitheta und Paraphrasen, das Gigantische, Monströse, Unbändige, Maßlose und Wunderbare. Die Suche nach ausgefallenen Etymologien führt zu einer Zerlegung der Wörter in Atome, die ihrerseits rätselhafte Bedeutungen annehmen.

Die hisperische Ästhetik ist der Stil eines Europa, das seine »dunklen Jahrhunderte« durchmacht - jene Dark ages, in denen der alte Kontinent eine Abnahme der Bevölkerung, eine schwere Krise der Landwirtschaft, die Zerstörung der großen Städte und den Verfall der römischen Straßen und Aquädukte erleidet. Auf einem von Wäldern bedeckten Kontinent sehen auch die Mönche, die Dichter und Miniaturenmaler die Welt als einen dunklen Wald, der von Monstern bewohnt und von labyrinthischen Pfaden durchzogen wird. In diesen wirren und schwierigen Zeiten sind es die Britischen Inseln und zumal Irland, von wo aus die lateinische Kultur auf den Kontinent zurückkehrt. Doch jene irischen Mönche, die das wenige an klassischer Tradition, was sie retten konnten, für uns aufbewahren und entwickeln, bewegen sich in der Welt der Sprache und der bildlichen Phantasie wie eben durch einen dichten Wald - oder wie Sankt Brendan, als er die Meere befuhr und auf Ungeheuer und fremde Länder stieß, auf den gigantischen Fisch Ieson, an dem er anlegen ließ im Glauben, es sei eine Insel, auf die Insel der weißen Vögel (die sich als Verkörperungen der mit Lucifer gefallenen Seelen erwiesen), auf wundersame Fontänen und Bäume des Paradieses, auf eine kristallene Säule mitten im Meer und auf Judas, der an eine Klippe gefesselt von den Brandungswellen gemartert wird.

Zwischen dem siebten und neunten Jahrhundert, vielleicht in Irland, sicher jedoch auf den Britischen Inseln, entsteht jenes Buch der verschiedenartigen Monster, das viele der Bilder zu beschreiben scheint, die wir im Book of Kells wiederfinden. Der anonyme Autor gesteht dem Auftraggeber auf den ersten Seiten, er hätte, obwohl diese Lügenmärchen schon in so vielen angesehenen Büchern erzählt worden seien, nie daran gedacht, sie abermals aufzutischen, »wäre nicht der stürmische Wind deiner Nachfrage aufgekommen, um mich kopfüber, als einen verängstigten Seemann, in ein Meer von Monstern zu stürzen ... Denn zahllos sind gewiß die Arten von Seeungeheuern mit Riesenleibern gleich hohen Bergen, die mit ihren Brüsten die größten Wellen zerteilen und die Weiten der Meere fast bis zum Grunde aufwühlen, während sie zu den sanften Flußmündungen streben, und beim Schwimmen sprühen sie Gischt und Schaum mit großem Getöse ... Und während sie mit wilden Strudeln die von der großen Masse ihrer Leiber schon aufgewühlten Wasser umwälzen, nähern sie sich dem Ufer und bieten den Zuschauern ein furchterregendes Schauspiel.«6

Der Autor fürchtet zwar, Lügenmärchen zu erzählen, aber er kann der abgründigen Schönheit dieser faszinierenden Lügen nicht widerstehen, da sie ihm erlauben, eine unendliche Geschichte auszuspinnen, so endlos und vielfältig wie ein Labyrinth. Er erzählt seine Geschichte mit der gleichen Fabulierlust, mit der die Vita S. Colum-bani das Meer rings um die Insel Hibernia beschreibt, oder mit der die Hisperica Famina (ein Werk, das er sicher kannte) zur Charakterisierung der Brandungswellen Adjektive wie astriferus oder glaucicomus erfindet - und die hisperische Ästhetik liebte auch Neologismen wie pectoreus, placoreus, sonoreus, alboreus, propriferus, flammiger, gaudifluus .

