Über Stil1

Der Terminus Stil, wie er sich von den Anfängen in der lateinischen Welt bis zur modernen Stilistik und Ästhetik darstellt, hat eine nicht ganz homogene Geschichte. Obwohl ein ursprünglicher Kern erkennbar ist, nach dem er aus stilus - dem Schreibwerkzeug, von dem er sich per Metonymie herleitet - zu einem Synonym für »Schrift« und »Schreiben« wird und folglich für die Kunst des literarischen Ausdrucks, ist dieser Modus des Schreibens im Lauf der Jahrhunderte unterschiedlich und mit unterschiedlicher Klarheit verstanden worden.

So geht er zum Beispiel sehr bald dazu über, weitgehend kodifizierte literarische Gattungen zu bezeichnen (erhabener, mittlerer, feiner Stil; attischer, asiatischer oder rhodischer Stil; tragischer, elegischer oder komischer Stil). In diesem wie in vielen anderen Fällen ist Stil eine Vorgehensweise nach bestimmten, gewöhnlich sehr präskriptiven Regeln, und so war er denn auch häufig begleitet von den Ideen der Vorschrift, der Nachahmung und der Befolgung von Modellen. Gewöhnlich wird angenommen, im Zeitalter des Manierismus und des Barock habe sich dann mit der Vorstellung von Stil immer mehr die der Originalität und des Ingeniums verbunden -und das nicht nur in den Künsten, sondern auch im Leben, da mit der Renaissance-Vorstellung von »stolzer Ungezwungenheit« der Mann von Stil derjenige wird, der den

Scharfsinn und Mut aufbringt (und die soziale Macht hat), gegen die herrschenden Sitten zu verstoßen - oder zu demonstrieren, daß er das Privileg hat, gegen sie verstoßen zu dürfen.

Dennoch wird sogar Buffons Diktum le style c’est l’homme même noch nicht im individualistischen Sinne verstanden, sondern in dem der Gattung: Stil ist männliche Tugend = menschliche Qualität.

Die Idee eines Stils, der sich gegen die Vorschriften behauptet, erscheint eher in Cesare Beccarias Ricerca intorno alla natura dello stile und dann in den organizistischen Kunsttheorien, nach denen mit Goethe von Stil zu sprechen ist, wenn das Kunstwerk eine ihm eigene originale, abgeschlossene, unwiederholbare Harmonie erreicht. Noch deutlicher tritt sie in den romantischen Auffassungen vom Genie hervor (nach denen selbst Leopardi sagt, Stil sei jene Art von Manier oder Fähigkeit, die man Originalität nennt). Diese Entwicklung geht so weit, daß sich der Begriff gegen Ende des 19. Jahrhunderts gleichsam um dreihundertsechzig Grad gedreht hat, wenn Stil bei den Décadents und im Dandyismus mit bizarr-absonderlicher Originalität und Verachtung für Modelle gleichgesetzt wird; aus dieser Vorstellung entwickeln sich dann sämtliche Ästhetiken der klassischen Avantgarde.

Ich würde zwei Autoren nennen, für welche Stil ein ausgeprägt semiotischer Begriff ist, nämlich Flaubert und Proust. Für Flaubert ist Stil ein Modus, das eigene Werk zu formen, und er ist sicherlich unwiederholbar, aber in ihm zeigt sich auch eine Art zu denken, eine bestimmte Sicht der Welt. Für Proust wird Stil zu einer Art transformierter Intelligenz, die sich in der Materie verkörpert, was so weit geht, daß für ihn Flaubert durch die neue Art, wie er die Tempora der französischen

Sprache gebraucht, das passé simple, das Perfekt, das Imperfekt und das Partizip Präsens, unsere Sicht der Welt fast so gründlich erneuert hat wie Immanuel Kant.

Aus diesen Quellen entspringt die Idee des Stils als Formbildungsweise (modo di formare), die im Zentrum der Ästhetik von Luigi Pareyson steht. Und es ist klar, daß an diesem Punkt der Entwicklung, wenn das Kunstwerk Form ist, die Formbildung nicht mehr allein den Wortschatz oder die Syntax betrifft (wie es bei der sogenannten Stilistik der Fall sein kann), sondern jede Strategie der Semiose, die sich sowohl an der Oberfläche wie auch in der Tiefe längs der Nervaturen eines Textes entfaltet.

Zum Stil (als Formbildungsweise) gehören dann nicht nur der Gebrauch der Sprache (oder der Farben oder der Töne, je nach den semiotischen Systemen oder Uni-versen), sondern auch die Disposition der narrativen Strukturen, die Zeichnung der Personen, die Artikulation von Gesichtspunkten.

Man lese die folgende Stelle von Proust, in seinen Remarques sur le style (1920), wo er behauptet, Stendhal habe sich weniger um einen gepflegten Stil gekümmert als Baudelaire. Proust legt hier nahe, daß Stendhal schlecht geschrieben habe, und das ist nichts Neues, wenn man unter Stil den Wortschatz und die Syntax versteht.

Wenn er von einer Landschaft gesagt hatte: »diese bezaubernde Gegend«, »diese hinreißende Gegend«, oder von einer seiner Heldinnen: »diese anbetungswürdige Frau«, wünschte er keine weitere Präzisierung. Es mangelte ihm so sehr an Stil, daß er schreiben konnte: »Sie schrieb ihm einen unendlichen Brief.« Betrachtet man als Bestandteil des Stils aber auch jenes unbewußte große Gerüst, das von der gewollten Anordnung der Ideen verdeckt wird, bei Stendhal existiert es. Welches Vergnügen würde mir der Nachweis bereiten, daß jedesmal, wenn Julien Sorel oder Fabrice die nichtigen Sorgen verlassen, um ein unbefangenes und wollüstiges Leben zu führen, sie sich stets an einem hochgelegenen Ort befinden (sei es im Gefängnis von Fabrice oder dem von Julien, oder auch im Observatorium des Abbe Blanes).2

Von Stil zu sprechen heißt an diesem Punkt, von der Machart und Beschaffenheit eines Werkes zu sprechen, zu zeigen, wie es Gestalt angenommen hat (sei’s auch manchmal durch rein ideales Fortschreiten eines generativen Prozesses), zu zeigen, warum es sich einem bestimmten Rezeptionstypus anbietet, ja, mehr noch, wie und warum es diesen Typus hervorruft. Und - dies für diejenigen, die noch daran interessiert sind, ästhetische Werturteile abzugeben - nur indem man die höchsten Mittel und Manöver des Stils identifiziert, verfolgt und freilegt, kann man erklären, warum ein Werk schön ist, warum es im Lauf der Jahrhunderte verschiedene Rezeptionen erfahren hat, warum es, obwohl Modellen und manchmal Vorschriften folgend, die im Meer der Intertextualität verstreut sind, deren Erbe in einer Weise hat annehmen und fruchtbar machen können, daß daraus etwas Originelles entstanden ist. Und warum es möglich ist, obwohl jedes einzelne der verschiedenen Werke eines Künstlers nach unwiederholbarer Originalität strebt, den persönlichen Stil dieses Künstlers in jedem seiner Werke wiederzufinden.

Wenn dem so ist, müssen wir, denke ich, zweierlei festhalten: erstens, daß eine Semiotik der Künste nichts anderes ist als eine Erforschung und Freilegung der Manöver des Stils, und zweitens, daß Semiotik die höhere Form der Stilistik darstellt, mithin das Modell jeder Kunstkritik.

Dem wäre eigentlich nichts mehr hinzuzufügen; alle erinnern sich noch, wie erhellend für viele Texte (die wir schon vorher dunkel liebten) manche Ausführungen von russischen Formalisten, von Roman Jakobson, von den Narratologen oder den Analytikern der poetischen Rede waren. Doch wir leben wahrlich in finsteren Zeiten, zumindest in diesem Lande, wo immer öfter polemische Stimmen zu hören sind, die gerade die semiotischen Studien (die gern auch mit negativem Unterton formalistisch oder strukturahstisch genannt werden) als verantwortlich für einen Niedergang der Kritik anklagen, als pseudo-mathematisierende Diskurse, vollgestopft mit unlesbaren Formeln, in deren Dickicht das Aroma der Literatur ersticke und die Ekstase, zu welcher der Leser aufgerufen sei, in einer doppelten Buchführung erstarre -worin das Unsagbare und das Erhabene, die als höchste Ausformung der Kunst galten, in einer Orgie von Theorien verschwänden, die den Text zerpflückten, niedermachten, demütigten, ausquetschten, um ihm alle Frische, allen Zauber, alles Enthusiasmierende zu nehmen.

Wir müssen uns also fragen, was unter Kritik (ob der Kunst oder der Literatur) zu verstehen ist, und der Einfachheit halber werde ich hier nur über Literaturkritik sprechen.

Als erstes muß man, glaube ich, zwischen Reden über literarische Werke und Literaturkritik unterscheiden. Über literarische Werke kann man auf verschiedene Weise sprechen, ein Werk kann als Gegenstand soziologischer Forschung, als Dokument für eine Ideengeschichte, als psychologischer oder psychiatrischer Befund, als Anlaß oder Vorwand für moralische Betrachtungen genommen werden. Es gibt Kulturen, allen voran die angelsächsische, in denen - zumindest bis zum Aufkommen des New Criticism - das Reden über literarische Werke vor allem ein Reden über Moral war. Nun sind alle diese Diskurse an sich legitim, würden sie nicht im selben Moment, in dem sie vorgebracht, vorausgesetzt, impliziert oder suggeriert werden, auf ein kritisch-ästhetisches Urteil verweisen, das jemand anders, oder auch der Autor selbst an anderer Stelle, bereits gesprochen haben müßte.

Dieses urteilende Reden ist das der Kritik im eigentlichen Sinne, und es kann sich auf dreierlei Weise artikulieren - wobei klar sein muß, daß diese drei Weisen idealtypische »Gattungen« oder Modi der Kritik sind und es häufig vorkommt, daß unter dem Zeichen der einen Gattung illustre Beispiele einer anderen Gattung geliefert oder die drei Modi, sei’s im Guten oder im Schlechten, miteinander vermischt werden.

Nennen wir die erste Gattung die Rezension, die Besprechung eines Werkes für Leser, die es noch nicht kennen. Eine gute Rezension kann auch Rekurs auf komplexere Formen der Kritik nehmen, wie es die beiden anderen sind, von denen ich noch sprechen werde, aber sie ist grundsätzlich an die schnelle Reaktion gekettet, an den kurzen Zeitraum zwischen Erscheinen, Lektüre und kritischer Beurteilung eines Werks. In den besten Fällen kann die Rezension sich darauf beschränken, den Lesern eine ungefähre Vorstellung von dem noch nicht gelesenen Werk zu geben und ihnen mitzuteilen, was der Kritiker davon (nach seinem Geschmacksurteil) hält. Ihre Funktion ist vor allem informativ (sie teilt mit, daß ein annähernd soundso beschaffenes Werk erschienen ist) und vertrauenheischend diagnostisch - die Leser glauben dem Rezensenten, so wie sie dem Arzt glauben, der ihnen nach kurzer Untersuchung eine beginnende Bronchitis attestiert und einen Hustensaft verschreibt. Die RezensionsDiagnose hat nichts zu tun mit chemischen Laboranalysen oder mit Erkundungen durch Sonden, die der Patient selber an einem Bildschirm verfolgen kann und in deren Verlauf er sieht und versteht, was er hat und warum sein Körper so und nicht anders reagiert. In der Rezension -wie beim Besuch des Hausarztes - sieht der Leser nicht das Werk, sondern erfährt nur, was ein anderer darüber denkt.