Es sind die gleichen lexikalischen Erfindungen, die von Virgilius Grammaticus in seinen Epitomae und Epistolae gepriesen werden.7 Viele Gelehrte vermuten heute, daß dieser verrückte Philologe aus Bigorre bei Toulouse in Wahrheit ein Ire war, und tatsächlich scheint alles, von seinem Stil bis zu seiner Sicht der Welt, diese Vermutung zu stützen. Virgilius lebte im siebten Jahrhundert, also wahrscheinlich rund hundert Jahre vor der Entstehung des Book of Kells. Er zitiert angebliche Passagen von Cicero und seinem Namensvetter Vergil (dem richtigen, dem Dichter), die unmöglich von diesen Autoren stammen können, aber dann entdecken oder erraten wir, daß er einem Rhetorenzirkel angehörte, dessen Mitglieder sich die Namen klassischer Autoren beigelegt hatten. Virgilius zitiert also die Erfindungen seiner Freunde. Vielleicht hat er sie erfunden, vielleicht will er sich über die anderen Rhetoren lustig machen. Beeinflußt von der keltischen, der westgotischen, der irischen und der hebräischen Kultur beschreibt er ein sprachliches Universum, das aussieht, als wäre es der Phantasie eines modernen surrealistischen Dichters entsprungen.

Es gebe zwölf verschiedene Arten von Latein, behauptet er, und in jeder von ihnen könne das Feuer anders heißen, nämlich ignis, quoquihabin, ardon, calax, spiridon, rusin, fragon, fumaton, ustrax, vitius, siluleus und aeneon (Epitomae I, 4). Eine Schlacht werde praelium genannt, weil sie auf dem Meer stattfinde (das praelum heiße, weil es dank seiner Weite die Suprematie oder das praelatum des Wunderbaren habe, Epitomae IV, 10). Die Geometrie sei eine Kunst, die alle Experimente mit Kräutern und Pflanzen erkläre, weshalb man die Ärzte auch Geometer nenne (Epitomae IV, 11). Der Redner Aemilius habe elegant verkündet: SSSSSSSSSSS PP NNNNNNNN GGGG R MM TTT D CC AAAAAAA IIII VVVVVVVV O AE EEEEEEE - was soviel bedeute wie (wenn man die Buchstaben wieder richtig zusammensetzt): »Der Weise saugt das Blut der Weisheit und muß daher richtig

Blutsauger genannt werden« (Epitomae X, 1). Die Grammatiker Galbungus und Terrentius disputierten vierzehn Tage lang pausenlos über den Vokativ von ego, und das Problem war von größter Wichtigkeit, galt es doch zu bestimmen, wie man sich selbst emphatisch anreden kann (»O ich, habe ich recht getan?« - »O egone, recte feci?«). Dies und anderes erzählt uns Virgilius - womit er uns an den jungen Joyce erinnert, der sich fragte, ob die Taufe mit Mineralwasser gültig sei.

Jeder der angeführten Texte könnte dazu benutzt werden, eine Seite des Book of Kells zu beschreiben, ebenso wie eine Seite von Finnegans Wake, denn in jedem von ihnen macht die Sprache das, was im Book of Kells die Bilder machen. Das Book of Kells mit Worten beschreiben heißt ein Stück hisperischer Literatur neu erfinden. Das Book of Kells ist ein Blühen von Flechten und Schnörkeln, von entrelacs in Form stilisierter Tiergestalten, kleiner affenartiger Figuren in einem unentwirrbaren geometrischen Laubwerk, das Seiten um Seiten bedeckt, als ginge es um die immergleichen ornamentalen Motive eines Wandteppichs, während in Wirklichkeit jede Linie und jede Dolde eine neue Erfindung darstellen. Es ist ein Wuchern wildverschlungener Geschichten, die bewußt auf jede Regel der Symmetrie verzichten, eine Symphonie zarter Farben von Rosa bis Orangegelb, von Zitronengelb bis Rotviolett. Vierfüßler, Vögel, Windhunde mit Schwanenschnäbeln, unglaubliche humanoide Gestalten, verrenkt wie Zirkusathleten, die den Kopf hinterrücks zwischen die Knie stecken und ihn so verdrehen, daß er den Anfang einer Initiale bildet, geschmeidige Wesen, biegsam wie farbige Gummibänder, fügen sich in das Flechtwerk ein, lugen hinter abstrakten Ornamenten hervor, ranken sich um die Initialen und drängen sich zwischen die Zeilen. Die Buchseite bleibt unter dem betrachtenden Blick nicht starr, es scheint, als ob sie ein eigenes Leben gewinnt, es gibt keine festen Bezugspunkte mehr, und alles vermengt sich mit allem. Das Book of Kells ist das Reich des Proteus. Es ist das Resultat einer kühlen Halluzination, die weder Mescalin noch LSD benötigt, um ihre Abgründe aufzureißen, auch weil es nicht das Delirium eines einzelnen Geistes darstellt, sondern das einer ganzen Kultur, die mit sich selber spricht und dabei andere Evangeliare, andere Bilderhandschriften und andere Geschichten zitiert.