Die zweite Gattung der Kritik - die Literaturgeschichte - handelt von Texten, die der Leser bereits kennt oder zumindest kennen sollte, denn er hat schon von ihnen gehört. Diese Texte werden oft nur genannt, manchmal knapp zusammengefaßt, auch mit Hilfe exemplarischer Zitate, sie werden in Gruppen geordnet, bestimmten Strömungen zugewiesen und in eine chronologische Ordnung gebracht. Eine Literaturgeschichte kann ein bloßes Nachschlagewerk sein, manchmal wird sie zugleich eine Würdigung der Werke und eine Geschichte der Ideen, man denke nur an die Storia della letteratura italiana von De Sanctis. In den besten Fällen führt sie zur vollen und endgültigen Anerkennung eines Werks, lenkt die Erwartungen und den Geschmack des Lesers und eröffnet ihm ungeahnte Horizonte.

Jede dieser beiden Gattungen kann auf zwei Arten praktiziert werden, die sich mit Croce definieren lassen als die des artifex additus artifici und die des philosophus additus artifici (des »Künstlers als Geselle des Künstlers« und des »Philosophen/Theoretikers als Geselle des Künstlers«). Im ersten Fall gibt uns der Kritiker weniger eine Erklärung des Werkes als einen Bericht über seine Gefühle beim Lesen, er versucht unbewußt, das Objekt seiner demütigen Hingabe an Bravour zu übertreffen, und manchmal gelingt ihm das auch - wir alle kennen Ausführungen über Literatur, die literarisch schöner sind als die von ihnen besprochene Literatur, so wie Prousts

Ausführungen über schlechte Musik hochmusikalisch sind.

Im zweiten Fall versucht der Kritiker anhand bestimmter Kategorien und Urteilskriterien zu zeigen, warum das betreffende Werk schön ist. Doch wenn er eine Rezension schreibt, hat er nicht genügend Platz, um darzulegen, wie das Werk gebaut und beschaffen ist (und somit seine Stilmanöver freizulegen), und wenn er eine Literaturgeschichte schreibt, muß er seine Analyse notgedrungen in einem vorgegebenen Rahmen halten, kann sie also nicht über ein gewisses Maß hinaus vertiefen. Um jedoch den Stil einer einzigen Seite wirklich freizulegen, braucht man hundert Seiten, und in einer Literaturgeschichte ist das Verhältnis zwangsläufig umgekehrt.

Kommen wir nun zur dritten Gattung, der Textkritik. In ihr muß der Kritiker annehmen, daß der Leser nichts über das betreffende Werk weiß, auch wenn es sich um die Divina Commedia handelt. Er muß ihm das Werk Stück für Stück vor Augen führen, es ihn gleichsam zum ersten Male entdecken lassen. Wenn der Text nicht so kurz ist, daß man ihn in voller Länge zitieren kann, unterteilt nach Absätzen oder Versen, muß man voraussetzen, daß der Leser ihn auf andere Weise zur Hand hat, denn das Ziel dieser Art von Kritik ist, den Leser Schritt für Schritt entdecken zu lassen, wie der Text gebaut und beschaffen ist und warum er so funktioniert, wie er funktioniert. Dabei kann sich diese Kritik eine Bestätigung vornehmen (»jetzt werde ich zeigen, warum alle diesen Text für großartig halten«), eine Neubewertung oder auch die Zerstörung eines Mythos. Die Arten, in denen man zeigen kann, wie ein Text gebaut und beschaffen ist (und warum es gut ist, daß er so ist, und warum er gar nicht anders sein könnte und warum er gerade, weil er so und nicht anders ist, als hervorragend angesehen werden muß), können zahllos sein. Wie immer sie sich jedoch artikulieren, diese Kritik kann nur eine semiotische Textanalyse sein.

Daher kann man sagen, wenn wahre Kritik betreiben heißt, verstehen und verständlich machen, wie ein Text gebaut und beschaffen ist, und wenn die Rezension und die Literaturgeschichte das nicht im vollen Umfang leisten können, dann ist die einzige wahre Form der Kritik eine semiotische Lektüre des Textes.

Eine semiotische Lektüre des Textes hat von der wahren Kritik (die wie gesagt dazu führen muß, den Text in allen seinen Aspekten und Möglichkeiten zu verstehen), jene Qualität, die der Rezension und der Literaturgeschichte gewöhnlich notgedrungen fehlt: daß sie nicht be- oder verschreibt, in welcher Weise der Text Vergnügen bereitet, sondern darlegt, warum er Vergnügen bereiten kann.

Die rezensierende Kritik kann sich aufgrund ihrer Beratungsfunktion nicht davor drücken - außer in Fällen von exzeptioneller Feigheit -, ein Urteil über das abzugeben, was der Text aussagt. Die literarhistorische Kritik kann bestenfalls darlegen, daß ein Werk unterschiedliche und wechselnde Rezeptionen erfahren und verschiedene Reaktionen hervorgerufen hat. Die Textkritik, die immer semiotisch ist, auch wenn sie es nicht weiß oder es abstreitet, erfüllt dagegen jene Funktion, die Hume in seinem Essay »Of the Standard of Taste« aufs trefflichste beschrieben hat, indem er eine Stelle aus Don Quijote zitiert, wo Sancho Pansa erzählt:

Zwei meiner Verwandten wurden einmal gebeten, ihre Meinung über einen Faßwein zu äußern, der als hervorragend galt, weil er alt war und von einer guten Traube stammte. Einer von ihnen kostete, besann sich und urteilte nach reiflicher Überlegung, daß es guter Wein sei, gäbe es nicht jenen leichten Ledergeschmack, den er darin wahrnehme. Der andere, nachdem er die gleichen Maßnahmen getroffen, äußerte sich ebenfalls positiv über den Wein, aber mit dem Vorbehalt, es gebe da einen Geschmack nach Eisen, der deutlich zu spüren sei. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr die beiden für ihr Urteil verspottet wurden. Aber wer hat zuletzt gelacht? Als man das Faß leerte, fand man auf dem Grund einen alten Schlüssel, an dem ein ledernes Riemchen hing.

Da haben wir es, die wahre Kritik ist die, die zuletzt lacht, denn sie läßt jedem sein Vergnügen, aber sie zeigt bei allen, woher es kommt.

Natürlich kennt auch eine Textkritik, die von einem philosophus additus artifici betrieben wird, ihre Exzesse, die sie an der Erfüllung ihrer Aufgabe hindern. Es wird daher nützlich sein, einige Fehler der Textsermotik ins Auge zu fassen, die häufig dazu geführt haben, daß es zu den oben erwähnten Ablehnungssyndromen kam.

Man verwechselt oft zwischen semiotischer Literaturtheorie und semiotisch orientierter Kritik. Ich verweise hierzu auf eine alte Debatte der sechziger Jahre, die, ausgelöst durch einen Katalog des Verlags Il Saggiatore zum Thema »Strukturalismus und Kritik«, im wesentlichen zwei Optionen gegenüberstellte, eine vertreten von Cesare Segre, die andere von Luigi Rosiello. Um es kurz zu sagen, für die erste Option sollte die linguistische Theorie dazu dienen, das einzelne Werk besser zu verstehen, für die zweite sollte die Analyse des einzelnen Werkes dazu dienen, das Wesen der Sprache besser zu erkennen. Mit anderen Worten, für die erste Option sollte ein Ensemble von theoretischen Annahmen dazu dienen, den persönlichen Stil eines Autors besser zu erkennen, für die zweite war der persönliche Stil eine Abweichung von der Norm, die das Wissen um diese Norm als solche bereicherte.

Nun waren und sind diese beiden Optionen gleichermaßen legitim. Man kann eine Theorie der Literatur aufstellen und die einzelnen Werke als Dokumente benutzen, und man kann die einzelnen Werke im Licht einer Theorie der Literatur lesen oder genauer, indem man versucht, die Prinzipien einer Literaturtheorie aus der Analyse einzelner Werke zu entwickeln.

Nehmen wir das Beispiel einer Abteilung der Texttheorie wie der sogenannten Narratologie, die Texte nicht als Gegenstand der Analyse, sondern als Beispiele für Erzähltechniken benutzt. Wenn die Kritik eines narrativen Textes zu einem besseren Verständnis dieses Textes dient, wozu dient dann die Narratologie? Zunächst einmal dazu, Narratologie zu betreiben, so wie die Philosophie essentiell zum Philosophieren dient. Sie erlaubt zu verstehen, wie narrative Texte im allgemeinen funktionieren, gleich ob sie schön oder häßlich sind. Sodann hilft sie vielen anderen Disziplinen (wie der Künstlichen Intelligenz, der Semantik, der Psychologie) zu verstehen, wie die Gesamtheit unserer Erfahrung sich (vielleicht) immer und überall in Form von »Erzählungen« strukturiert: Eine narratologische Theorie, die bloß erklärte, wie man erzählt, wäre noch wenig, aber wenn sie uns begreifen läßt, wie wir unsere Annäherungsweise an die Welt in narrativen Sequenzen organisieren, dann ist das schon etwas mehr. Schließlich dient sie auch dazu, besser lesen zu lernen, und sogar (siehe Calvino) neue Formen des Schreibens zu erfinden. Vorausgesetzt, man weiß sie mit einer »natürlichen« Art des Lesens interagieren zu lassen, das heißt mit einer kritischen Lektüre, die nicht schon in narratologischen Vorurteilen erstarrt ist.

Nun gibt es zwei Mißverständnisse, eines über die Produktion und eines über die Rezeption. Zu ersterem kommt es, wenn der Semiotiker nicht recht weiß oder nicht deutlich genug klarstellt, ob er den Text zur

Bereicherung seiner Erzähltheorie benutzt, oder ob er einige erzähltheoretische Kategorien benutzt, um den Text besser zu verstehen. Zum zweiten kommt es, wenn der Leser (oft voreingenommen) einen Diskurs als Kritik mißversteht, der jedoch darauf abzielt, aus einem oder mehreren einzelnen Texten die allgemeinen Prinzipien der Narrativität abzuleiten. Das ist dann so, als würde ein Psychologe, der sich für die Gründe interessiert, aus denen jemand tötet, eine statistische Untersuchung über die Morde der letzten zwanzig Jahre lesen und sich dann beklagen, daß die Statistik keine Erklärung der individuellen Motive gibt.