Es ist der nüchtern-luzide Rausch einer Sprache, die das Universum neu zu definieren sucht, während sie sich selber neu definiert, wohl wissend, daß in einer Ungewissen und dunklen Epoche der Schlüssel zur Offenbarung der Welt nicht die gerade Linie ist, sondern das Labyrinth.

Mithin ist es kein Zufall, daß dies alles Finnegans Wake inspirierte, als Joyce sich vornahm, ein Buch zu schreiben, das ein Abbild des Universums sein sollte und zugleich ein Werk für einen »Idealleser, der an einer idealen Schlaflosigkeit leidet«.

Aber auch schon im Zusammenhang mit Ulysses hatte er behauptet, viele Initialen des Book of Kells besäßen die typische Eigenart eines ganzen Kapitels seines Buches, und hatte ausdrücklich verlangt, daß man sein ganzes Werk mit diesen Miniaturen vergleiche.

Das Kapitel von Finnegans Wake, das sich eindeutig auf das Book of Kells bezieht, ist das gewöhnlich »The Manifesto of Alp« genannte. In diesem Kapitel wird die Geschichte eines unleserlichen Briefes erzählt, der auf einem Misthaufen gefunden worden ist (und dieser Brief ist als ein Symbol für alle schriftlichen Kommunikationsversuche gedeutet worden, für alle anderen Briefe und die ganze Weltliteratur einschließlich Finnegans Wake selbst).

Die Seite des Book of Kells, an der sich Joyce am stärksten inspiriert hat, ist die tenebrous Tunc page (folio 124r). Läßt man nun den Blick über diese Tunc page gleiten und liest gleichzeitig oder zwischendurch einige Zeilen von Joyce, so hat man den Eindruck, es handle sich um eine multimediale Erfahrung, bei der die Sprache die Bilder imitiert und die Bilder sprachliche Analogien wecken.

Joyce spricht von einer Seite, auf der every person, place and thing in the chaosmos of Alle anyway connected with the gobblydumped turkey was moving and changing every pari of the time. Er spricht von einem steady monologuy of the interiors, in dem a word as cunningly hidden in its maze of confused drapery as a fieldmouse in a nest of coloured ribbons sich wandelt zu einer Ostrogothic kakography affected for certain phrases of Etruscan stabletalk, bestehend aus utterly unexpected sinistrogyric return to one peculiar sore point in the past ... indicating that the words which follow may be taken in any order desired.

Was also stellt das Book of Kells dar? Die alte Handschrift erzählt uns von einer Welt aus lauter sich verzweigenden Wegen, von Abenteuern des Geistes und der Phantasie, die sich nicht beschreiben lassen. Es handelt sich um ein Gebilde, in dem jeder Punkt mit jedem beliebigen anderen Punkt verbunden werden kann, in dem es genaugenommen gar keine Punkte oder Positionen gibt, sondern nur Verbindungslinien, die jederzeit unterbrochen werden können, da sie sofort wieder anfangen und dieselbe Richtung weiterverfolgen. Dieses Gebilde hat weder Zentrum noch Peripherie. Das Book of Kells ist ein Labyrinth. Aus diesem Grund konnte es in Joyces erregtem Geist zum Modell jenes noch zu schreibenden unendlichen Buches werden, das nur ein Idealleser, der von einer idealen Schlaflosigkeit befallen ist, zu lesen vermag.