Wir könnten uns damit begnügen, diese voreingenommenen Leser darauf hinzuweisen, daß die narrato-logischen Theorien weder zur besseren Lektüre noch zur genaueren Kritik dienen. Wir könnten sagen, daß sie lediglich Protokolle mehrfacher Lektüren sind und die gleiche Funktion haben wie die physikalische Theorie, die uns erklärt, wie und warum alle Körper nach demselben Gesetz fallen, aber nicht, ob das gut oder schlecht ist, noch welcher Unterschied zwischen dem Fall eines Steins vom Turm zu Pisa und dem Fall eines unglücklich Liebenden von einer sturmumtosten Klippe besteht. Wir könnten sagen, daß narratologische Theorien nicht dazu dienen, die einzelnen Texte besser zu verstehen, sondern die Fabulierfunktion in ihrer Gesamtheit, daß sie also eher wie ein Unterkapitel der Psychologie oder der Ethnologie erscheinen als wie eines der Literaturkritik.

Allerdings müßten wir auch erklären, daß sie darüber hinaus zumindest noch einen pädagogischen Wert haben. Sie stellen das Instrument dar, mit dem derjenige, der Lesen lehrt, sofort die Knotenpunkte erkennt, auf die er die Aufmerksamkeit des Zöglings lenken muß. Mithin würden sie auch dazu dienen, Lesen zu lehren. Aber da man auch diejenigen lehren muß, richtig zu lesen, die nicht mehr Analphabeten sind, dienen sie auch dem reifen Leser, dem Kritiker, dem Schriftsteller dazu, einen sicheren Blick auszubilden.

Man müßte also begreiflich machen, daß, wenn das Wörterbuch nicht genügt, um einen guten Schriftsteller zu machen, gute Schriftsteller trotzdem Wörterbücher benutzen. Ohne daß deshalb der Zingarelli und die Canti von Leopardi zur selben diskursiven Gattung gehörten.

Dennoch sind die Gegner der Textsemiotik nicht imstande, vielleicht auch wegen eines Fehlverhaltens der Semiotiker, die beiden Kritikformen (die der Textsemiotik und die der semiotisch orientierten Textkritik) zu unterscheiden. Und daher entgeht ihnen der Sinn jenes dritten Typs von Kritik, den ich angesprochen habe, des einzigen, der uns helfen kann, die Art der Formbildung eines Textes zu verstehen.

Wenn die Theorie voreingenommen der Lektüre vorausgeht, besteht oft die Neigung, ständig die schon bekannten Instrumente der Untersuchung offenzulegen, um zu zeigen, daß man sie kennt oder daß man so einfallsreich war, sie zu konstruieren - statt kunstvoll die Kunst zu verbergen und das, was der Text am Ende enthüllt, direkt aus dem Text hervorgehen zu lassen, nicht aus den bemühten Essays der theoretischen Metasprache. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Vorgehensweise den Leser abschreckt, der ja etwas über den Text wissen wollte und nicht über die Metasprache der Lektüreprotokolle.

Da eine Texttheorie Invarianten skizziert, während eine Kritik des Textes die Variablen herausarbeiten müßte, geschieht es häufig - nachdem man begriffen hat, daß die Welt der Intertextualität aus Invarianten und einfallsreichen Ausnahmen besteht und das Werk ein Wunder an

Erfindungskraft ist, welches die Varianten, mit denen es spielt, zurückhält und verbirgt -, daß die semiotische Untersuchung sich auf die Entdeckung gerade der Invarianten jedes Textes beschränkt und die Erfindungen aus dem Blick verliert.

So kommt es dann zu Untersuchungen über die Struktur der Tarotkarten bei Calvino (als hätte der Autor nicht selber schon alles dargelegt) oder zu Aufsätzen über Leben und Tod im Quadrat, identifiziert in beliebigen Texten, mit dem Ergebnis, daß Hamlet auf Sein oder Nichtsein, auf Nicht-Seinwollen oder Nichtsein-Wollen reduziert wird. Wobei das Vorgehen wohlgemerkt didaktisch glänzend sein und sogar zeigen kann, wie dort, wo wir alle uns täglich zwischen dem Seinwollen und dem Nichtseinwollen abmühen, Shakespeare uns ein ewiges Dilemma auf neue Weise vor Augen führt. Aber es ist gerade dieses »Neue«, bei dem der Diskurs ansetzen muß, und die narratologische Einebnung ist nur Vorspiel zur Entdeckung der künstlerischen Höhen.

Wenn es richtig ist, daß die Literaturtheorie Invarianten in verschiedenen Texten entdeckt, dann darf der Kritiker, wenn er diese Theorie anwendet, sich nicht darauf beschränken, in jedem Text dieselben Invarianten herauszuarbeiten (womit er nicht über die Arbeit des Theoretikers hinausginge), sondern muß allenfalls vom Wissen um die Invarianten ausgehen, um zu sehen, wie der Text sie in Frage stellt, sie gegeneinander ausspielt und das Skelett von Fall zu Fall mit neuen Muskeln bepackt und mit neuer Haut überzieht. Das Drama des Nicht-wissen-Wollens von Ödipus (bei Sophokles) entsteht nicht durch diese Thematik (die sich auch in Boulevardstücken findet, in denen die betrogene Ehefrau zu der schwatzhaften Freundin sagt: »Bitte, sag’s mir nicht«), sondern durch die Strategie, mit der die Ent-hüllung hinausgezögert wird, durch den Spieleinsatz (Vatermord und Inzest gegen banalen Ehebruch) und die diskursive Oberfläche.

Last but not least, die Textsemiotik unterscheidet oft nicht klar genug zwischen Manier und Stil in dem Sinne, wie Hegel das getan hat: erstere als wiederkehrende Obsession des Autors, der sich ständig selbst imitiert, letzterer als Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu überwinden. Dabei wäre gerade eine Textsemiotik als einzige in der Lage, diese Unterschiede deutlich zu machen.

Doch wenn man der Textsemiotik so viele Exzesse vorwerfen kann, was ist dann über die Defekte ihrer Gegner zu sagen? Gewiß ist es hier nicht unsere Sache, uns über die Orgasmen zu beklagen, an denen uns die artifices additi artifici teilhaben lassen, die uns in jedem Werk das Tagebuch ihrer Ent- und Verzückungen als Leser vorbeten, so daß eine dem Autor A gewidmete Seite, die versehentlich in ein dem Autor B gewidmetes Buch gerutscht ist, weder vom Korrektor noch vom Rezensenten bemerkt wird.

Tatsächlich könnten wir den im Orgasmus schwelgenden Kritikern ihr Vergnügen lassen, das niemandem weh tut und nach einer Weile zeigt, wie wenig sie, die in Worten so orgiastisch sind, tatsächlich Libertinage treiben, ja daß sie geradezu einen Horror vor dem Anderssein haben, machen sie doch bei jeder ihrer kritischen Umarmungen letztlich nichts anderes als Liebe mit sich selbst. Und wir könnten auch denen, die Sozialkritik oder Geschichte der literarischen Institutionen oder Kritik der Sitten und Unsitten treiben wollen, ihre Tätigkeit lassen, die ja oft nützlich und wohlverdient ist.

Nur hat sich leider in den letzten zehn Jahren hierzulande eine Art neuer Wettsport entwickelt, bei dem es darum geht, wer die heftigsten Bannflüche gegen die sogenannten    formali sti schstrukturali sti sch-semioti schen

Theorien schleudert, als wären sie es, die schuld sind -und jemand hat das sogar behauptet - an der Korruption von Tangentopolis, an der Mafia, am Zusammenbruch der Masochistischen Linken und am Aufstieg der Triumphierenden Rechten.

Dies könnte ernstlich unangenehme Folgen haben, wenn und insofern es diesen Anklagen gelingt, die Jugendlichen und ihre jungen Lehrer in die Irre zu führen und sie von Wegen abzubringen, die wir in den letzten zwanzig Jahren glücklich eingeschlagen hatten.

Wer in Paris das Erdgeschoß der Librairie des Presses Universitaires de France betritt, findet im zweiten Regal rechts Dutzende und Aberdutzende von Lehrbüchern für alle Schulstufen über die Anfertigung einer analyse de texte. Selbst die Pioniere des Strukturalismus der sechziger Jahre waren gezwungen, ich sage nicht die russischen Formalisten oder die Prager Schule wiederzuentdecken, aber die Legion guter empirischer angelsächsischer Kritiker und Theoretiker, die schon vor Jahrzehnten (wie Kenneth Burke) die Strategien des Blickwinkels, der narrativen Montage, der Aktanten oder Subjekte der Handlung von Grund auf analysiert haben.

Für meine Generation (die erste nach Croce) waren die literaturtheoretischen und textkritischen Schriften von René Wellek und Austin Warren, von Dámaso Alonso oder Leo Spitzer Offenbarungen. Wir fingen an zu begreifen, daß Lesen nicht ein Ausflug ins Grüne ist, bei dem man fast zufällig rechts oder links eine poetische Blume pflückt, hier einen Hahnenfuß und dort einen Weißdorn, versteckt im Dünger der strukturellen Füll- und

Flickwörter, sondern daß man den Text als etwas Ganzes nehmen muß, das auf verschiedenen Stufen von Leben erfüllt ist. Auch unser offizielles Bildungswesen schien das begriffen zu haben.

Warum ist man heute dabei, all das wieder zu vergessen, warum wird in den Literaturseminaren heute gelehrt, man brauche kein solides theoretisches Rüstzeug und keine Lektüre auf allen Stufen, um über einen Text zu sprechen? Das lange tagtägliche Bemühen eines so gewissenhaften Kritikers wie Gianfranco Contini sei eher schädlich, das einzige heute (wieder!) zu feiernde Kritikerideal sei das eines freien Geistes, der frei auf die je und je vom Text gebotenen Reize reagiere!

Ich persönlich sehe in dieser Tendenz einen Ausfluß anderer Kommunikationsbereiche, eine Anpassung der Kritik an die Rhythmen und an die Investitionsrate anderer Aktivitäten, die sich als gewinnträchtig erwiesen haben. Warum verkauft sich die Rezension, die dazu zwingt, das besprochene Buch zu lesen, auf den Kulturseiten unserer Zeitungen weniger gut als der Kommentar zu einem Interview, das der Autor einer anderen Zeitung gegeben hat? Wozu soll man im Fernsehen eine eigens produzierte Inszenierung von Hamlet zeigen, wie es das vielverspottete Fernsehen der sechziger Jahre getan hat, wenn es mehr Quote bringt, einen Dorftrottel und einen Fakultätsratstrottel auf gleicher Stufe in einer Talkshow zu präsentieren? Wozu also jahrelang einen Text studieren, wenn man die Ekstase des Erhabenen auch kriegen kann, indem man bloß ein paar Blätter kaut, ohne seine Nächte und Tage damit zu verbringen, die Sublimität eines grünen Blattes in den sublimen Manövern der Photosynthese des Chlorophylls zu entdecken?

Nun, weil ebendies die Botschaft ist, die tagein, tagaus von den Priestern der Post-Antiken Neuen Kritik verkündet wird: Wer sich über die Photosynthese durch Chlorophyll informiert hat, wird sein ganzes weiteres Leben lang unempfänglich für die Schönheit eines grünen Blattes sein, wer etwas über den Blutkreislauf weiß, kann sein Herz nicht mehr in Liebe erbeben lassen. Aber diese Botschaft ist falsch, und das muß immer wieder laut gesagt werden.