Aber zugleich stellt das Book of Kells (zusammen mit seinem Nachfahren Finnegans Wake) das Modell der menschlichen Sprache dar und vielleicht das der Welt, in der wir leben. Vielleicht leben wir in einem Buch von Kells und meinen, wir lebten in der Encyclopédie von Diderot. Das Book of Kells und Finnegans Wake sind das beste Abbild des Universums, wie es uns die modernen Wissenschaften beschreiben. Sie sind das Modell eines expandierenden, vielleicht endlichen, aber grenzenlosen Universums, der Ausgangspunkt für unaufhörliche Fragen. Sie sind Bücher, die uns erlauben, uns als Menschen unserer Zeit zu fühlen, auch wenn wir dasselbe gefährliche Meer befahren, das den heiligen Brendan zur Suche nach jener Verlorenen Insel gelockt hat, die das Book of Kells auf jeder Seite besingt, während es uns auffordert und inspiriert, nicht nachzulassen in unserer Suche nach einem vollkommenen Ausdruck der unvollkommenen Welt, in der wir leben.

Jim the bachelor war keineswegs unfertig, denn er hatte erkannt, wenn auch wie durch einen Nebel, was er deutlich zu machen hatte und was wir Menschen begreifen müssen, nämlich daß die Ambiguität unserer Sprachen, die natürliche Unvollkommenheit unserer Idiome nicht die Krankheit nach Babel darstellt, von der die Menschheit genesen muß, sondern die einzigartige Chance und Gelegenheit, die Gott dem Adam als sprechendem Tier gegeben hatte. Das Wesen der menschlichen Sprachen zu verstehen, die zwar unvollkommen sind, aber zugleich imstande, jene höchste Unvollkommenheit zu verwirklichen, die wir Poesie nennen, stellt die einzige Schlußfolgerung jeder Suche nach Vollkommenheit dar. Babel war kein Unfall gewesen, wir leben seit jeher im Innern des Turms, der erste Dialog zwischen Gott und Adam ist vielleicht auf Finneganesisch geführt worden, und nur indem wir nach Babel zurückkehren und unsere einzige Möglichkeit akzeptieren, können wir unseren Frieden finden und dem Schicksal der menschlichen Gattung ins Auge sehen.

Angefangen hat diese ganze Geschichte in Dublin, als ein kleiner Junge sich von den Bildern im Book of Kells hat fesseln lassen, und vielleicht von denen der Bücher von Durrow, von Lindisfarne, von Dun Cow ...

»Once upon the time there was a Dun Cow coming down along the maze and this Dun Cow that was coming down along the maze met a nicens little boy named baby Jim the bachelor ...«

1

1

Vortrag am 31. Oktober 1991 im Dubliner University College zum Jahrestag der Verleihung des Bachelor of Arts an James Joyce. Die englische Fassung ist erschienen in Umberto Eco und Liberato Santoro Brienza, Talking of Joyce, Dublin, University College Dublin Press, 1998.

2

Diego Poli, »La metafora di Babele e le partitiones nella teoria grammaticale irlandese dell ’Auraicept na n-Eces«, in Diego Poli (ed.), Episteme. Quaderni Linguistid e Filologici, IV, 1986 - 89, Université di Macerata, Istituto di Glottologia e Linguistica Generale.

3

J. S. Atherton, The Books at the Wake, London, Faber, 1959; New York, Viking Press, 1960.

4

   Book of Kells (Ms. 58, Trinity College Library Dublin), Kommentar, hrsg. v. Anton von Euw und Peter Fox, Faksimile Verlag, Luzern, 1990.

Pontifical Institute of Medieval Studies, 1974) und The Hisperica Famina II. Related Poems, hrsg. v. Michael Herren (Toronto, ebenda, 1987).

   Liber monstrorum de diversis generihus, hg. v. Corrado Bologna, Mailand, Bompiani, 1977.