Was hier stattfindet, ist eine Feldschlacht zwischen denen, die einen Text lieben, und denen, die es auf die Schnelle haben wollen.

Aber lassen wir eine unverdächtige Autorität sprechen, die so weise und vertrauenswürdig ist, daß wir nicht einmal ihren richtigen Namen kennen - was ihr die Sympathie der inzwischen außer Rand und Band geratenen Jünger der traditionellen, unbekannten und okkulten Weisheit sichern müßte (oder auch die jener raffinierten Verleger, die nur den Autor eines einzigen Buches und vielleicht nicht einmal dieses einen verlegen). Wir kennen ihn als Pseudo-Longinos, erstes Jahrhundert nach Christus, und wir sind geneigt, ihm die Erfindung jenes Begriffs zuzuschreiben, der seit jeher das Banner derer war, die behaupten, über Kunst denke man nicht rational nach, sondern man empfinde unsagbare Gefühle und registriere die daraus folgende Ekstase, und die könne man höchstens mit anderen Worten erzählen, aber niemals erklären.

Ich meine den Begriff des Erhabenen, das in manchen Epochen der Kritik- und Ästhetikgeschichte mit der höchsten Ausformung der Kunst gleichgesetzt worden ist. Und tatsächlich präzisiert Longinos, oder wer immer sich hinter ihm verbirgt, gleich zu Beginn seiner Schrift: »Das Erhabene führt die Zuhörer nicht zur Überzeugung, sondern reißt sie fort zur Ekstase.« Wenn das Erhabene im rechten Moment aus dem Akt des Lesens (oder des Zuhörens) hervorbricht, »zersprengt es alles wie ein Blitz«.

Nur fragt sich Longinos an dieser Stelle (leider der einzigen, die in den Jahrhunderten Schule gemacht hat, und wir sind erst am Ende des ersten Absatzes), ob das Erhabene auch gedacht werden könne, und vermerkt sofort, daß viele seiner Zeitgenossen meinten, das Erhabene sei eine angeborene Fähigkeit, eine Gabe der Natur. Aber Longinos glaubt, daß sich die Gaben der Natur nur bewahren und fruchtbar machen lassen, wenn man mit Methode vorgeht, das heißt mit Kunst, und so macht er sich an sein Unternehmen, das, wie viele vergessen oder nie gewußt haben, eine Definition der semiotischen Strategien ist, die im Leser oder Zuhörer das Gefühl des Erhabenen wecken.

Und kein russischer Formalist, kein Prager oder französischer Strukturalist, kein belgischer Rhetoriker oder deutscher Stilkritiker hat soviel Energie aufgewandt (sei’s auch nur auf wenigen Seiten), um die Strategien des Erhabenen aufzudecken und sie am Werk zu zeigen. Am Werk, soll heißen in ihrer Ausprägung und danach in ihrer Verteilung über die lineare Oberfläche des Textes, wo sie vor den Augen des Lesers die verborgenen Stilmanöver aufscheinen lassen.

So zählt Longinos, sei er auch pseudo, die fünf Quellen des Erhabenen auf, als da sind die Fähigkeit, edle Gedanken zu fassen, die Fähigkeit, ein starkes, begeistertes Pathos zu manifestieren und zu wecken, die Kunst, die passenden rhetorischen Figuren zu bilden, die Erfindungskraft beim Erzeugen einer edlen Ausdrucksweise durch die Wahl der Worte und den korrekten Gehrauch der Figuren und schließlich die allgemeine Anlage des Textes, aus der ein würdevoll-hoher Stil resultiert. Denn vor allem weiß Longinos im Gegensatz zu jenen, die zu seiner Zeit die semiotische Leidenschaft des Erhabenen mit der physischen Erfahrung des Orgasmus gleichsetzten: »Es gibt Arten von Pathos, die durchaus nicht erhaben, sondern niedrig sind, wie das Jammern, die Verzagtheit und die Ängste, und umgekehrt gibt es viele Erscheinungsformen des Erhabenen ohne Pathos.«

Unter diesen Prämissen begibt sich Longinos auf seine Suche nach der erhabenen Photosynthese, die das Gefühl des Erhabenen produziert: Er zeigt, wie Homer, um dem Göttlichen Größe zu verleihen, durch eine wunderbare Hypotypose das Gefühl einer kosmischen Ferne erzeugt und wie er dieses Gefühl der kosmischen Ferne durch eine in die Länge gezogene Beschreibung physischer Distanzen wiedergibt; er beobachtet, wie für Sappho das innere Pathos nur dargestellt werden kann, indem sie eine Schlacht der Augen, der Ohren, der Zunge und der Haut in Szene setzt; er konfrontiert einen Schiffbruch bei Homer mit einem bei Arat von Soloi, wobei im zweiten Fall die Nähe des Todes durch die bloße Wahl einer Metapher (»Nur eine dünne Planke trennt sie vom Hades«) gleichsam anästhesiert wird, während bei Homer der Hades ungenannt und dadurch um so drohender bleibt. Er studiert die Strategien der Erweiterung und der Hypotypose, er untersucht das Theater der rhetorischen Figuren, der Asyndeta, der Sorites, der Hyperbata, und wie Konjunktionen die Rede ermatten lassen und Polyptota sie stärken und Tempuswechsel sie dramatisieren.

Man denke nun aber nicht nur an eine Reihe von Stilanalysen. Longinos beschäftigt sich auch mit der Gegenüberstellung und der Vertauschung von Personen, mit dem Übergang von einer Person zur anderen, mit der Art, wie der Autor sich an den Leser wendet oder wie er sich mit einer Person identifiziert, und mit der Grammatik dieser narrativen Verfahren. Er vernachlässigt weder Umschreibungen noch sprachliche Idiotismen, noch Metaphern, Hyperbeln und Analogien. Es ist eine ganze rhetorisch-stilistische Maschinerie mit Erzählstrukturen, Stimmen, Blickwinkeln und Tempora, die er bei der Arbeit besichtigt, indem er Texte analysiert und vergleicht, um die Strategie des Erhabenen freizulegen und sie unserer Bewunderung zu überlassen.

Man könnte meinen, nur simple Gemüter fallen in Ekstase, während Longinos die Chemie ihrer Leidenschaften kennt und gerade deswegen um so mehr genießt.

In Paragraph 39 nimmt er sich vor, die »kompositorische Harmonie im Gefüge der Wörter« zu behandeln, eine Harmonie, die nicht bloß natürliche Anlage zur Gewinnung von Überzeugung und Vergnügen ist, sondern auch ein »wunderbares Instrument der großen, von Leidenschaft erfüllten Rede«. Longinos weiß (aufgrund alter pythagoreischer Tradition), daß die Flöte bei den Zuhörern Leidenschaften erzeugt und sie außer sich geraten läßt wie lauter rauschhaft verzückte Tänzer, auch wenn sie ganz unmusikalisch sind, er weiß, daß die Klänge der Kithara, die für sich allein bedeutungsleer sind, eine betörende Wirkung ausüben. Aber er weiß auch, daß die Flöte ihre Wirkung durch den Rhythmus erzielt, mit dem sie »den Hörer zwingt, in ihrem Takt zu schreiten«, und daß die Kithara »durch den Wechsel der Töne und ihren harmonischen Zusammenklang« auf die Seele einwirkt. Was er erklären will, ist nicht die Wirkung, die für jeden offenkundig ist, sondern die Grammatik ihrer Erzeugung.

So analysiert er, als er zur verbalen Harmonie übergeht, »die mit dem Ohr auch die Seele einfängt«, einen Satz des Redners Demosthenes, der ihm nicht nur bewundernswert, sondern erhaben vorkommt, nämlich: »Dieses Dekret hat die Gefahr, die über der Stadt hing, weiterziehen lassen wie eine Wolke.« Und er schreibt:

Hier ist der Gedanke nicht weniger wichtig als die Harmonie. Der ganze Satz ist nämlich in daktylischen Rhythmen ausgedrückt, den edelsten und am besten geeigneten, Größe zu erzeugen, weshalb sie charakteristisch für das heroische Versmaß sind, das schönste, das wir kennen. Versuche einmal, die Wörter nach Belieben umzustellen: »Dieses Dekret hat wie eine Wolke die Gefahr weiterziehen lassen, die über der Stadt hing«, oder versuche auch nur eine einzige Silbe zu unterdrücken, indem du etwa sagst, »... weiterziehen lassen wie Gewölk«, und du wirst begreifen, wie sehr die Harmonie mit dem Erhabenen zusammenklingt. Tatsächlich hat die Wortgruppe »wie eine Wolke« (raonep ve^o^) einen langen ersten Fuß, der sich in vier Takten bemißt; wenn du jedoch eine Silbe unterdrückst, so daß »wie Gewölk« (wo ve^o^) herauskommt, verstümmelst du durch die Verkürzung sofort die Größe. Fügst du umgekehrt eine Silbe hinzu und sagst:

». weiterziehen lassen gleichwie eine Wolke«, dann sagst du zwar dasselbe, aber es hat nicht dieselbe rhythmische Kadenz, denn eine Verlängerung der letzten Takte verlangsamt und zerstört das Hervorbrechen des Erhabenen.3

Auch ohne Nachprüfung am griechischen Original ist der Sinn dieser Analyse klar. Longinus betreibt Textsemiotik. Und er betreibt Textkritik - jedenfalls nach den Maßstäben seiner Zeit - und erklärt uns, warum wir etwas erhaben finden und wie wenig man nur am Textkörper zu verändern braucht, um die ganze Wirkung zu zerstören. Mithin wußte man schon seit den fernsten Ursprüngen (denn wenn wir noch weiter zurückgehen, zur Poetik des Aristoteles, finden wir nicht weniger), wie man einen Text liest und daß man keine Angst zu haben braucht vor einem dose reading und vor einer manchmal terroristischen Metasprache (denn für seine Epoche war die des Longinos nicht weniger terroristisch als die, die heutzutage so viele unserer Zeitgenossen erschreckt).

Mithin geht es darum, den Ursprüngen treu zu bleiben, sowohl denen des Stilbegriffs als auch denen des Begriffs einer wahren Kritik und einer Analyse der Textstrategien. Was die beste Stilsemiotik getan hat und tut, ist das, was bereits unsere großen Vorfahren taten. Unsere einzige Pflicht besteht darin, durch ernsthafte und geduldige Arbeit, ohne irgendeiner Erpressung nachzugeben, unsere kleinen Zeitgenossen zu beschämen.

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1

Schlußbeitrag zu dem Kongreß »Lo Stile - Gli stili« der Associazione Italiana di Studi Semiotici (Feltre, September 1995). Veröffentlicht in Carte semiotiche, 3. September 1996.

2

Proust, Werke I, 3, Suhrkamp 1992, S. 426 f., dt. von Henriette Beese.

3

Peri hypsous, 39, 4; vgl. die Ausgabe von Reinhard Brandt: Pseudo-Longinus, Über das Erhabene, griechisch und deutsch, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1966, S. 105 ff. (A. d. Ü.).